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Marxistische Kritik Nr. 5, Dez. 1988
[Vorbemerkung: Die Seitentrennung bezieht sich auf die Original-Ausgabe]

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Robert Kurz                              [S. 11-37]

Glanz und Elend des Antiautoritarismus
Streiflichter zur Ideen- und Wirkungsgeschichte der "Neuen Linken"

1.

Die Studentenbewegung von 1968 begriff sich selber als "antiautoritär", was im wesentlichen gleichbedeutend war mit "antiinstitutionell". Rudi Dutschkes berühmtes Stichwort vom "Langen Marsch durch die Institutionen" stand nicht im Widerspruch zu diesem Selbstverständnis, sondern sollte, jedenfalls in der ursprünglichen Bedeutung, nur die Notwendigkeit ausdrücken, daß der antiinstitutionelle Kampf nicht nur von außen, sondern gleichzeitig auch von "innen" zu führen sei, in der subversiven Durchdringung der kapitalistischen Institutionen selbst. Ein anderes Stichwort der Studentenbewegung, nämlich das von der "revolutionären Berufspraxis", zielte in eine ähnliche Richtung und zeigt die damaligen Vorstellungen, Wünsche und Illusionen, wie man heute wohl sagen muß. Als synonym zum Begriff des "Antiautoritären" könnte der Begriff der "Autonomie" gesetzt werden, der heute geläufiger ist und nach dem gegenwärtig eine ganze Strömung radikaler junger Opposition ihr Selbstverständnis definiert. Dies zeigt schon, daß wir es in verwandelter Form mit unaufgearbeiteter, gegenwärtiger Geschichte zu tun haben, daß 1968 nicht bloß Historie ist, auch wenn es vielleicht manchen Jungen heute so entfernt scheint wie der Erste Weltkkrieg.
Die antiautoritäre Ideologie konnte nicht vom Himmel gefallen sein; dennoch war sie scheinbar plötzlich da, fraglos aufgenommen von einer sich rasch verbreiternden Bewegung, deren Individuen in ihrer Mehrheit von theoretischer Reflexion zunächst ganz unbeleckt waren. Der entscheidende Impuls war nicht die Multiplikation von Turmstubenerlebnissen, sondern gesellschaftlicher Wandel, eine Objektivität hinter dem Rücken der Subjekte. Die äußeren Anlässe und Aufhänger der Bewegung waren politisch und moralisch; politisch die Kritik an Notstandsgesetzen und großer Koalition, an sich eine rein bürgerliche, demokratisch immanente Kritik; moralisch die Empörung über den Vietnamkrieg der USA, an sich eine den Rahmen des bürgerlichen Denkens noch nicht verlassende Regung. Warum aber wurden die gesellschaftlichen Institutionen, die ja auch vorher schon da waren, jetzt plötzlich als autoritär und unerträglich erlebt ("Unter den Talaren - Muff von tausend Jahren")?

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Zweifellos wird der objektive gesellschaftliche Wandel als Hintergrund der Bewegung von 1968 durch den fordistischen Vergesellschaftungsprozeß des Kapitals markiert. Die Nachkriegsepoche war eben nicht bloß eine "Rekonstruktionsperiode" des Kapitals, wie der Standardausdruck der Bewegung selbst lautete, sondern eine weit darüber hinausgehende kapitalistische Vergesellschaftung auf neuer Stufenleiter. Darauf deuten nicht nur die historisch beispiellosen Wachstumsraten der Kapitalakkumulation hin; vor allem die gesellschaftliche Qualität dieses Wandels selber war entscheidend über das bloß quantitative Wachstum hinaus. Es ist bereits zum soziologischen Gemeinplatz geworden, daß die fordistische Vergesellschaftung den interventionistischen, keynesianischen Sozialstaat hervorgebracht und die Familie weitgehend zersetzt hat. Die theoretische Reflexion (z.B. der Kritischen Theorie) hatte diese Tendenzen teilweise schon vorweggenommen und aus der Logik der Kriegswirtschaften, des Faschismus und des "New Deal" abgeleitet. Aber erst nach dem 2. Weltkrieg setzte der eigentliche fordistische Vergesellschaftungsschub ein. Erst jetzt traten das Automobil sowie die Unterhaltungs- und Haushaltselektronik, teilweise begünstigt durch die technologischen Innovationen des Krieges, in die Phase der weltweiten Massenproduktion ein; die Schaffung neuer Massenbedürfnisse im Weltmaßstab und deren Produktion als profitable Einsaugung riesiger Massen lebendiger Arbeitskraft konstituierte erst den sich selbst tragenden Boom. In nie dagewesenem Ausmaß wurde die Frau in die kapitalistisch konstituierte "Erwerbstätigkeit" einbezogen, während gleichzeitig die Voraussetzungen, Folgen und "unbeabsichtigten Nebenwirkungen" dieses Prozesses auf wachsender Stufenleiter die allseitige Staatsintervention herausforderten, von der monetären Steuerung über die "permanente Kriegswirtschaft" der Rüstungsökonomie und die sich rasch ausdehnenden Institutionen der Qualifizierung und Verwissenschaftlichung bis hin zur Sozialarbeit usw.
Gleichzeitig verharrten die gesellschaftlichen Institutionen und Verkehrsformen jedoch in traditionellen Denkweisen, deren Wurzeln weit in die ständische, vorkapitalistische Gesellschaft zurückreichen. Hatte schon der blutige Schmelztiegel der beiden Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die traditionellen Verkehrsformen, Denk- und Verhaltensweisen in vieler Hinsicht zerstört, aufgelöst und zersetzt, so vollendete nun die "friedliche" fordistische Vergesellschaftung bis in die feinsten Poren der Gesellschaft hinein dieses Werk. Als Resultat zeichnete sich das einzig dem Kapitalismus adäquate negativ-gesellschaftliche Individuum ab, die abstrakte, von allen traditionellen Bindungen und "Werten" befreite MONADE, "befreit" jedoch nur für den inhaltsleeren Selbstzweck der Verwertung des Werts, des totalen Kaufens und Sich-Verkaufens. Das Realwerden dieser dem Kapitalverhältnis von Beginn an immanenten Tendenz auf neuer Stufenleiter, die Herausbildung dieses leeren, sich selbst genügenden Individuums, mußte mit den versteinerten, "autoritären", in ihrem Kern noch vorkapitalistischen traditionellen Denkund Verhaltensweisen kollidieren. Massenkulturelle Ausdrucksformen hatte

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dieser Zusammenstoß längst vor der Bewegung von 1968 bei der Jugend gefunden, nicht bloß in der Revolte-Subkultur der Rocker oder in der weitreichenden Faszination existentialistisch-heroischer Auflehnung schlechthin etwa durch die Stilisierung James Deans, sondern vor allem in der massenpopulären Musikkultur des Rock oder Beat und seiner Idole. Dieser Impuls kann gar nicht überschätzt werden. Erstmals in der Geschichte stieg das schon im 19. Jahrhundert kapitalstisch konstituierte Phänomen der WELTKULTUR vom Sockel der "Hochkultur" minoritärer geistiger Eliten herab in den Alltag der Massen, ermöglicht durch die technische Produktivkraft des Fordismus und die damit zusammenhängende Herausbildung eines weltweiten unmittelbaren Kommunikationszusammenhangs. In dieserHinsicht hat bisher keine andere Form der Massenkultur die Pop-Musik auch nur annähernd erreichen können. Und gerade auf dieser Ebene der alten und der neuen Massenkultur gab es die ersten heftigen Zusammenstöße, ausgelöst durch habituelle Sekundärformen, die zunächst als Protest verstanden wurden (Jeans, lange Haare etc.). Dies alles war nicht einfach der ewig sich wiederholende Generationskonflikt, sondern der beginnende Zusammenstoß zweier Welten, der traditionellen Welt, in der die kapitalistische Vergesellschaftung noch bloß sektoral oder äußerlicher Firnis war, und der fordistischen Welt des totalen Voll-Kapitalismus, der die gesellschaftliche Reproduktion bis in die letzten Nischen und Poren hinein seiner inhaltsleeren Formbestimmung unterwirft.
Aus diesen Zusammenhängen heraus ergäbe sich eine objektiv gesetzte Interpretation der Bewegung von 1968, die zu ihrem eigenen (damaligen) Selbstverständnis in diametralem Gegensatz steht, nämlich ihre Darstellung als bloße Funktion einer "Modernisierung" des Kapitalismus, genauer: der Durchsetzung des total werdenden, erst mit sich historisch identischen Voll-Kapitalismus. Tendenzen einer solchen NeuBewertung der damaligen Bewegung finden sich zunehmend in der Literatur, teils mit negativer, häufiger jedoch mit positiver Besetzung unter der ideologischen Hülle des "Demokratisierungs"-Statements. Auch das heutige banal demokratisch-kapitalistische Selbstverständnis der meisten damaligen Bewegungs-Träger bis hin zu den führenden Figuren des "Linksradikalismus" (Cohn-Bendit etwa) deutet in diese Richtung.
Und dennoch wäre eine solche Interpretation ebenso eindimensional wie umgekehrt das super-revolutionäre Selbstverständnis von 1968. Diese Bewegung, wie schon die vorausgegangenen revoltistischen und existentialistischen Subkulturen, war wesentlich ambivalent. Sie drückte eben nicht nur die kapitalistische Modernisierungstendenz im Herausarbeiten der abstrakten Monaden gegen den "autoritären" Traditionalismus aus, sondern gleichzeitig auch das ungeheure LEIDEN dieser abstrakten Individualitätan sich selbst, die Empörung gegen die grauenhafte Leere der totalen Selbstverwertung. Und es bleibt die Frage, ob diese Seite der Revolte, ob diese Empörung gerettet werden kann als "Erbe" und transformiert in ein neues revolutionäres Denken auf der Höhe unserer Zeit: heute, zwanzig Jahre

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später. Um begreifen zu können, wären die Spuren der Ambivalenz des Antiautoritarismus in ihren theoretischen, ideologischen Ausdrucksformen selbst aufzufinden und kritisch aufzulösen.

2.

Damals wie heute blieb die Bestimmung des Antiautoritären oder der Autonomie reichlich vage. Um die Autonomie des Individuums gegenüber den als repressiv erlebten gesellschaftlichen Institutionen soll es gehen; das autonome Individuum soll sich gegen die Autorität repressiver Gesellschaftlichkeit bzw. deren Repräsentanten zur Wehr setzen und eine Bewegung vieler autonomer Individuen konstituieren, die schließlich die repressiv-institutionelle Gesellschaftlichkeit aufhebt. Diese antiautoritäre oder autonome Ideologie steht naturgemäß in einem starken und widersprüchlichen Spannungsverhältnis zur sozialistischen Ideengeschichte. Einerseits teilt sie weitgehend die sozialistische Intention, ökonomische Ausbeutungsverhältnisse als Basis der gesellschaftlichen Repression abzuschaffen; andererseits sieht sie im Sozialismus, wie er traditionell verstanden und praktiziert wurde (2. und 3. Internationale), selber eine neue Form institutioneller Unterdrückung des Individuums, eine Einschätzung, die natürlich durch die reale Entwicklung der Sowjetunion nur noch bekräftigt wurde. Ein wesentlicher Impuls der antiautoritären Studenten- und Jugendbewegung war daher, neben der Kritik des repressiven Spätkapitalismus, gleichzeitig die Kritik der realsozialistischen repressiv-autoritären Vergesellschaftungsformen. Daß 1968, auf dem Höhepunkt der Bewegung, im Pariser Mai-Aufstand und im Prag der Reformer gleichermaßen die Panzer der Unterdrückungsmaschinen rollten, schien diese Auffassung schlagend in der Praxis zu bestätigen.
Um den Antiautoritarismus kritisch begreifen zu können, ist vielleicht ein kurzer Blick auf seine eigene Ideengeschichte angebracht, ein Sprung zurück um 150 Jahre. In traditionellen Gesellschaften buchstäblich "undenkbar", ist die antiautoritäre Ideologie schon in dieser frühen Phase des "Kapitalismus auf seinen eigenen Grundlagen" ein typisches Produkt des bürgerlichen 19. Jahrhunderts, wie übrigens auch der Marxismus, und reflektiert durchaus ein emanzipatorisches Moment. Von Anfang an stehen die Strömungen des antiautoritären Denkens dem Anarchismus nahe oder sind ursprünglich dessen Bestandteil. In seiner radikalsten Zuspitzung richtet sich schon der früheste Antiautoritarismus gegen jede dem individuellen Ich äußere Autorität, gleichgültig welcher Art. Dieser Grundgedanke des "solipsistischen", sich selbst emanzipatorisch verstehenden Egoismus wird schon am Vorabend der bürgerlichen Revolution von 1848 mit geradezu glänzender Banalität zusammengefaßt von Max Stirner:

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"Fort denn mit jener Sache, die nicht ganz und gar meine Sache ist! Ihr meint, Meine Sache müsse wenigstens die 'gute Sache' sein? Was gut, was böse! Ich bin ja selber Meine Sache, und Ich bin weder gut noch böse. Beides hat für mich keinen Sinn. Das Göttliche ist Gottes Sache, das Menschliche 'des Menschen'. Meine Sache ist weder das Göttliche noch das Menschliche, ist nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie etc., sondern allein das MEINIGE, und sie ist keine allgemeine, sondern ist - EINZIG, wie ich einzig bin. Mir geht nichts über mich!" (Vorrede zu "Der Einzige und sein Eigentum", 1842). Schon in dieser frühesten Ausformulierung durch Stirner wird der Kern des Antiautoritarismus mit unübertroffener Klarheit deutlich. Gegenüber allem scheinheiligen Altruismus christlicher Sklavenmoral und bürgerlicher "Wohlfahrts"-Organisation hat diese Aussage zweifellos etwas Erfrischendes an sich, wie ja auch etwa ähnliche Aussagen Nietzsches aus einem anderen gedanklichen Zusammenhang heraus. Diese problematische Verwandtschaft ist freilich durchaus nicht zufällig. Die Frage kann nicht umgangen werden, wie sich der Antiautoritarismus eigentlich von den gleichfalls individualistischen Ideologien des radikalen Liberalismus (Manchester-Liberalismus im 19. Jahrhundert, Monetarismus etc. heute) oder des nietzscheanischen Herrenmenschentums abgrenzen will. Etwas lahm und hilflos abstrakt erscheint die Antwort, daß die Freiheit jedes einzelnen und "einzigen" Ichs die aller anderen bedingen müsse. Dieses Postulat könnte als altruistischer Ausrutscher denunziert werden, als in der radikalen Autonomie-Logik des konsequenten Antiautoritarismus an sich nicht enthaltenes moralisches Anhängsel. Ebensowenig wird mit dieser abstrakten Bestimmung auch nur die leiseste Andeutung gemacht, wie denn unter der Voraussetzung des radikalen Anti-Institutionalismus humane Gesellschaftlichkeit praktisch möglich sein soll.
Ganz offensichtlich schleppt der Antiautoritarismus das unaufgelöste Problem des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft mit sich herum, das klassische Problem des bürgerlichen Denkens überhaupt, das aus diesem Dualismus niemals herauskommt. Ausgangspunkt ist immer das bereits ausgeformte moderne Individuum, als wäre dieses vom Himmel gefallen. Dieses Individuum steht seiner eigenen Gesellschaftlichkeit fremd und äußerlich gegenüber, schließlich sogar feindlich in dem Maße, wie die staatlichen und bürokratischen Institutionen im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts immer mehr bedrohlich anwachsen und das Ich der Individualität zu verschlingen scheinen. Es kommt dem bürgerlichen Denken nicht in den Sinn, daß dieses Individuum keine fraglose Voraussetzung ist, sondern vielmehr selber ein historisch-gesellschaftliches Konstrukt, das erst mit der Verallgemeinerung der Warenproduktion durch den Kapitalismus und damit der Herausbildung des Geldes zur totalen und allgemeinen Verkehrsform der Gesellschaft überhaupt entstanden ist.
Stirner will den falschen Abstraktionen des christlichen Gottesglaubens ebenso zuleibe rücken wie der falschen Abstraktion des Menschen in der Feuerbachschen

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Religionskritik, um beim vermeintlich wirklich Konkreten, Leibhaftigen, Faßbaren, nämlich dem eigenen Ich zu landen. Er merkt nicht, daß gerade dieses die äußerste und dürrste Abstraktion überhaupt ist. Dieses Ich ist so abstrakt, daß es seine eigene gesellschaftliche Konstituiertheit nicht mehr weiß, diese vielmehr praktisch als die geradezu feindselige Kälte der gesellschaftlichen Institutionen erlebt, denen es um seine abstrakte, inhaltsleere Autonomie kämpfend gegenübersteht. Der unaufhörliche Dualismus des bürgerlichen Denkens pendelt so ständig zwischen der Abstraktion der Gesellschaftlichkeit und der Abstraktion der Privatheit des Individuums hin und her und kann beides nicht miteinander versöhnen und vermitteln, obwohl es sich um eine vermittelte Identität seiner selbst handelt, die in sich und mit sich zerfallen ist. Je nachdem wird entweder die abstrakte Gesellschaftlichkeit bzw. ihre Institutionen wie Recht, Staat,Nation usw. gegen die Freiheit des einzelnen Individuums als dessen notwendige Begrenzung ins Feld geführt oder umgekehrt im Namen eben dieser Freiheit des Individuums den Institutionen der Krieg erklärt, die doch nur Ausdruck ein- und desselben Prozesses sind, der dieses Individuum selber erst hervorgebracht hat.
Die unbewältigten und unbewältigbaren Schmerzen rühren offenbar daher, daß es sich eben um ein abstraktes Individuum im Zusammenhang einer abstrakten Gesellschaftlichkeit handelt. Die Entfesselung der Warenproduktion und damit die Verwandlung der menschlichen Arbeitskraft selber in eine Ware hat gegenüber den rohen, traditionellen Produktionsweisen wie dem Feudalismus einen ungeheuren Vergesellschaftungsschub ausgelöst; die Menschen sind zunehmend weniger dem unmittelbaren Naturzusammenhang ausgeliefert und sie reproduzieren ihr Leben zunehmend weniger in einem kleinen hauswirtschaftlich-dörflichen Zusammenhang auf der Basis einer agrarischen Produktionsweise. Lohnarbeit, Ausdehnung der Märkte, Herstellung des Weltmarkts und damit verbunden die Industrialisierung haben, um es mit einem heute geläufigen ökologischen Terminus zu sagen, einen weltweiten "Vernetzungs"-Zusammenhang menschlicher Arbeit und Reproduktion hergestellt. Dies ist in der kapitalistischen Hülle ein historischer Prozeß der Vergesellschaftung, jedoch einer sozusagen nur halben, nämlich abstrakten. Abstrakt deshalb, weil die Menschen diesen zunehmenden Vernetzungs-Zusammenhang ihrer gesellschaftlichen Arbeit nicht direkt über ihre gesellschaftlichen Institutionen gemeinschaftlich planen und regeln nach Gesichtspunkten der konkreten Nützlichkeit, sondern die gesellschaftliche Vernetzung in der Form der entfalteten, auf Lohnarbeit basierenden Warenproduktion für die gesellschaftliche Praxis der Menschen bloß indirekt und VON DEN KONKRETEN BEDÜRFNISSEN ENTKOPPELT abgewickelt wird. Medium dieser abstrakten Vergesellschaftung ist ein äußerliches Ding, das GELD. Das Geld ist als "allgemeine Ware" ein abstraktes, inhaltsleeres Ding als Ausdruck der gesellschaftlichen Arbeit, die es von ihrem konkreten Inhalt völlig lostrennt. Geld stinkt bekanntlich nicht, man sieht es ihm nicht an, ob es Ausdruck einer zerstörerischen oder einer

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nützlichen Verausgabung gesellschaftlicher Arbeit ist. Für die Vermehrung des vorgeschossenen Geldes als dem bekannten Selbstzweck kapitalistischer Produktion spielt deshalb der Gesichtspunkt der konkreten Nützlichkeit an sich keine Rolle.
Das moderne Individuum, entstanden erst in der Ablösung von der Enge der traditionellen Produktionsweisen, ist daher ein abstraktes gesellschaftliches Individuum, d.h. ein bloßes Geld-Subjekt. In der bekannten Abwandlung des bekannten Satzes von Descartes müßte es von sich sagen: "Ich verdiene Geld, also bin ich". Der Antiautoritarismus mag die von der abstrakten Vergesellschaftung des Geldes hervorgetriebenen modernen Institutionen bekämpfen, er mag moralisch den Tanz ums goldene Kalb verurteilen, hierin der christlichen Salbaderei dann nicht ganz unähnlich, aber er ist leider nicht antiautoritär genug, um sich nicht doch letztendlich dieser unbegriffenen, dinglichen Autorität des Geldes zu unterwerfen, weil er sich seiner eigenen unbegriffenen Gesellschaftlichkeit nicht entziehen kann. Das Geld, obwohl der abstrakte, leere Selbstzweck entfesselter Warenproduktion, erscheint dem abstrakten Individuum, dem "nichts über sich geht", sogar als das bewußtlos vorausgesetzte Mittel, mit dem es sein Ich zur Geltung bringen muß. Der Antiautoritarismus oder die Ideologie des autonomen Individuums ist so nichts als der bewußtlose Reflex der bürgerlichen Subjekt-Entwicklung, der hoffnungslose Aufstand der abstrakten Geld-Subjektivität gegen sich selbst. Und doch liegt in diesem revoltistischen Reflex noch ungetrennt ein emanzipatorisches Verlangen, das sich keinen adäquaten Ausdruck zu geben weiß. In jeder neuen Krisen-Epoche bürgerlicher, geldvermittelter Vergesellschaftung tritt daher auch die antiautoritäre Ideologie von neuem auf höherer Stufenleiter hervor, ohne doch je aus dem Gefängnis der warenlogischen Kategorien ausbrechen zu können, solange keine Transformation in eine konkrete Kritik der Warenform selber stattfindet. Wie war es historisch möglich, daß die Idee einer Befreiung des Individuums dennoch bis heute nicht über den Antiautoritarismus bzw. die abstrakte "Autonomie" hinausgekommen ist?

3.

Die Marxsche Theorie enthält an sich im Kern eine radikale Kritik der Warenproduktion überhaupt, d.h. der bloß halben, abstrakten Gesellschaftlichkeit des Individuums. Die kommunistische Revolution ist fürMarx letztlich die Aufhebung der Lohnarbeit ALS Aufhebung der Ware-Geld-Form selbst, auch wenn er diese Konsequenzen nicht mit der nötigen Deutlichkeit formulieren konnte. Diese Schwierigkeit rührt aus der relativen Unterentwicklung des kapitalistischen abstrakten Vergesellschaftungsprozesses zu seiner Zeit. Aus demselben Grund konnte die alte Arbeiterbewegung die wirklich radikalen Konsequenzen der Marxschen Theorie nicht begreifen, auch in ihrem revolutionären Flügel nicht. Sie wollte die

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Lohnarbeit abschaffen auf dem Boden der Warenproduktion und des Geldes, ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Im Westen war das Resultat die im Kapitalismus integrierte Sozialdemokratie, im Osten die in spezifischer Weise warenförmige Sowjetgesellschaft als Ausdruck einer NACHHOLENDEN Industrialisierung und BÜRGERLICHEN Vergesellschaftung.
Von diesen Grundlagen aus mußte die Marxsche Theorie ungeheuer verkürzt werden und daher auch eine verkürzte und verplattete Kritik des Antiautoritarismus liefern. Der traditionelle Marxismus, selber in den Kategorien abstrakter Ware-GeldVergesellschaftung befangen, war gar nicht in der Lage, den Antiautoritarismus adäquat analysieren zu können. Mit dem bloß denunziatorischen Stichwort des "kleinbürgerlichen Individualismus" signalisierte er sein Unverständnis, die antiautoritäre Ideologie als Ausdruck kapitalistischer Vergesellschaftung überhaupt zu erkennen. Die platte soziologistische Zuordnung als spezifische Ideologie einer bestimmten, als "kleinbürgerlich" definierten Klasse verdunkelte die Tatsache, daß das Problem abstrakter Individualität mit dem Fortschreiten kapitalistischer Entwicklung ALLE Klassen erfaßt, AUCH DIE ARBEITERKLASSE als Träger der Ware Arbeitskraft und damit als bürgerliches Geld-Subjekt. Indem gegen den abstrakten Individualismus der Antiautoritären bloß der anti-individuelle äußerliche Organisations-Gesichtspunkt der alten Arbeiterbewegung geltend gemacht wurde, blieb der traditionelle Marxismus in seiner Kritik der antiautoritären Ideologie selber im Dualismus des bürgerlichen Denkens befangen; er vertrat nicht die durch gesellschaftlichen Befreiungskampf vermittelte konkrete Individualität des Kommunismus gegen die abstrakte Individualität des Geldes, sondern bloß eine neue Variante der abstrakten Gesellschaftlichkeit (in Gestalt des "Staatssozialismus") gegen die abstrakte Privatheit der Liberalen und ihrer "umgestülpten" anarchistischen Variante.
Das zentrale Motiv des Antiautoritarismus mußte daher lebendig bleiben über den klassischen Anarchismus hinaus, und nicht nur in den Schüben kapitalistischer Krisenprozesse. Das entleerte, mit sich selbst im Unfrieden lebende abstrakte bürgerliche Geld-Subjekt ist das Thema erst recht der gesamten Philosophie des 20. Jahrhunderts. Lebensphilosophie und Existentialismus griffen das Problem auf, ohne es natürlich als philosophisches lösen zu können. Auch die Kritische Theorie der Frankfurter Schule ist (wie übrigens großenteils der "westliche Marxismus" überhaupt) in diesem Kontext anzusiedeln. In ihrer Kritik des "autoritären Staates" und der "autoritären Persönlichkeit" blieb sie nicht bloß formal und dem Namen nach den zentralen Motiven des alten Antiautoritarismus verpflichtet: allerdings hindurchgegangen durch die zeitgenössische philosophische Debatte und unter gleichzeitiger Berufung auf die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie. Das Resultat blieb zwar in vieler Hinsicht eher eklektisch, von einer kritischen Auflösung des alten Gegensatzes konnte keine Rede sein. Auch die Kritische Theorie reproduzierte selber noch den alten bürgerlichen Dualismus von Individuum und

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Gesellschaft als äußeren, nicht vermittelbaren, feindlichen Gegensatz; im Unterschied zum traditionellen Marxismus der alten Arbeiterbewegung machte sie jedoch nicht einfach "staatssozialistisch" die Abstraktion des Allgemeinen der Gesellschaft gegen das (liberale) Individuum geltend, sondern versuchte gerade umgekehrt mit den Kategorien der Marxschen Theorie selber in ihrer Vermittlung durch die bürgerliche philosophische Debatte dieses Individuum, den "Einzelnen" (auch den als Proletarier daseienden Einzelnen in seiner unwiederholbaren Einzigartigkeit) zu verteidigen gegen die Zumutungen jener Mächte abstrakter, negativer Gesellschaftlichkeit, wie sie sich im 20. Jahrhundert bis zur Unerträglichkeit zu steigern begannen. Die Kritische Theorie kam selber nicht über das Individuum als Abstraktion hinaus; insofern blieb das zentrale Motiv Stirners immer noch in abgewandelter und weiterentwickelter Form unaufgelöst erhalten. Aber indem die Kritische Theorie den kühnen Versuch wagte, gegen den Strich der traditionellen Interpretation gerade die Befreiung der Individualität von der Marxschen Theorie her zu begründen, stieß sie letztlich die Tür auf für eine Reformulierung und Weiterentwicklung dieser Theorie über die Verkürzung des traditionellen Marxismus hinaus; eine Tür freilich, durch die bis heute niemand gegangen ist.
Dies war die historische Situation des gesellschaftskritischen Denkens, auf die auch noch 1968 die Studentenbewegung traf und über deren Schatten sie nicht springen konnte. Sie war nicht imstande, sozusagen aus dem Stand in eine völlige NeuErarbeitung der Theorie hineinzuspringen, mußte sich aber doch in ihrem Gegensatz zu den vorgefundenen gesellschaftlichen Strukturen eine theoretische Legitimationsgrundlage geben. Angesichts der Erstarrung der Sozialdemokratie als bürgerliche Institution und der völligen theoretischen wie politischen Impotenz des sogenannten "Marxismus-Leninismus" östlicher Prägung als falscher "Marx-Orthodoxie" stellte das Aufgreifen des Antiautoritarismus durch den historischen Filter der Kritischen Theorie hindurch eine unvermeidliche Übergangserscheinung radikaler Theorie und Praxis dar; die Unbrauchbarkeit und theoretische Erschöpfung des an der alten Arbeiterbewegung orientierten traditionellen Marxismus zwang zum Rückgriff auf weniger diskreditierte Ansätze radikalen Denkens.
Hatte das Wiedererscheinen des Antiautoritarismus in den Krisen des 20. Jahrhunderts bis dahin im Schatten der alten Arbeiterbewegung und ihrer großen Parteien gestanden, so trat es 1968 als zentrale Idee der weltweiten Jugend- und Studentenbewegung ins volle Rampenlicht der Geschichte zurück, gerade als das neue Einklagen eines alten, uneingelösten Versprechens, an dem sowohl Liberalismus als auch traditioneller Marxismus gescheitert waren. Die Vertreter des alten Arbeiterbewegungs-Marxismus waren ebenso überrascht wie entsetzt, wie der Aufschrei eines ihrer Propagandisten zeigt:
"Der Anarchismus ist auferstanden; er begeistert studentische Rebellen, entschärft Handgranaten der Tatpropaganda, überflutet Bücherstände, bereichert das Vokabular der Polizeiberichte. Die Tatsache ist unbestritten, so überraschend sie ist.

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Man hatte ihn für tot gehalten, ein Museumsobjekt; aber es war ein Scheintod. Man muß die Diskussion, bereichert durch die Erfahrung eines bewegten Jahrhunderts, erneuern" (Bruno Frei, Die anarchistische Utopie, Frankfurt 1978, I. Auflage 1971, S. 5).
Aber in dieser erneuerten Diskussion hatten die "Traditionalisten" nichts Neues zu sagen, wie derselbe Autor mit unfreiwilliger Deutlichkeit zeigt, wenn er sich folgendermaßen gegen den "kleinbürgerlichen Individualismus" der neuen antiautoritären Bewegung und ihren neoanarchistischen Freiheitsbegriff wendet: "Der Staat, der die gesellschaftliche Ordnung garantiert(!), ist kein Gegensatz zur Freiheit(!). Die Frage ist vielmehr, welcher Staat garantiert welche gesellschaftliche Ordnung, garantiert wessen Freiheit?.... Freiheit, lehrt Marx, besteht nicht in derNegation(!), in der individuellenWeigerung, nicht in der Isolierung der Einzelnen von der Gesellschaft, sondern im Gegenteil in der Fähigkeit, sich mit den Bewegungsgesetzen(!) und Hochzielen(!) der Menschheit zu identifizieren" (ebda, S. 77).
Ganz genauso hätte es auch ein Konservativer sagen können. Die traditionalistischen Vertreter des "Realsozialismus" und der linken Sozialdemokratie entlarvten sich so überdeutlich als Ruhe- und Ordnungs-Ideologen, die dem Ruf des abstrakten Individuums nach Freiheit wieder nur die abstrakte Verstaatsbürgerlichung als andere Seite des Geldes entgegenhalten konnten. Während in der Konsequenz der authentischen Marxschen Theorie die Aufhebung des Staates mit der Aufhebung der Lohnarbeit und des Geldes identisch ist, muß der Ideologe der "sozialistischen Warenproduktion" und der "sozial-demokratischen" Staatlichkeit seine Zuflucht zu den "Bewegungsgesetzen" und "Hochzielen" der Menschheit nehmen. Diese "Bewegungsgesetze", die nichts anderes sind als die immanente Logik der Warenproduktion und die Marx vor allem für abschaffenswert hielt, erzwingen ja gerade das Auseinanderfallen des Individuums in abstraktePrivatheit und abstrakte Gesellschaftlichkeit, jenes unaufgelöste Dilemma, das erst die Wolkengebilde der äußerlichen "Ideale" und abstrakten "Hochziele der Menschheit" hervorbringt, denen sich das empirische Individuum dann moralisch verdonnert "unterordnen" soll. Völlig zu recht erntete dieser realsozialistisch-sozialdemokratische Staatsbürger-Marxismus von seiten der Antiautoritären nichts als Hohn und Spott. Freilich blieb damit das klassische Dilemma der in sich zerrissenen bürgerlichen Individualität immer noch auch von der anderen Seite her unaufgelöst, denn die neue antiautoritäre Bewegung konnte ebensowenig zu einer konkreten Kritik der Warenproduktion überhaupt und damit der abstrakten, über das Geld vermittelten Vergesellschaftung vorstoßen wie der Staatsbürger-Sozialismus in seinen traditionellen Versionen. Die Bewegung von 1968 wurde so zum bloßen Durchlauferhitzer für alle gesellschaftskritischen Emanzipations-Ideen der Vergangenheit, die alle noch einmal im Eiltempo durchlaufen und verworfen wurden, den Antiautoritarismus selbst eingeschlossen.

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4.

Um der antiautoritären Bewegung gerecht zu werden, muß dennoch hervorgehoben werden, daß sie(ebenso wie die Kritische Theorie selber) keineswegs einfach bruchlos und platt die Stirnerschen Aussagen von 1842 wiederholte oder überhaupt schlicht in der tradierten anarchistischen Ideologie aufgegangen wäre. Eigentlich lassen sich zwei verschiedene und letztlich gegensätzliche Argumentations- und Interpretationsstränge des neuen Antiautoritarismus erkennen, die damals freilich ihren objektiven Gegensatz nicht wirklich austrugen. Der erste und eigentlich wichtige Argumentationsstrang, der immer noch von großer Bedeutung sein könnte, wurde von einer heute zumindest im Bewußtsein der deutschen Linken völlig verschollenen Gruppe entwickelt, der "Situationistischen Internationale". Wie der etwas seltsam anmutende Name schon sagt, schien diese Strömung sich aus dem französischen Links-Existentialismus herzuleiten. Der Begriff der "Situation" ist ein Zentralbegriff der gesamten Existenzphilosophie, wie Bollnow zeigt; dieser Begriff meint,
"... daß die Situation nichts ist, in das der Mensch nur gelegentlich und nur äußerlich gerät, sondern daß das menschliche Dasein wesensmäßig ein Sein in einer Situation ist und daß der Mensch der Verhaftetheit mit einer Situation niemals entfliehen kann. Er findet sich in jedem Augenblick seines Lebens schon immer in eine Situation gestellt, die er sich nicht ausgesucht hat, die auf seine Wünsche und Bedürfnisse keine Rücksicht nimmt, sondern die ihn als etwas Fremdes und Feindliches bedrängt" (O.F. Bollnow, Existenzphilosophie, Stuttgart/Berlin/ Köln/Mainz 1955, 9. Auflage 1984, S. 59f.).
In die Sprache eines linken Aktionismus übersetzt , konnte dies nur heißen, eine Version der alten anarchistischen Idee der "direkten Aktion" zu propagieren, sich unmittelbar-"situativ" gegen die objektiv gesetzten "Situationen" der kapitalistischen Vergesellschaftung als Subjekt aufzulehnen. Recht viel mehr haben die sozialdemokratisch regredierten Geschichtsschreiber des SDS, Fichter und Lönnendonker, über diese Quelle der internationalen antiautoritären Bewegung auch nicht zu berichten:
"Die resignative Grundstimmung in der damaligen europäischen Intelligenz ... verführte die Situationisten zu einer seltsamen Praxis: durch 'experimentelle Verhaltensweisen' sollte in kollektiver Organisation eine 'einheitliche Umgebung' als 'konstruiertes Moment des Lebens herbeigeführt werden" (Fichter/Lönnendonker, Kleine Geschichte des SDS, Berlin 1977, S. 78f.).
Diese in der Tat seltsame Praxis-Vorstellung scheint bloß an alte anarchistische und utopische "Kommune"-Experimente zu erinnern. Tatsächlich war es in der BRD der spätere Kommunarde Dieter Kunzelmann, der sich schon 1959 mit der Schwabinger Künstlergruppe "Spur" als deutsche Sektion dieser "Situationistischen Internationale" konstituierte. Diese Gruppe um Kunzelmann wurde jedoch

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ihrer putschistischen und neo-anarchistischen Tendenzen wegen schon ein Jahr später wieder aus der SI ausgeschlossen, was auf ein anderes wirkliches Selbstverständnis dieser französischen Strömung schließen läßt. Unter dem Namen der "Subversiven Aktion" (der zeitweise auch Rudi Dutschke angehörte) wurde die Kunzelmann-Gruppe zu einem Bestandteil der SDS-Geschichte und in der BRD zum Vorläufer des antiautoritären Aktionismus.
Wesentlich interessanter aber sind die theoretischen Ansätze der Situationisten selbst, die in der BRD kaum bekannt wurden, im Frankreich der Mai-Revolte jedoch durchaus eine Rolle spielten. Im Sommer 1968 erschien die deutsche Übersetzung eines Pamphlets der Situationisten, das vorher schon außer in Frankreich auch in England, Italien und in den USA verbreitet worden war. Die darin ausgesprochenen Gedanken wurden in der deutschen Bewegung kaum diskutiert, erscheinen jedoch heute für eine kritische Aufarbeitung umso bedeutender. Die Antiautoritären der SI wiederholten nämlich am allerwenigsten bloß die Grundideen des alten anarchistischen Antiautoritarismus, sondern suchten diese mit der Marxschen Kritik des Warenfetischismus zu vermitteln, also genau jener vom traditionellen Marxismus ausgeblendeten Dimension der Marxschen Kritik des Kapitalverhältnisses. Schon Sartre hatte in seinen von der Auseinandersetzung mit der Marxschen Theorie inspirierten Spätschriften dieses Problem als mit der Existenzphilosophie zu vermittelndes aufgegriffen, ohne dabei freilich über einen ersten Anlauf hinauszukommen (vgl. Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft, Reinbek 1967). Die Situationisten wollten, insofern über den "marxistischen" Sartre hinausgehend, direkt die vom Warenfetisch konstituierte Entfremdung des Individuums von seiner gesellschaftlichen Existenz angreifen und aufheben; eine ihrer öffentlichenParolen lautete: "Nieder mit der Bildwelt und dem Warenfetischismus". Unter "Bildwelt" verstanden sie das Dasein des Warenfetischs in der Kultur des kapitalistischen Massenkonsums der fordistischen Epoche, ein weit über das in derBRD verbreitete antiautoritäre Schlagwort vom "Konsumzwang" hinausgehender Ansatz, auch wenn es heute vielleicht etwas naiv anmutet, dieses Stichwort einer wesentlichen theoretischen Einsicht unvermittelt in die Parolenform zu gießen. In der Situationisten-Broschüre heißt es:
"Der Faktenfetischismus verbirgt den archimedischen Punkt, die Details verschütten das Ganze. Alles mögliche ist über diese Gesellschaft gesagt worden, nur nicht das wirklich Charakteristische: Ihre Entwicklung zum Warenfetischismus ..." (Das Elend der Studenten, Berlin, Juni 1968, S. 5).
Von dieser Position aus konnte die traditionelle Linke grundsätzlich kritisiert werden in einem tatsächlich neuen Sinne:
"Der scheinbare Kampf, den angeblich revolutionäre Organisationen heute gegen die alte Welt führen, bleibt ganz innerhalb dieser alten Welt und Mystifikationen verstrickt" (ebda, S. 20).
Diese, wenn auch allgemeine, Kennzeichnung trifft das Wesen der gesamten

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alten Arbeiterbewegung und des mit ihr verschmolzenen Marxismus; freilich ist der Ton einer quasi "ontologischen" Kritik herauszuhören, geschuldet einer noch dem Existentialismus verhafteten unhistorischen Betrachtungsweise, die darauf hinausläuft, die alte Arbeiterbewegung abstrakt und ohne Bedingungsanalyse ihrer wirklichen Leistungen bloß als "falsch" zu denunzieren. Wichtig ist aber, daß die Situationisten die Immanenz des traditionellen Marxismus nicht in der üblichen bloß politisch-revolutionaristischen Weise kritisieren, sondern viel weitergehende, direkt gegen die Ware-Geld-Vergesellschaftung gerichtete Forderungen stellen:
"Es ist nicht genug, ein abstraktes Votum für die Macht der Arbeiterräte abzulegen, es gilt, ihre konkrete Bedeutung aufzuzeigen: die Aufhebung der Warenproduktion und somit des Proletariats. Die Logik der Ware ist prima und ultima ratio der gegenwärtigen Gesellschaften, sie ist die Basis, auf der sich diese Gesellschaften totalitär-automatisch selbst steuern ... In der warenproduzierenden Welt ist die Arbeit nicht auf ein frei gewähltes Ziel gerichtet, sondern von außen bestimmt. Die Gesetze der Wirtschaft scheinen dabei den Charakter von Naturgesetzen anzunehmen - denn ihre Macht beruht einzig darauf, daß sie sich dem Bewußtsein jener entziehen, die nach ihnen handeln. Das Prinzip der Warenproduktion ist der Ich-Verlust in der chaotischen und bewußtlosen Produktion einer Welt, die ihren Produzenten völlig entgeht" (ebda, S. 23).
Die Bedeutung dieses einsamen Ansatzes einer radikalen Kritik der Warenform überhaupt kann gar nicht genug gewürdigt werden, wenn man bedenkt, daß in den seither vergangenen zwanzig Jahren das äußerste an "Radikalismus" der Linken nie mehr gewesen ist als eben ein bloß "abstraktes Votum für die Macht der Arbeiterräte", in der inzwischen selber alt gewordenen neuen Linken ebenso wie heute (bestenfalls!) bei den Autonomen. Zwar blieben diese wichtigen Aussagen der Situationisten innerhalb ihres neuen Ansatzes zunächst selber noch abstrakt und konnten offenbar von den existentialistischen Grundlagen aus nicht zu einer Konkretisierung der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie auf der Höhe der Zeit weiterentwickelt werden. Auch waren die Situationisten noch nicht imstande, die kurzgeschlossene falsche Identität von Theorie und unmittelbarer Praxis zu überwinden, wie sie den Aktionismus der Antiautoritären überhaupt auszeichnet. Wenn von ihrem ganzen Ansatz etwas im vergeßlichen Bewußtsein der Linken hängengeblieben ist, dann vielleicht jener seither öfter zitierte Satz: "Die Revolutionen des Proletariats werden Feste sein - oder sie sind von vornherein gescheitert". Die in diesem aus dem Zusammenhang gerissenen Gedanken aufscheinende Assoziation eines abstrakten, unvermittelten Hedonismus wird aber den Situationisten nicht gerecht. Ihre radikale Kritik von Ware und Geld geht weit über den gewöhnlichen Antiautoritarismus hinaus und bleibt auch heute noch jener "archimedische Punkt", von dem aus allein die bestehenden Gesellschaftsordnungen aus den Angeln gehoben werden können.
Gerade deshalb aber, weil dieser Ansatz eine auch heute erst noch zu gewinnende

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Zukunft revolutionärer Bewegung weit ausholend vorwegnahm, konnte er vom gewöhnlichen Bewegungs-Bewußtsein 1968 nicht wirklich aufgenommen und verstanden werden; die Situationisten selbst mußten schon Klage darüber führen, daß ihre Ideen "von der gesamten französischen Links-Presse gründlich kommentiert und gründlich mißverstanden" worden seien. Erst recht gilt dies von der deutschen Bewegung, die sich sogar weitgehend die Kommentierung ersparte. Stattdessen setzte sich eine Interpretation des Antiautoritarismus durch, die eher der Frankfurter Kritischen Theorie mit ihren resignativ-reformistischen Implikationen verhaftet blieb und mit der Radikalität der französischen "existentialistischen" Erneuerungsversuche der Marxschen Theorie nicht Schritt halten konnte. Zwar thematisierte auch die Kritische Theorie durchaus die Mystifikationen der von ihr so genannten "Tauschgesellschaft"; ihre theoretische Kühnheit machte jedoch, indem sie das unaufgelöste abstrakte Individuum beschwor gegen dessen eigene gesellschaftliche Mystifikation, vor der selbst aufgestoßenen Tür kehrt, um zurückzubiegen in die Begriffswelten des demokratischen Fetischismus. Die Konkretion der Kritik erfaßte nicht die Warenform als solche und direkt, sondern vielmehr lediglich die Sekundärformen ihrer historischen Entwicklung. Hinsichtlich des "Zentralnervs" der bürgerlichen Gesellschaft blieb die Kritische Theorie so letztlich vage und inkonsequent, einerseits sich verflüchtigend in die kulturellen Sphären, andererseits selber unkritisch mit den Fetisch-Kategorien der politischen Ökonomie operierend (vgl. die einschlägigen Arbeiten zur Theorie ökonomischer Planung von Friedrich Pollock, dem "politischen Ökonom" der Kritischen Theorie). Tatsächlich gelang es daher der Frankfurter Schule trotz ihrer theoretischen Verdienste weit weniger als zumindest einigen linken Existentialisten, die bloße Beschwörung der unaufgelösten abstrakten Geld-Individualität und damit den bürgerlichen Liberalismus hinter sich zu lassen.
Rolf Wiggershaus hat anhand der Theorie von Adorno wesentliche Prämissen und Konsequenzen der Kritischen Theorie prägnant zusammengefaßt. Danach geht es Marx angeblich um die "unbürgerliche Realisierung"der bürgerlichen Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, um die Einlösung der Versprechen von Aufklärung und Liberalismus. In einem quasi moralischen oder eher metaphorischen Sinne mag dies auch gelten (vgl. die Marxsche Idee vom "Reich der Freiheit"). Begrifflich-theoretisch jedoch und im Sinne revolutionärer gesellschaftlicher Praxis haben Marx solche Intentionen durchaus fern gelegen; ihm ging es NICHT um die "Verwirklichung", sondern um die AUFHEBUNG des Liberalismus und der Aufklärung. Der bloße Verwirklichungsgedanke bleibt selber im Gehäuse des Warenfetischismus und damit der abstrakten Geld-Subjektivität. Die reformistische Implikation dieses Ansatzes wird am deutlichsten von Habermas vertreten,der als ordinärer Aufklärer immer noch an dieser "Verwirklichung" in den Grenzen der Legalität und der Gesetze derWarenproduktion herumbasteln möchte. Auch bei Adorno resultiert der eher resignative Reformismus aus der im Kern

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liberal bleibenden Verknüpfung von Markt-Ökonomie und Individualität überhaupt; weil die Wertform der Ware als Grundform der Verdinglichung völlig unaufgelöst und im Dunkeln bleibt, verpufft auch die Kritik ihrer kulturellen Sekundärformen wirkungslos und es bleibt völlig unerfindlich, wie sich ein kommunistisches gesellschaftliches Individuum durch eine Aufhebung der Warenproduktion hindurch konstituieren soll. Stattdessen richtet Adorno unter Umgehung des Zentralproblems seine Aufmerksamkeit, ganz ähnlich wie Horkheimer, auf die vermeintlichen Transformationsformen des Kapitalismus innerhalb der kapitalistischen Reproduktionsform selber; im "organisierten Kapitalismus" und der modernen Staatsbürokratie sieht er die Zerstörung der vom Warentausch konstituierten Individualität und Subjektivität, und hauptsächlich auf die Klage darüber und die Analyse dieses Prozesses richtet sich sein Interesse:
"Ohne Marktökonomie und patriarchalische Kleinfamilie kamen nach Adornos Überzeugung nicht nur keine relativ selbständigen Unternehmer, sondern überhaupt keine einigermaßen autonomen Menschen mehr zustande ... Aufgrund solcher Urteile hielt Adorno nach anderen als liberalkapitalistischen Bedingungen für die Entstehung von Gegenkräften gar nicht erst Ausschau ...Zerfall des Marktes, Zerfall der bürgerlichen Familie, Zerfall des Ichs - hießen die Stichworte für Adornos Sicht der Genealogie der entsubjektivierten Subjekte des herrschaftlich organisierten Kapitalismus" (R. Wiggershaus, Theodor W. Adorno, München 1987, S. 75).
Natürlich war Adorno kein platter Liberaler im Sinne eines kapitalistischen MarktIdeologen; ihm ging es ja im Gegenteil seinem Selbstverständnis nach um die Aufhebung der kapitalistisch konstituierten gesellschaftlichen Reproduktion, doch wird diese Intention durch seinen eigenen theoretischen Ansatz in eigentümlicher Weise zurückgebogen. Seine crux besteht vor allem darin, daß er aufgrund mangelnder konkreter Kritik der Warenform selber eigentlich keine andere Individualität als die von dieser Form konstituierte in ihrer Abstraktheit zu benennen vermag; der Aufhebungsgedanke gerät deshalb ins Stocken, wird nicht mehr weitergedacht und erschöpft sich schließlich in einem falsch gestellten "Bedingungs"-Problem: die vom (als vergehend angenommenen) "liberalen Kapitalismus" konstituierte Subjektivität soll die unerläßliche Bedingung für eine radikale Ablehnung sein, die selber eine black box und theoretisch leere bloße Intention bleibt. Paradoxerweise ergibt sich daraus fast zwanglos die zahnlose Parole einer RETTUNG jenes "liberalen Kapitalismus" als vermeintliche Voraussetzung seiner Aufhebung. Ganz davon abgesehen, daß sich hier ein dem bloßen "Verwirklichungs"-Gedanken geschuldeter Zirkelschluß andeutet, legt diese Auffassung schon die Tendenz nahe, in der Praxis nur noch den defensiven Kampf um die bloßen "Bedingungen" von Emanzipation zu führen, das Ziel selber aber gerade in seinem entscheidenden Inhalt leer und für die warenförmig-immanente Interpretation offenzulassen. Nicht von ungefähr blitzt in diesem Zusammenhang eine

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überraschende Assoziation auf, nämlich die Erinnerung an den alten Revisionisten Bernstein, dem "die Bewegung alles und das Ziel nichts" war. Die seither praktisch gewordene Kompatibilität von Kritischer Theorie und Sozialdemokratismus wird so schon vom theoretischen Ansatz her verständlich. In der scheinbaren Radikalität der auf diesen Argumentationsstrang sich beziehenden antiautoritären Bewegung war daher von Anfang an der Keim des Umschlagens in platten Reformismus angelegt.
Das Dilemma der Bewegung ihren "theoretischen Vätern" gegenüber bestand darin, daß sie deren reformistisch-demokratische Zurück-Haltung nicht vom Inhalt der Theorie selber ausgehend zu kritisieren vermochte, sondern nur auf eigentümlich formale Weise, als bloße Kritik eines angeblich mangelnden "Praxis-Willens". Diese Eindimensionalität der Bewegungs-Kritik an den "professoralen Autoritäten" wie Horkheimer, Adorno und Habermas, die angesichts dieser ungerufenen Geister abwehrend die Hände hoben, hat viel zum stupiden Praxis-Fetischismus beigetragen, der die revolutionäre Linke immer wieder in die Demoralisierung getrieben hat. Dieses Dilemma läßt sich schon am strategischen Ansatz Rudi Dutschkes aufzeigen, der zentralen Symbolfigur jener Bewegung. Der "lange Marsch durch die Institutionen", der "Prozeß der Veränderung" ist nämlich auf zweierlei Weise zu interpretieren, und eben darin steckt eine unbewußte Doppelzüngigkeit der Bewegung selbst: entweder es handelt sich wirklich um einen Bewußtwerdungsprozeß für die Revolution, dann aber wäre es eine Bewußtwerdung gegen das Geld, gegen die warenförmige Vergesellschaftung überhaupt (also im Sinne von Marx und 1968 der Situationisten, auch wenn diese die Intention nicht weitertragen konnten) - oder es handelt sich um eine "demokratische Erneuerung" der Warenproduktion selbst, d.h. des Kapitalismus. Ein drittes kann es nicht geben. Auf den Punkt gebracht, formulierte Rudi Dutschke zwar klar:
"Das Problem der Reform stellt sich gar nicht mehr. Reformen, wie sie sich durchsetzen können, sind nichts anderes als die Verbesserung der Gefängniszellen, reproduzieren die bestehende Wirklichkeit..." (R. Dutschke, Mein langer Marsch, Reinbek 1980, S. 16).
Aber der Inhalt blieb unbestimmt, der direkte Angriff auf Warenproduktion und damit Geld als kapitalistische Vergesellschaftungsform (und nur in dieser Zuspitzung wäre auch eine revolutionäre Kritik des "Realsozialismus" zu denken) blieb unausgesprochen, Dutschke somit demokratisch und also warenfetischistisch interpretierbar. Die noch so persönlich glaubwürdige Emphase einer Befreiung des Individuums mußte in diesem begrifflichen Nebel bürgerlich einvernehmbar bleiben, wenn nicht in der damaligen Situation, so doch historisch. Dutschke selber hat sich schließlich dem Staatsbürger-Verein der Grünen angeschlossen, und sein früher Tod ließ diese Entscheidung undementiert stehen. Schon der lebende Dutschke auf dem Höhepunkt der Bewegung wurde gelegentlich auch staatsbürgerlich-integrationistisch eingeklagt und einvernommen, eine Auffassung, die er

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damals noch vehement zurückgewiesen hätte:
"Daß es diesen Rudi Dutschke gibt , daß er ernst genommen werden muß, resultiert aus dem augenblicklichen Zustand unserer parlamentarischen Demokratie und der sie tragenden Parteien. Wenn die Dutschkes - und diesmal nicht im abwertenden Sinn - zu der notwendigen Selbstbesinnung in Staat und Parteien, zu einer Re-Demokratisierung anstoßen, dann werden sie die Gesellschaft stärken, die sie zu überwinden trachten. Ein Effekt, der nicht für Dutschke, aber für die Mehrheit wünschenswert ist" (Stuttgarter Nachrichten vom 5.12.1967,zit. nach: Mein langer Marsch, a.a.O., S. 55).
Der tote Rudi Dutschke wird von der Mehrheit seiner damaligen Mitstreiter NUR noch auf dieser Schiene interpretiert, die warenlogisch-demokratisch immanente Seite der Bewegung von 1968 zur "einzig wahren" erklärt und damit das andere, weitertragende, über die bloß demokratische Immanenz hinausschießende Moment und das Selbst des Revolutionärs geradezu hündisch verleugnet. Wenn diese Herrschaften heute überhaupt noch etwas wollen, so bestenfalls eine der "Machbarkeit" zugerechnete "Verbesserung der Gefängniszellen", wie sie der Dutschke von 1968 so verabscheut hat.
Noch besser und exemplarischer als an Dutschke läßt sich die gesellschaftliche Ambivalenz der antiautoritären Bewegung und ihrer Ideologie an einem anderen Wortführer aufzeigen, OskarNegt, der revolutionärer Umtriebe noch nie bezichtigt werden konnte und das Mitgliedsbuch der SPD vermutlich immer mit sich herumgeschleppt hat. In seiner vielfach nachgedruckten Rede "Politik und Protest" vom Oktober 1967 spricht er zwar gelegentlich von "verdinglichten Herrschaftsverhältnissen", aber diese geronnene Phrase hat eigentlich keine spezifisch ausmachbare Bedeutung mehr und ist weit von der direkten begrifflichen Zuspitzung der Situationisten entfernt. Stattdessen argumentiert Negt hauptsächlich in einem vergleichsweise weit zurückgenommenen und verkürzten Bezugsrahmen der deutschen Nachkriegsgeschichte; statt des historisch sich totalisierenden Warenfetischismus wird als negative und eigentlich zu bekämpfende Struktur lediglich eine bestimmte Binnen-Bewegung der jüngsten Entwicklungsstufe kapitalistischer Warenproduktion im Sinne des Begriffs eines "autoritärenStaats" von Horkheimer und Adorno wahrgenommen. Es handle sich um
"... die Stabilisierung einer autoritären Leistungsgesellschaft, die im Interesse monopolistischer und staatlicher Entscheidungsbefugnisse die liberale Sphäre politischer Diskussionen, parlamentarischer Kontrollen, des langwierigen Aushandelns von Kompromissen und der temporären Ausgleiche widersprüchlicher Interessen als Inbegriff unnötiger Reibungsverluste in einem funktionierenden gesellschaftlichen Gesamtbetrieb schrittweise zu eliminieren strebt" (O. Negt, Politik und Protest, in: Strategie- und Organisationsdebatte, Hannover o.J., S. 3).
Ziemlich ungeschminkt deutet sich hier eine keineswegs bloß taktisch zu verstehende Auffangposition an, deren eigenes substantielles Streben eher dahin

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geht, die "liberale Sphäre parlamentarischer Kontrollen" zu beschwören und die (letztlich "sozialpartnerschaftlichen") "Ausgleiche widersprüchlicher Interessen" im Sinne des ordinärsten Gewerkschaftslegalismus als einzig klar formulierbare Zielsetzung zu benennen. Negt konzediert zwar gleichzeitig der Protestbewegung, daß sie mit "einem totalen Anspruch der Gesellschaftsveränderung" (ebda) auftrete, aber die eigentümliche Inhaltslosigkeit dieser Zuordnung verweist schon darauf, daß es mit der Totalität dieses Anspruchs so weit nicht sein konnte. Dies wird noch deutlicher, wenn er von den antiautoritären Gruppen sagt, daß sie
"... in politisch tätiger Reflexion Formen der organisatorischen Selbsttätigkeit entwicklen" und damit "nicht nur die verfassungsrechtlich(!) immanenten Ansprüche auf demokratische Solidarität, die der Grundrechtskatalog(!) enthält", realisieren, sondern gleichzeitig "... autonome Zonen des praktischen Widerstands" stabilisieren würden "gegen eine Ordnung, die auf den Zwang zur Legitimation nur noch mit Zwang und Gewalt als Legitimation reagieren kann" (ebda, S. 13f.).
Wären die vage bestimmten "autonomen Zonen des Widerstands" wirklich als radikal gesellschaftsverändernd darstellbar, so wären sie natürlich gerade der Bruch mit bloß "verfassungsrechtlich immanenten" Ansprüchen und könnten mit solchen keineswegs in der Logik eines "nicht nur - sondern auch" verknüpft werden. Diese Doppelzüngigkeit Negts läßt nicht nur den kommenden professoralen deutschen Spießbürger unter der Revoluzzermütze hervorlugen, der sich in seiner argumentativen Legitimierung schon nach rückwärts absichert lange vor den Berufsverboten, sondern sie signalisiert eben jene unbewußte Doppelzüngigkeit der Bewegung selbst. Ihr wirklicher empirischer Ausgangspunkt war ja tatsächlich bloß die "Verteidigung der Demokratie" und der bürgerlichen Verfassung gewesen gegen Notstandsgesetze, große Koalition und "technokratische" Formierungs-Tendenzen. Die Eigendynamik der Bewegung hatte diese formal auf revolutionäre Positionen geführt, deren Inhalte aber nicht näher bestimmt und konkretisiert werden konnten. Tatsächlich machte sich denn auch die vermeintliche Radikalität mehr an der bloßen FORM der "Spielregelverletzung", des Bruchs akademischer Hausordnungen usw. geltend als an einem radikalen, gesellschaftsverändernden Inhalt. Der Inhalt blieb in Wahrheit letztlich dem bloß demokratischen und daher warenfetischistischen, kapitalistisch immanent bleibenden Ausgangspunkt der Bewegung verhaftet, von dem aus sie erst ihre relative Massenbasis gewonnen hatte. Dies wird wiederum exemplarisch am Schluß der Rede Negts deutlich, wenn er sagt:
"Eine durch die Dialektik von antiinstitutionellen und institutionellen Elementen konstituierte Praxis, welche die Bedingungen(!) für eine sozialistische Überwindung der kapitalistischen Klassengesellschaft schafft, wird in dem Maße die sublime in manifeste Gewalt des Herrschaftssystems verwandeln, wie revolutionärdemokratische(!) Aktivität eine wirkliche Massenbasis gewinnt. Erst durch eine solche Erweiterung hätte sich freilich der politische Gehalt des Protestes gesellschaftlich konkretisiert; die manifeste Gewalt des Staates würde sich nicht

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mehr ausschließlich gegen Studenten und Jugendliche richten können, sondern wäre konfrontiert mit Strategien organisierter Gegengewalt, die alle Demokraten dieser Gesellschaft(!!) in einer Einheitsfront des Widerstandes zusammenschließt" (ebda, S . 15f.).
Hier werden die demokratischen Eselsohren nicht nur in ihrer vollen Pracht sichtbar, Attribute, mit denen Negt heute mehr denn je üppig gesegnet ist, sondern es zeigt sich schon die Zurücknahme des Kampfes in einen solchen um bloße "Bedingungen", wie schon bei Adorno angedeutet. In Bezug auf eine reale gesellschaftliche Bewegung wird diese Bestimmung aber umso fragwürdiger und nebulöser. Denn "Bedingungen" im Sinne etwa einer Beeinträchtigung des realen gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses können durch die bloß subjektive Anstrengung noch dazu einer relativ begrenzten Jugend- und Studentenbewegung gar nicht "geschaffen" werden; sollen jedoch "Bedingungen" des Bewußtseins im "kulturrevolutionären" Sinne oder im Sinne der Verbreitung theoretischer Einsicht gemeint sein, so wäre dies ja gerade die Proklamation, Entfaltung und Konkretisierung revolutionärer Inhalte selber und nicht ein schwächliches Geltendmachen bürgerlich immanenter Forderungen und Losungen des bloß demokratischen Bewußtseins. Die "Gemeinsamkeit der Demokraten", gar "aller Demokraten dieser Gesellschaft" bloß in einer vermeintlich "wahren", alternativen Weise zu beschwören, das PRINZIP der bürgerlichen Gesellschaft gegen seine empirische Realität anrufen, statt mit dem revolutionären Inhalt radikaler Kritik derWarenform auch dieses ideologische Prinzip aufzusprengen, dies muß von vornherein eine Manifestation bürgerlicher Immanenz bleiben und alle scheinradikalen Töne Lügen strafen. Die demokratische Eselei, die völlig innerhalb des Gehäuses der warenfetischistischen Abstraktionen verbleibt, ist aber nur die notwendige Konsequenz eines verkürzten theoretischen Ansatzes. Weil in Wahrheit der eigene revolutionäre Inhalt fehlt, müssen die längst vermoderten Ideale der revolutionären Bourgeoisie des 18. Jahrhunderts bis zum Erbrechen wiedergekäut werden, während die vermeintliche Radikalität sich an nichts als der FORM festmachen kann - und gerade deshalb die rein formale "GEWALTFRAGE" zum ewig wiederholten Dreh-und Angelpunkt machen, eigentlich inhaltslos oder mit absolut nicht militanten bürgerlichen Inhalten in die stilisierte Gebärde der Militanz von "Strategien organisierter Gegengewalt" verfallen muß.
Negt will heute die eigene Mitverantwortung für den destruktiven und selbstmörderischen Weg der RAF nicht mehr wahrhaben; gerade aus dem skizzierten Zusammenhang heraus kann sie ihm präsentiert werden. Die Kämpfer der RAF waren bloß moralisch konsequenter als die windelweichen Uni-Karrieristen vom Schlage Negts, die dem eigenen Nimbus zum Trotz in Wahrheit niemals inhaltlich radikal waren, schon damals nicht. So ist es auch nicht als Ausdruck eines theoretischen Niedergangs zu werten, wenn Oskar Negt heute sein völliges Unverständnis den zentralen Kategorien der Marxschen Kritik der Warenproduktion

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gegenüber nach 20 Jahren ungeniert in aller Offenheit dokumentiert, so geschehen beim "Prima-Klima-Kongreß" der alten SDS-Mitglieder im November 1986:
"Es ist leider so, daß viele ... nur die Wertformkapitel gelesen haben vom Kapital, das sind die schwierigsten, dunkelsten und wahrscheinlich unwesentlichsten - wahrscheinlich. Ja, da gibts vielleicht Proteste, da will ich mich auch nicht festlegen ... Es ist eben nicht faktisch so wesentlich für mich, nicht, also wie die Wertformen ... oder nicht" (Prima-Klima-Protokolle, Hamburg 1987, S. 165).
Dieses begriffslose Gestammel sagt eigentlich schon alles. Es handelt sich nicht um einen Abstieg, weil das theoretische Niveau nie höher gewesen ist. Nur sind heute keine scheinradikalen Phrasen mehr nötig; satt und gesettlet im Schoß des Faktischen der kapitalistischen Vergesellschaftung, dessen normative Kraft endlich widerstandslos hingenommen werden darf, kann ein Negt sich heute breimäulig demokratisch salbadernd rakeln im Kreis der zum "Realismus" entpuppten Seinen. Die Scham ist eben vorbei. Die demokratische Interpretation der antiautoritären Bewegung, die sich von Beginn an gegen alle weitergehenden Optionen vor allem der französischen Situationisten durchgesetzt hatte, mußte ihrer inneren Logik nach vor den Konsequenzen der unaufgelösten Geld-Subjektivität der warenfetischistischen Gesellschaft kapitulieren und sich schließlich offen "realpolitisch" zur kapitalistischen Staatsbürgerlichkeit bekennen.

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Es zeigt sich so, daß der Antiautoritarismus von 1968, allen verständnislosen Vorhaltungen des traditionellen Marxismus zum Trotz, seine Verdienste besaß, zumindest für einen historischen Augenblick eine bis heute nicht wieder erkannte Widerspruchsebene aufscheinen ließ und gerade in seiner gesellschaftlichen Ambivalenz ein notwendiges Entwicklungsmoment darstellte, daß er aber ebensowenig wie jener Marxismus dazu fähig war, die bürgerliche Hülle der unaufgearbeiteten Geschichte sozialer Emanzipation aufzubrechen. Die äußerste Abstraktion des Individuums, das den Grund seiner gesellschaftlichen Konstituiertheit nicht erreicht und sich als die Monade, die es ist, gegen seine eigene ihm äußerliche institutionelle Gesellschaftlichkeit bloß formal auflehnt, kann nur einen Scheinradikalismus erzeugen, der die äußersten Konsequenzen des bürgerlichen Geldsubjekts sozusagen pantomimisch darstellt, aber nicht aufhebt, weder theoretisch (was die Voraussetzung wäre) noch praktisch. Die inhaltliche Leere des Antiautoritarismus führt deshalb mit logischer Notwendigkeit zurück in den Schoß jener bürgerlichen Welt, die zu besiegen er mit Don Quichottischer Emphase in stetiger Metamorphose seiner Erscheinungsform auf allen Entwicklungsstufen kapitalistischer Vergesellschaftung immer von neuem ausgezogen ist.

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Die friedlich-schafsmäßige Rückkehr in den bürgerlichen Heimatpferch oder, wie es mit Thomas Schmid, ein anderer Ex-Scheinradikaler, etwas vornehmer ausdrückt, die "Heimkehr der Linken in ihr Land", ging zuerst auf leisen Pfoten vor sich und schien zunächst oberflächlich sogar entgegengesetzten Charakter zu tragen. Der Antiautoritarismus hatte dem SDS dazu verholfen, die ererbte bürgerliche Organisationsform eines sozialdemokratischen Kleintierzuchtvereins in die Luft zu sprengen; auch dies kann nur als Verdienst gerechnet werden. Freilich hat die bloß negative "Auflösung in die Bewegung" mangels Inhalt nicht die Organisationsfrage der radikalen Linken lösen können; hinter der vermeintlichen Organisationsfrage verbarg sich in Wirklichkeit bereits die bürgerliche Regression. Praktisch zeigte sich dies im raschen und kurzlebigen Aufstieg der schaurig byzantinischen, am traditionell bolschewistischen Parteimodell orientierten K-Sekten. Deren Mythologisierung einer empirisch bereits abgestorbenen Form des Proletariats und des Klassenkampfs der 20erJahre, als die "revolutionäre Welt noch in Ordnung war", signalisierte keineswegs, wie ihre Mitglieder sich einbildeten, einen chemisch reinen "Klassenverrat am Kleinbürgertum" und "Übergang zur Arbeiterklasse", sondern konnte nur Zwischenstation sein auf dem Weg zurück in den bürgerlichen Heimathafen. Daß auf jeder Stufe der Bewegung einige Leute hängengeblieben sind und wir heute noch alle ihre transitorischen Erscheinungen empirisch im Taschenformat wahrnehmen können, ändert nichts am Generalgang als solchem. Der historisch kostümierte "proletarische" Organisationsfetischismus hatte in Wahrheit vor allem die Funktion, mit seinen rigiden Denkverboten und Selbstgeißelungen der "Intellektuellen" (wozu sich jeder "revolutionäre" Germanistikstudent im 1. Semester zählen durfte und mußte) jede noch übrige Regung des "überschießenden", an die radikale Kritik des Warenfetischismus rührenden Moments der Bewegung abzuwürgen und auszulöschen. Nicht der endlich erreichte Gegenpol der bürgerlichen Welt war jener traditionelle Marxismus in seiner verklärten "revolutionären" Gestalt, die nun bloß noch dogmatisch gegen ihre eigenen kläglichen und als "revisionistisch" denunzierten Verfallsformen ins Feld geführt wurde, sondern die insgeheim verwandte Seele, die bewußtlos schon gefühlt wurde. Der wahre Inhalt jener vorgeblichen Organisations- und Klassenfrage enthüllte sich dann Ende der 70er Jahre in der beschleunigten Metamorphose zum grünen Kleintierzuchtverein mit allen Attributen der bürgerlichen Rechts- und Politikform; bis hin zur Lächerlichkeit ein grün angestrichenes Revival des alten Sozialdemokratismus unter neuen Bedingungen.
Was bleibt, sind jene "neuen Bedingungen" selbst; und die antiautoritäre Bewegung kann sich mit Recht sagen, daß sie den Kapitalismus nicht nur in der BRD hat "modernisieren" helfen im Sinne der negativen, abstrakten Vollvergesellschaftung in der Warenform. Wenn sich die Veteranen diesen Beitrag freilich heute unter dem Namen einer "Demokratisierung" der Gesellschaft, einer selbst durch die "Wende" nicht wieder völlig zurücknehmbaren "Erweiterung der Rechte

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und Freiheiten" etc. als Orden an die Brust heften wollen, dann verzerren sie den wahren Inhalt dieser Entwicklung bis zur Unkenntlichkeit. Schon die These der Kritischen Theorie vom "Autoritären Staat" nahm die historische Tendenz sehr eindimensional wahr, auch wenn sie noch um die Doppelbödigkeit der Begriffe in der fetischistischen Warenform wußte. Erweiterung der staatlichen Repression und der Staatsintervention einerseits und Erweiterung der formalen "Freiheiten des Individuums" andererseits schließen sich nicht aus, sondern vielmehr ein. Die losgelassene Dynamik der abstrakten Warenform und der vollgültigen Herausbildung des abstrakten Menschen ist es ja, die beides als Identität zusammenschließt. Die Individuen werden verstaatlicht in der Form der abstrakten Allgemeinheit, gerade durch denselben Prozeß aber "befreit" als die inhaltslosen, tendenziell entmenschten Monaden des Geldes. Es zeugt von grenzenloser theoretischer und politischer Naivität, die etatistischen Momente dieses Prozesses mißzuverstehen als eine "Rückkehr des Obrigkeitsstaates" (was selbst Adorno gelegentlich nicht unterlassen konnte). Die staatliche Repressionsmaschine, ihr tatsächlich ungeheuer erweiterter Apparat, prügelt auf die Individuen in manifesten wie subtilen Formen insofern ein, als sie durch die Widersprüche der totalen Warenform an ihrem eigenen Leib und Leben in ausweglose Lagen versetzt und buchstäblich verrückt werden; aber diese Repression hat nicht im geringsten mehr die Funktion des halbfeudalen traditionellen Staatsapparats, gewaltsam traditionelle Hierarchien und Autoritätsstrukturen aufrechtzuerhalten. Ganz im Gegenteil, die Individuen sollen sich der freien Bewegung des "automatischen Subjekts" (Marx), der endlich totalen Wertform gesellschaftlicher Reproduktion und damit des Geldes, ohne jede weitere Beschränkung adaptieren können. Soweit traditionalistische Reststrukturen und autoritäre Bewußtseinsformen dem freien Flottieren der Geldmonaden noch im Wege standen, mußten sie weggeschmolzen werden; und gerade in dieser Hinsicht hat die antiautoritäre Bewegung ihre bleibenden "Erfolge" errungen.
Der "liberale" Kapitalismus des 19. Jahrhunderts war nicht, wie die Kritische Theorie suggeriert, der "eigentliche" Kapitalismus des liberalen Individuums, das noch eine Chance zur "wahren", sozial verallgemeinernden Emanzipation gehabt hätte, sondern in Wirklichkeit der noch halbfeudale, bloß als gesellschaftlicher Teilsektor existierende, noch bei weitem unfertige und unentwickelte Kapitalismus; das damalige liberale Individuum nicht die vollentwickelte, sondern erst die embryonale Vorform abstrakter Individualität. Der fordistische Voll- oder Totalkapitalismus ist demzufolge auch nicht eine Transzendierung des Kapitalverhältnisses auf seinen eigenen Grundlagen, wie Horkheimer und Adorno meinten, sondern im Gegenteil erst jene Vollendung des Kapitalismus, deren Blüte sie in der Vergangenheit wähnen. Die von ihnen beschriebenen Sekundärformen des Warenfetischs sind in ihrer Perversität nicht Resultat einer falschen Aufhebung der Ware, sondern im Gegenteil erst ihr Zusichkommen, die Enthüllung ihrer wahren

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Natur und logischen Konsequnz an ihr selber. Jedes Geltendmachen der unaufgelösten abstrakten Subjektivität gegen die Institutionen der abstrakten Allgemeinheit als vermeintliche Träger autoritärer Traditionen mußte so nur umso tiefer in den Fetischismus der Warenform verstricken, was Adorno immerhin geahnt hat. Seine Weigerung, sich der "Praxis"-Zumutung der Antiautoritären zu beugen, erscheint so in milderem Licht. Denn in der Tat: jede Teilverwirklichung der antiautoritären emanzipatorischen Ideen in den Formen der bürgerlichen Gesellschaft hat sie praktisch in ihr Gegenteil verkehrt. Die partielle Verwirklichung "befreiter Sexualität" mußte notwendig in die pornografische Industrialisierung des Sexuellen münden. Denn "Demokratisierung" der Sexualität ist unmittelbar identisch mit ihrer pornografischen Kommerzialisierung, weil Warenform und Demokratie identisch sind. Wäre es anders, so hätte die "Demokratisierungs"-Interpretation der antiautoritären Bewegung unmittelbar in eine Konfrontation mit der Warenform führen müssen statt in deren Affirmation.
Daß die antiautoritäre Bewegung in ihrem Fortgang nicht bloß zur objektiven gesellschaftlichen Affirmation und weiteren historischen Freisetzung der Warenform beigetragen hat, sondern auch in ihrem subjektiven Bewußtsein davon affiziert wurde, zeigt auch ihre lebensreformerische Verfallsform in Gestalt der Alternativen, deren vielfältige Projekte bis heute als ein gesellschaftliches Standbein der Grünen anzusehen sind. Die Alternativ-Projekte sind von Anfang an eine Zurücknahme des gesellschaftlichen Anspruchs gewesen, ein faktisches Aufgeben des zum moralischen Ornament verkommenden politisch-gesamtgesellschaftlichen Bezugs, in dessen Zusammenhang allein die Gesellschaftlichkeit des Individuellen und seiner Ansprüche thematisiert werden könnte. "Kommunen", herunterdefiniert zu "Wohngemeinschaften", Druckereien, Verlage, Kneipen, Buchläden, kulturelle Projekte usw. wurden von der zerfallenden politischen Bewegung entkoppelt und mit größeren oder kleineren Reibungsverlusten in "Gesehäftsunternehmen" verwandelt; damit aber auch aus einer logistischen Funktion für einen übergeordneten gesellschaftlichen Zweck in einen Selbstzweck abstrakter Privatheit, der die zuerst gesamtgesellschaftlich gedachte Transzendenz ideologisch in seinen Innenraum zurückbannte: Aus der Politisierung des Privaten wurde die Privatisierung des Politischen, aus der Emphase der revolutionären Selbstbestimmung der kleinere Laut lebensreformerischer "Selbstverwaltung" im bloßen Binnenraum alternativer Projekte. Der schwächliche Widerschein des gesellschaftlichen Anspruchs in der Ausdehnung zuerst bloß logistischer Projekte einer Bewegung auf lebensreformerische Pseudo-Produktion (alternative Bäckereien und andere Handwerksbetriebe, Landwirtschaft auf der "verbrannten Erde" aufgegebener bäuerlicher Kulturen bis hin zu den Modellen keynesianisch staatssubventionierter "Belegschaftsbetriebe") und deren staatlich durchwobene "Vernetzung" signalisierte nicht bloß einen Wandel der "Revolte"-Subjektivität, sondern längst deren Preisgabe im bedingungslosen Verzicht auf die Revolutionierung der wirklichen gesellschaft-

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lichen Produktion schon nach wenigen Jahren kurzatmiger Versuche. Es zeugt von theoretischer Stupidität, wenn in anbiedernder Affirmation die sich enthüllende bürgerliche Abstraktheit des Bewegungs-Subjekts noch in seinen direkt warenförmigen Zerfallsgestalten gefeiert wird:
"Heute, wo Reflexivität als Lebensprinzip selbst bedroht ist, zeichnen sich auch soziale Bewegungen etwa in Form von Alternativbewegungen ab, die unmittelbar(!) den Kampf um technisch bedrohte Lebensformen, schließlich die Chancen des SELBSTSEINS - wie immer auch widersprüchlich - aufnehmen" (Claus Daniel, Theorien der Subjektivität, Frankfurt/New York 1981, S. 125, Hervorheb. R.K.).
Die alternative Aufnahme landwirtschaftliclher Käserei zog offenbar die theoretische nach sich. "Wie immer auch widersprüchlich" - nach der gesellschaftlichen Form der proklamierten Subjektivität wird in solchen wurstigen Statements ebensowenig mehr gefragt wie nach ihrem Inhalt. In der gesellschaftlich totalisierten Warenproduktion aber ist die leere Form selber der Inhalt als Selbstzweck, dem sich niemand entziehen kann, der diese Form nicht als solche fundamental kritisiert. Leichter noch läßt sich der Tiger reiten als die gesellschaftlich längst entfesselte Geldform als solche für "gute Zwecke" mobilisieren. Im falschen Leben gibt es tatsächlich kein richtiges; das "Selbstsein" in der totalisierten Warenform kann immer nur die bedingungslose Hingabe des abstrakten Subjekts an die objektive Selbstbewegung dieser Form sein. Längst ist auch die Alternativbewegung als eine Metamorphose des frühen Antiautoritarismus auf ihrem eigenen Boden von der Gefräßigkeit der gesellschaftlichen Wertform ereilt worden, nicht nur im Treppenwitz der Bank-Gründung, sondern überhaupt in der unvermeidlichen marktwirtschaftlichen "Professionalisierung", in der die objektiven Gesetze der Warenform die "Selbstverwaltungs"-Illusion genauso blamieren müssen wie jene längst bankrotte "Arbeiterselbsverwaltung" in der kapitalistischen Warenwirtschaft Jugoslawiens. Und schon deutet sich eine neue, letzte Metamorphose des Antiautoritarismus an, die im Verbund mit jener "Professionalisierung" den gesamtgesellschaftlichen Bezug wiederherstellt, jetzt aber in offen antisozialistischer ideologischer Militanz als Management-Perspektive eines "ökologischen Kapitalismus". Die grünen "Markt-Ökologen" bilden nur ein kleines Segment dieser Tendenz, die ihren Schwerpunkt eher in der "ökosozialen" Perspektivbildung kapitalistischer Sozialtechnologie hat. Der spätfordistische Aufstieg der Sozialarbeit in den 70er Jahren war ja von Anfang an personell und ideologisch eng verwoben mit der antiautoritären Bewegung und deren Durchgangsstadien, die Alternativ-Projekte eingeschlossen. Im Kontext kommunaler Sozialarbeit aber und ihrer "theoretischen" Reflexion zeitigt der "Professionalisierungs"-Schub offenbar ungeahnte Resultate:
"Die hochentwickelte Industrie verlangt selber und für ihre Zwecke nach sozialen Innovationen ... Jeder ist sein eigener Manager ... Der neue Stil der Betriebsführung ist 'a networking style of management' ..., in dem jeder zu einer

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Ressource für jeden(!) ... wird. Unternehmen pflegen ihre Humanressourcen(!), indem sie sich sozial und auf lebensweltliche Bedürfnisse ihrer Beschäftigten hin orientieren. Betriebliche Planung des Arbeitslebens und persönliche Lebensplanung, Arbeitsstil und Lebensstil, passen sich flexibel einander an(!). Andererseits erfolgt vielerorts die Gründung alternativer Wirtschaftsbetriebe aus sozialen Gründen: Anders leben - anders arbeiten ... Die 'neue Armut' sollte uns nicht den Blick verstellen(!) auf einen der klassischen Verelendungsthese diametral entgegenlaufenden Prozeß der Wertsteigerung der Humanressourcen(!). Der einzelne Mensch kann im industrialisierten Westen mehr aus sich machen(!) und mit weniger Aufwand mehr leisten als je zuvor ... Humanressourcen sind das Pfund, mit dem sich wuchern läßt(!). Die zukünftige Rolle der Sozialarbeit wird wohl weniger von ihrer fortdauernden Verpflichtung, den Notleidenden beizustehen, bestimmt sein als von ihrer Effektivität bei der Erschließung sozialer Ressourcen(!) ... Die Erschließung erfolgt einesteils in direkter Verbindung von Sozialarbeit und Wirtschaftstätigkeit ... Der Sektor der alternativen Ökonomie hat in der Bundesrepublik immerhin bereits 150 000 und mehr Beschäftigte ... Auf die Dauer müssen überall Rentabilität und Wohlfahrt übereinkommen(!), wirtschaftlicher und sozialerErtrag in ein Gleichgewicht gebracht werden. Damit das nicht über die Köpfe der Menschen hinweg (also wieder 'unsozial') geschieht, besteht eine zunehmend wichtige Aufgabe der Sozialarbeit darin, außerhalb und innerhalb von Betrieben zu eigener produktiver Gestaltung ihrer Lebensweise anzuhalten und dazu, sozial aktiv an den Prozessen der Wirtschaft teilzunehmen. Das ist der Sinn von autogestion, unter welchem Begriff die Franzosen den Zusammenhang von Selbstbestimmung, Selbstverwaltung und Selbstbewirtschaftung(!!) diskutieren ..." (Wolf Rainer Wendt, Das breite Feld der sozialen Arbeit: Historische Beweggründe und ökologische Perspektiven, in: Oppl/Tomaschek, Soziale Arbeit 2000, Band 1, Soziale Probleme und Handlungsflexibilität, Freiburg 1986, S. 68ff.).
Die brutale, perverse Verdinglichung dieser Sprache und ihre Terminologie richtet sich selbst. Jetzt zeigt sich, was die "Verdinglichungs"-Phrase im Munde derer wert war, die sie zu konkretisieren versäumt haben als radikale Kritik der Warenform gesellschaftlicher Reproduktion überhaupt. Und keinesfalls handelt es sich hier um eine vereinzelte Stimme; man denke etwa an den "Paradigmen-Wechsel" von einst "linken" Industriesoziologen wie Kern/Schumann, die heute gleichfalls auf ein "aufgeklärtes Management" setzen. In ihrer objektiven Spätfolge wie im Wandel des subjektiven Bewußtsein ihrer Träger ist die antiautoritäre Bewegung zum letzten Schrei kapitalistischer Unternehmenskultur geworden. Von der revolutionären "Selbstbestimmung" über die lebensreformerische "Selbstverwaltung" zur brutalen Selbstdefinition als verdinglichte "Humanressource", zur "Selbstbewirtschaftung" und "Selbstverwertung" - welch eine gnadenlose Logik der Selbstzerstörung emanzipatorischen Willens unter dem Leitstern unaufgelöster abstrakter Subjektivität! Die mangelnde Fähigkeit eines bloß formalen Autonomie-

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Denkens oder Antiautoritarismus, sich von der monetaristischen Subjektbestimmung des Liberalismus abzugrenzen, wird so auf grausame Weise praktisch bewiesen. Es genügt, einen anderen großen Antiautoritären, Alternativen und Liebhaber abstrakter Geldsubjektivität zu zitieren:
"Die amerikanische Revolution war eine Philosophische. Zum erstenmal in der menschlichen Geschichte haben wir den individuellen Genius des einzelnen Menschen freigesetzt, um so hoch und so weit zu steigen, wie seine eigene Kraft und seine Fähigkeiten ihn tragen werden" (Ronald Reagan, 1980).
Indem vom Resultat her "Selbstbestimmung" und "Selbstverwaltung" derart in ihrem Inhalt definiert werden, verlieren sie im nachhinein als solche, als bloß formale Proklamation emanzipatorischen Willens, jeden letzten Hauch von revolutionärer Transzendenz. Daß es gelte, als Geldsubjekt "etwas aus sich zu machen", dazu bedurfte es keiner emanzipatorischen Idee, weil der Inhalt der Geldform in ihr selbst und in ihrer Leere besteht, in der die totale Entsubjektivierung des Subjekts begründet ist. Nicht ins vielzitierte Hölderlinsche "Offene" ist die antiautoritäre Bewegung am bitteren Ende ihres Weges gekommen, sondern freiwillig hat sie sich selber endgültig einbetoniert in jener "Gefängniszelle" abstrakter Vergesellschaftung, deren Namen radikal kritisch zu benennen Dutschke und die Seinen nicht in der Lage gewesen waren. Die "bleierne Zeit" hat jetzt erst richtig begonnen, für die Sieger des Prozesses der "Selbstbewirtschaftung" sowohl, die keine Subjekte sein können, wie für seine Verlierer, die der kapitalistischen Armuts- und Katastrophen-Verwaltung überantwortet werden. Für den Fall ihrer Revolte werden notfalls als Grenzträger der entpersönlichten Herrschaft des "automatischen Subjekts" auch die Turnschuh-Noskes bereitstehen, nachdem die Grünen ja auch schon ihren Turnschuh-Millerandismus hervorgebracht haben. Die Situationisten von 1968 wußten, wovon sie sprachen:
"Die selbsttätige Regulierung des Warensystems würde ... JEDEN MENSCHEN ZUM PROGRAMMIERER SEINER EIGENEN EXISTENZ MACHEN: das ist die Quadratur des Kreises. Aufgabe der Arbeiterräte wird mithin sein, diese Welt nicht ihrer Selbstregulierung zu überlassen, sondern sie ununterbrochen qualitativ zu verändern, indem sie das Warensystem praktisch überwinden und damit die gigantische Pervertierung der Produktion durch ihre Produzenten aufheben" (Das Elend der Studenten, Juni 1968, S. 23f., Hervorheb. R.K.).
Der negative Teil dieser Aussage liest sich heute als eine Prognose für die antiautoritäre Bewegung selbst in ihrer demokratischen, kapitalistisch immanenten Interpretation. Mit der Verifizierung dieser Prognose ist die Linke tatsächlich "heimgekehrt in ihr Land". Die Grünen und ihr gesellschaftliches Umfeld sind der stinkende Leichnam des emanzipatorischen Willens von 1968. Dieser in der Logik des Geldes und seiner Selbstbewegung ersäufte Wille wird in der kommenden und teils auch schon manifesten Krise des Geldes und der Warenwirtschaft überhaupt bei seinen einstigen Trägern nicht wieder aufsteigen wie der Phönix aus der Asche,

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sondern sie endgültig in rasende, gierige, letztlich mörderische Neo-Kleinbürger verwandeln. Das Schnappen und Beißen, das Heulen und Zähneklappern um die dahinschmelzenden "Alternativtöpfe" des Staates und der Kommunen muß sich mit der manifesten Krise der Staatsfinanzen in einer sich abzeichnenden Weltwirtschaftkrise bis zur Unerträglichkeit steigern und heute noch im Dunkeln liegende politische Verlaufsformen erzeugen. Nur schwach sind gegenwärtig neue Hoffnungsträger eines gesellschaftlichen Willens zur Emanzipation des menschlichen Subjekts abzusehen. Für die heutige junge Radikal-Opposition der Autonomen, die ihrem Begriff von "Autonomie" so wenig einen klaren Inhalt gegeben hat wie die antiautoritäre Bewegung von 1968, sollte deren Entwicklung und ihre gesellschaftlichen wie subjektiven Resultate ein Menetekel darstellen. "Es ist nicht genug, ein abstraktes Votum für die Macht der Arbeiterräte abzulegen". Die noch so oft wiederholte abstrakte Parole gegen die Lohnarbeit und für Autonomie bleibt leer und wirkungslos, wenn sie nicht im theoretischen gesellschaftlichen Diskurs und im praktischen Kampf auf allen gesellschaftlichen Ebenen konkretisiert werden kann als fundamentale Kritik der Waren- und Geldform selber. Die Autonomen wie andere zukünftige Bewegungen werden radikal sein als radikale Kritiker der warenfetischistischen Gesellschaft und des Geldes überhaupt, oder sie werden nicht sein als Radikale.