Marxistische Kritik Nr. 5,
Dez. 1988
[Vorbemerkung: Die Seitentrennung bezieht sich auf die Original-Ausgabe]
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Robert Kurz
[S. 11-37]
Glanz und Elend des Antiautoritarismus
Streiflichter zur Ideen- und Wirkungsgeschichte der "Neuen Linken"
1.
Die Studentenbewegung von
1968 begriff sich selber als "antiautoritär", was im wesentlichen gleichbedeutend
war mit "antiinstitutionell". Rudi Dutschkes berühmtes Stichwort vom "Langen
Marsch durch die Institutionen" stand nicht im Widerspruch zu diesem Selbstverständnis,
sondern sollte, jedenfalls in der ursprünglichen Bedeutung, nur die Notwendigkeit
ausdrücken, daß der antiinstitutionelle Kampf nicht nur von außen,
sondern gleichzeitig auch von "innen" zu führen sei, in der subversiven
Durchdringung der kapitalistischen Institutionen selbst. Ein anderes Stichwort
der Studentenbewegung, nämlich das von der "revolutionären Berufspraxis",
zielte in eine ähnliche Richtung und zeigt die damaligen Vorstellungen,
Wünsche und Illusionen, wie man heute wohl sagen muß. Als synonym
zum Begriff des "Antiautoritären" könnte der Begriff der "Autonomie"
gesetzt werden, der heute geläufiger ist und nach dem gegenwärtig
eine ganze Strömung radikaler junger Opposition ihr Selbstverständnis
definiert. Dies zeigt schon, daß wir es in verwandelter Form mit unaufgearbeiteter,
gegenwärtiger Geschichte zu tun haben, daß 1968 nicht bloß
Historie ist, auch wenn es vielleicht manchen Jungen heute so entfernt scheint
wie der Erste Weltkkrieg.
Die antiautoritäre Ideologie konnte nicht vom Himmel gefallen sein; dennoch
war sie scheinbar plötzlich da, fraglos aufgenommen von einer sich rasch
verbreiternden Bewegung, deren Individuen in ihrer Mehrheit von theoretischer
Reflexion zunächst ganz unbeleckt waren. Der entscheidende Impuls war nicht
die Multiplikation von Turmstubenerlebnissen, sondern gesellschaftlicher Wandel,
eine Objektivität hinter dem Rücken der Subjekte. Die äußeren
Anlässe und Aufhänger der Bewegung waren politisch und moralisch;
politisch die Kritik an Notstandsgesetzen und großer Koalition, an sich
eine rein bürgerliche, demokratisch immanente Kritik; moralisch die Empörung
über den Vietnamkrieg der USA, an sich eine den Rahmen des bürgerlichen
Denkens noch nicht verlassende Regung. Warum aber wurden die gesellschaftlichen
Institutionen, die ja auch vorher schon da waren, jetzt plötzlich als autoritär
und unerträglich erlebt ("Unter den Talaren - Muff von tausend Jahren")?
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Zweifellos wird der objektive gesellschaftliche Wandel als Hintergrund der Bewegung
von 1968 durch den fordistischen Vergesellschaftungsprozeß des Kapitals
markiert. Die Nachkriegsepoche war eben nicht bloß eine "Rekonstruktionsperiode"
des Kapitals, wie der Standardausdruck der Bewegung selbst lautete, sondern
eine weit darüber hinausgehende kapitalistische Vergesellschaftung auf
neuer Stufenleiter. Darauf deuten nicht nur die historisch beispiellosen Wachstumsraten
der Kapitalakkumulation hin; vor allem die gesellschaftliche Qualität dieses
Wandels selber war entscheidend über das bloß quantitative Wachstum
hinaus. Es ist bereits zum soziologischen Gemeinplatz geworden, daß die
fordistische Vergesellschaftung den interventionistischen, keynesianischen Sozialstaat
hervorgebracht und die Familie weitgehend zersetzt hat. Die theoretische Reflexion
(z.B. der Kritischen Theorie) hatte diese Tendenzen teilweise schon vorweggenommen
und aus der Logik der Kriegswirtschaften, des Faschismus und des "New Deal"
abgeleitet. Aber erst nach dem 2. Weltkrieg setzte der eigentliche fordistische
Vergesellschaftungsschub ein. Erst jetzt traten das Automobil sowie die Unterhaltungs-
und Haushaltselektronik, teilweise begünstigt durch die technologischen
Innovationen des Krieges, in die Phase der weltweiten Massenproduktion ein;
die Schaffung neuer Massenbedürfnisse im Weltmaßstab und deren Produktion
als profitable Einsaugung riesiger Massen lebendiger Arbeitskraft konstituierte
erst den sich selbst tragenden Boom. In nie dagewesenem Ausmaß wurde die
Frau in die kapitalistisch konstituierte "Erwerbstätigkeit" einbezogen,
während gleichzeitig die Voraussetzungen, Folgen und "unbeabsichtigten
Nebenwirkungen" dieses Prozesses auf wachsender Stufenleiter die allseitige
Staatsintervention herausforderten, von der monetären Steuerung über
die "permanente Kriegswirtschaft" der Rüstungsökonomie und die sich
rasch ausdehnenden Institutionen der Qualifizierung und Verwissenschaftlichung
bis hin zur Sozialarbeit usw.
Gleichzeitig verharrten die gesellschaftlichen Institutionen und Verkehrsformen
jedoch in traditionellen Denkweisen, deren Wurzeln weit in die ständische,
vorkapitalistische Gesellschaft zurückreichen. Hatte schon der blutige
Schmelztiegel der beiden Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
die traditionellen Verkehrsformen, Denk- und Verhaltensweisen in vieler Hinsicht
zerstört, aufgelöst und zersetzt, so vollendete nun die "friedliche"
fordistische Vergesellschaftung bis in die feinsten Poren der Gesellschaft hinein
dieses Werk. Als Resultat zeichnete sich das einzig dem Kapitalismus adäquate
negativ-gesellschaftliche Individuum ab, die abstrakte, von allen traditionellen
Bindungen und "Werten" befreite MONADE, "befreit" jedoch nur für den inhaltsleeren
Selbstzweck der Verwertung des Werts, des totalen Kaufens und Sich-Verkaufens.
Das Realwerden dieser dem Kapitalverhältnis von Beginn an immanenten Tendenz
auf neuer Stufenleiter, die Herausbildung dieses leeren, sich selbst genügenden
Individuums, mußte mit den versteinerten, "autoritären", in ihrem
Kern noch vorkapitalistischen traditionellen Denkund Verhaltensweisen kollidieren.
Massenkulturelle Ausdrucksformen hatte
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dieser Zusammenstoß längst vor der Bewegung von 1968 bei der Jugend
gefunden, nicht bloß in der Revolte-Subkultur der Rocker oder in der weitreichenden
Faszination existentialistisch-heroischer Auflehnung schlechthin etwa durch
die Stilisierung James Deans, sondern vor allem in der massenpopulären
Musikkultur des Rock oder Beat und seiner Idole. Dieser Impuls kann gar nicht
überschätzt werden. Erstmals in der Geschichte stieg das schon im
19. Jahrhundert kapitalstisch konstituierte Phänomen der WELTKULTUR vom
Sockel der "Hochkultur" minoritärer geistiger Eliten herab in den Alltag
der Massen, ermöglicht durch die technische Produktivkraft des Fordismus
und die damit zusammenhängende Herausbildung eines weltweiten unmittelbaren
Kommunikationszusammenhangs. In dieserHinsicht hat bisher keine andere Form
der Massenkultur die Pop-Musik auch nur annähernd erreichen können.
Und gerade auf dieser Ebene der alten und der neuen Massenkultur gab es die
ersten heftigen Zusammenstöße, ausgelöst durch habituelle Sekundärformen,
die zunächst als Protest verstanden wurden (Jeans, lange Haare etc.). Dies
alles war nicht einfach der ewig sich wiederholende Generationskonflikt, sondern
der beginnende Zusammenstoß zweier Welten, der traditionellen Welt, in
der die kapitalistische Vergesellschaftung noch bloß sektoral oder äußerlicher
Firnis war, und der fordistischen Welt des totalen Voll-Kapitalismus, der die
gesellschaftliche Reproduktion bis in die letzten Nischen und Poren hinein seiner
inhaltsleeren Formbestimmung unterwirft.
Aus diesen Zusammenhängen heraus ergäbe sich eine objektiv gesetzte
Interpretation der Bewegung von 1968, die zu ihrem eigenen (damaligen) Selbstverständnis
in diametralem Gegensatz steht, nämlich ihre Darstellung als bloße
Funktion einer "Modernisierung" des Kapitalismus, genauer: der Durchsetzung
des total werdenden, erst mit sich historisch identischen Voll-Kapitalismus.
Tendenzen einer solchen NeuBewertung der damaligen Bewegung finden sich zunehmend
in der Literatur, teils mit negativer, häufiger jedoch mit positiver Besetzung
unter der ideologischen Hülle des "Demokratisierungs"-Statements. Auch
das heutige banal demokratisch-kapitalistische Selbstverständnis der meisten
damaligen Bewegungs-Träger bis hin zu den führenden Figuren des "Linksradikalismus"
(Cohn-Bendit etwa) deutet in diese Richtung.
Und dennoch wäre eine solche Interpretation ebenso eindimensional wie umgekehrt
das super-revolutionäre Selbstverständnis von 1968. Diese Bewegung,
wie schon die vorausgegangenen revoltistischen und existentialistischen Subkulturen,
war wesentlich ambivalent. Sie drückte eben nicht nur die kapitalistische
Modernisierungstendenz im Herausarbeiten der abstrakten Monaden gegen den "autoritären"
Traditionalismus aus, sondern gleichzeitig auch das ungeheure LEIDEN dieser
abstrakten Individualitätan sich selbst, die Empörung gegen die grauenhafte
Leere der totalen Selbstverwertung. Und es bleibt die Frage, ob diese Seite
der Revolte, ob diese Empörung gerettet werden kann als "Erbe" und transformiert
in ein neues revolutionäres Denken auf der Höhe unserer Zeit: heute,
zwanzig Jahre
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später. Um begreifen zu können, wären die Spuren der Ambivalenz
des Antiautoritarismus in ihren theoretischen, ideologischen Ausdrucksformen
selbst aufzufinden und kritisch aufzulösen.
2.
Damals wie heute blieb
die Bestimmung des Antiautoritären oder der Autonomie reichlich vage. Um
die Autonomie des Individuums gegenüber den als repressiv erlebten gesellschaftlichen
Institutionen soll es gehen; das autonome Individuum soll sich gegen die Autorität
repressiver Gesellschaftlichkeit bzw. deren Repräsentanten zur Wehr setzen
und eine Bewegung vieler autonomer Individuen konstituieren, die schließlich
die repressiv-institutionelle Gesellschaftlichkeit aufhebt. Diese antiautoritäre
oder autonome Ideologie steht naturgemäß in einem starken und widersprüchlichen
Spannungsverhältnis zur sozialistischen Ideengeschichte. Einerseits teilt
sie weitgehend die sozialistische Intention, ökonomische Ausbeutungsverhältnisse
als Basis der gesellschaftlichen Repression abzuschaffen; andererseits sieht
sie im Sozialismus, wie er traditionell verstanden und praktiziert wurde (2.
und 3. Internationale), selber eine neue Form institutioneller Unterdrückung
des Individuums, eine Einschätzung, die natürlich durch die reale
Entwicklung der Sowjetunion nur noch bekräftigt wurde. Ein wesentlicher
Impuls der antiautoritären Studenten- und Jugendbewegung war daher, neben
der Kritik des repressiven Spätkapitalismus, gleichzeitig die Kritik der
realsozialistischen repressiv-autoritären Vergesellschaftungsformen. Daß
1968, auf dem Höhepunkt der Bewegung, im Pariser Mai-Aufstand und im Prag
der Reformer gleichermaßen die Panzer der Unterdrückungsmaschinen
rollten, schien diese Auffassung schlagend in der Praxis zu bestätigen.
Um den Antiautoritarismus kritisch begreifen zu können, ist vielleicht
ein kurzer Blick auf seine eigene Ideengeschichte angebracht, ein Sprung zurück
um 150 Jahre. In traditionellen Gesellschaften buchstäblich "undenkbar",
ist die antiautoritäre Ideologie schon in dieser frühen Phase des
"Kapitalismus auf seinen eigenen Grundlagen" ein typisches Produkt des bürgerlichen
19. Jahrhunderts, wie übrigens auch der Marxismus, und reflektiert durchaus
ein emanzipatorisches Moment. Von Anfang an stehen die Strömungen des antiautoritären
Denkens dem Anarchismus nahe oder sind ursprünglich dessen Bestandteil.
In seiner radikalsten Zuspitzung richtet sich schon der früheste Antiautoritarismus
gegen jede dem individuellen Ich äußere Autorität, gleichgültig
welcher Art. Dieser Grundgedanke des "solipsistischen", sich selbst emanzipatorisch
verstehenden Egoismus wird schon am Vorabend der bürgerlichen Revolution
von 1848 mit geradezu glänzender Banalität zusammengefaßt von
Max Stirner:
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"Fort denn mit jener Sache, die nicht ganz und gar meine Sache ist! Ihr meint,
Meine Sache müsse wenigstens die 'gute Sache' sein? Was gut, was böse!
Ich bin ja selber Meine Sache, und Ich bin weder gut noch böse. Beides
hat für mich keinen Sinn. Das Göttliche ist Gottes Sache, das Menschliche
'des Menschen'. Meine Sache ist weder das Göttliche noch das Menschliche,
ist nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie etc., sondern allein das MEINIGE, und
sie ist keine allgemeine, sondern ist - EINZIG, wie ich einzig bin. Mir geht
nichts über mich!" (Vorrede zu "Der Einzige und sein Eigentum", 1842).
Schon in dieser frühesten Ausformulierung durch Stirner wird der Kern des
Antiautoritarismus mit unübertroffener Klarheit deutlich. Gegenüber
allem scheinheiligen Altruismus christlicher Sklavenmoral und bürgerlicher
"Wohlfahrts"-Organisation hat diese Aussage zweifellos etwas Erfrischendes an
sich, wie ja auch etwa ähnliche Aussagen Nietzsches aus einem anderen gedanklichen
Zusammenhang heraus. Diese problematische Verwandtschaft ist freilich durchaus
nicht zufällig. Die Frage kann nicht umgangen werden, wie sich der Antiautoritarismus
eigentlich von den gleichfalls individualistischen Ideologien des radikalen
Liberalismus (Manchester-Liberalismus im 19. Jahrhundert, Monetarismus etc.
heute) oder des nietzscheanischen Herrenmenschentums abgrenzen will. Etwas lahm
und hilflos abstrakt erscheint die Antwort, daß die Freiheit jedes einzelnen
und "einzigen" Ichs die aller anderen bedingen müsse. Dieses Postulat könnte
als altruistischer Ausrutscher denunziert werden, als in der radikalen Autonomie-Logik
des konsequenten Antiautoritarismus an sich nicht enthaltenes moralisches Anhängsel.
Ebensowenig wird mit dieser abstrakten Bestimmung auch nur die leiseste Andeutung
gemacht, wie denn unter der Voraussetzung des radikalen Anti-Institutionalismus
humane Gesellschaftlichkeit praktisch möglich sein soll.
Ganz offensichtlich schleppt der Antiautoritarismus das unaufgelöste Problem
des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft mit sich herum, das klassische
Problem des bürgerlichen Denkens überhaupt, das aus diesem Dualismus
niemals herauskommt. Ausgangspunkt ist immer das bereits ausgeformte moderne
Individuum, als wäre dieses vom Himmel gefallen. Dieses Individuum steht
seiner eigenen Gesellschaftlichkeit fremd und äußerlich gegenüber,
schließlich sogar feindlich in dem Maße, wie die staatlichen und
bürokratischen Institutionen im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts immer
mehr bedrohlich anwachsen und das Ich der Individualität zu verschlingen
scheinen. Es kommt dem bürgerlichen Denken nicht in den Sinn, daß
dieses Individuum keine fraglose Voraussetzung ist, sondern vielmehr selber
ein historisch-gesellschaftliches Konstrukt, das erst mit der Verallgemeinerung
der Warenproduktion durch den Kapitalismus und damit der Herausbildung des Geldes
zur totalen und allgemeinen Verkehrsform der Gesellschaft überhaupt entstanden
ist.
Stirner will den falschen Abstraktionen des christlichen Gottesglaubens ebenso
zuleibe rücken wie der falschen Abstraktion des Menschen in der Feuerbachschen
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Religionskritik, um beim vermeintlich wirklich Konkreten, Leibhaftigen, Faßbaren,
nämlich dem eigenen Ich zu landen. Er merkt nicht, daß gerade dieses
die äußerste und dürrste Abstraktion überhaupt ist. Dieses
Ich ist so abstrakt, daß es seine eigene gesellschaftliche Konstituiertheit
nicht mehr weiß, diese vielmehr praktisch als die geradezu feindselige
Kälte der gesellschaftlichen Institutionen erlebt, denen es um seine abstrakte,
inhaltsleere Autonomie kämpfend gegenübersteht. Der unaufhörliche
Dualismus des bürgerlichen Denkens pendelt so ständig zwischen der
Abstraktion der Gesellschaftlichkeit und der Abstraktion der Privatheit des
Individuums hin und her und kann beides nicht miteinander versöhnen und
vermitteln, obwohl es sich um eine vermittelte Identität seiner selbst
handelt, die in sich und mit sich zerfallen ist. Je nachdem wird entweder die
abstrakte Gesellschaftlichkeit bzw. ihre Institutionen wie Recht, Staat,Nation
usw. gegen die Freiheit des einzelnen Individuums als dessen notwendige Begrenzung
ins Feld geführt oder umgekehrt im Namen eben dieser Freiheit des Individuums
den Institutionen der Krieg erklärt, die doch nur Ausdruck ein- und desselben
Prozesses sind, der dieses Individuum selber erst hervorgebracht hat.
Die unbewältigten und unbewältigbaren Schmerzen rühren offenbar
daher, daß es sich eben um ein abstraktes Individuum im Zusammenhang einer
abstrakten Gesellschaftlichkeit handelt. Die Entfesselung der Warenproduktion
und damit die Verwandlung der menschlichen Arbeitskraft selber in eine Ware
hat gegenüber den rohen, traditionellen Produktionsweisen wie dem Feudalismus
einen ungeheuren Vergesellschaftungsschub ausgelöst; die Menschen sind
zunehmend weniger dem unmittelbaren Naturzusammenhang ausgeliefert und sie reproduzieren
ihr Leben zunehmend weniger in einem kleinen hauswirtschaftlich-dörflichen
Zusammenhang auf der Basis einer agrarischen Produktionsweise. Lohnarbeit, Ausdehnung
der Märkte, Herstellung des Weltmarkts und damit verbunden die Industrialisierung
haben, um es mit einem heute geläufigen ökologischen Terminus zu sagen,
einen weltweiten "Vernetzungs"-Zusammenhang menschlicher Arbeit und Reproduktion
hergestellt. Dies ist in der kapitalistischen Hülle ein historischer Prozeß
der Vergesellschaftung, jedoch einer sozusagen nur halben, nämlich abstrakten.
Abstrakt deshalb, weil die Menschen diesen zunehmenden Vernetzungs-Zusammenhang
ihrer gesellschaftlichen Arbeit nicht direkt über ihre gesellschaftlichen
Institutionen gemeinschaftlich planen und regeln nach Gesichtspunkten der konkreten
Nützlichkeit, sondern die gesellschaftliche Vernetzung in der Form der
entfalteten, auf Lohnarbeit basierenden Warenproduktion für die gesellschaftliche
Praxis der Menschen bloß indirekt und VON DEN KONKRETEN BEDÜRFNISSEN
ENTKOPPELT abgewickelt wird. Medium dieser abstrakten Vergesellschaftung ist
ein äußerliches Ding, das GELD. Das Geld ist als "allgemeine Ware"
ein abstraktes, inhaltsleeres Ding als Ausdruck der gesellschaftlichen Arbeit,
die es von ihrem konkreten Inhalt völlig lostrennt. Geld stinkt bekanntlich
nicht, man sieht es ihm nicht an, ob es Ausdruck einer zerstörerischen
oder einer
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nützlichen Verausgabung gesellschaftlicher Arbeit ist. Für die Vermehrung
des vorgeschossenen Geldes als dem bekannten Selbstzweck kapitalistischer Produktion
spielt deshalb der Gesichtspunkt der konkreten Nützlichkeit an sich keine
Rolle.
Das moderne Individuum, entstanden erst in der Ablösung von der Enge der
traditionellen Produktionsweisen, ist daher ein abstraktes gesellschaftliches
Individuum, d.h. ein bloßes Geld-Subjekt. In der bekannten Abwandlung
des bekannten Satzes von Descartes müßte es von sich sagen: "Ich
verdiene Geld, also bin ich". Der Antiautoritarismus mag die von der abstrakten
Vergesellschaftung des Geldes hervorgetriebenen modernen Institutionen bekämpfen,
er mag moralisch den Tanz ums goldene Kalb verurteilen, hierin der christlichen
Salbaderei dann nicht ganz unähnlich, aber er ist leider nicht antiautoritär
genug, um sich nicht doch letztendlich dieser unbegriffenen, dinglichen Autorität
des Geldes zu unterwerfen, weil er sich seiner eigenen unbegriffenen Gesellschaftlichkeit
nicht entziehen kann. Das Geld, obwohl der abstrakte, leere Selbstzweck entfesselter
Warenproduktion, erscheint dem abstrakten Individuum, dem "nichts über
sich geht", sogar als das bewußtlos vorausgesetzte Mittel, mit dem es
sein Ich zur Geltung bringen muß. Der Antiautoritarismus oder die Ideologie
des autonomen Individuums ist so nichts als der bewußtlose Reflex der
bürgerlichen Subjekt-Entwicklung, der hoffnungslose Aufstand der abstrakten
Geld-Subjektivität gegen sich selbst. Und doch liegt in diesem revoltistischen
Reflex noch ungetrennt ein emanzipatorisches Verlangen, das sich keinen adäquaten
Ausdruck zu geben weiß. In jeder neuen Krisen-Epoche bürgerlicher,
geldvermittelter Vergesellschaftung tritt daher auch die antiautoritäre
Ideologie von neuem auf höherer Stufenleiter hervor, ohne doch je aus dem
Gefängnis der warenlogischen Kategorien ausbrechen zu können, solange
keine Transformation in eine konkrete Kritik der Warenform selber stattfindet.
Wie war es historisch möglich, daß die Idee einer Befreiung des Individuums
dennoch bis heute nicht über den Antiautoritarismus bzw. die abstrakte
"Autonomie" hinausgekommen ist?
3.
Die Marxsche Theorie enthält
an sich im Kern eine radikale Kritik der Warenproduktion überhaupt, d.h.
der bloß halben, abstrakten Gesellschaftlichkeit des Individuums. Die
kommunistische Revolution ist fürMarx letztlich die Aufhebung der Lohnarbeit
ALS Aufhebung der Ware-Geld-Form selbst, auch wenn er diese Konsequenzen nicht
mit der nötigen Deutlichkeit formulieren konnte. Diese Schwierigkeit rührt
aus der relativen Unterentwicklung des kapitalistischen abstrakten Vergesellschaftungsprozesses
zu seiner Zeit. Aus demselben Grund konnte die alte Arbeiterbewegung die wirklich
radikalen Konsequenzen der Marxschen Theorie nicht begreifen, auch in ihrem
revolutionären Flügel nicht. Sie wollte die
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Lohnarbeit abschaffen auf dem Boden der Warenproduktion und des Geldes, ein
zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Im Westen war das Resultat die im Kapitalismus
integrierte Sozialdemokratie, im Osten die in spezifischer Weise warenförmige
Sowjetgesellschaft als Ausdruck einer NACHHOLENDEN Industrialisierung und BÜRGERLICHEN
Vergesellschaftung.
Von diesen Grundlagen aus mußte die Marxsche Theorie ungeheuer verkürzt
werden und daher auch eine verkürzte und verplattete Kritik des Antiautoritarismus
liefern. Der traditionelle Marxismus, selber in den Kategorien abstrakter Ware-GeldVergesellschaftung
befangen, war gar nicht in der Lage, den Antiautoritarismus adäquat analysieren
zu können. Mit dem bloß denunziatorischen Stichwort des "kleinbürgerlichen
Individualismus" signalisierte er sein Unverständnis, die antiautoritäre
Ideologie als Ausdruck kapitalistischer Vergesellschaftung überhaupt zu
erkennen. Die platte soziologistische Zuordnung als spezifische Ideologie einer
bestimmten, als "kleinbürgerlich" definierten Klasse verdunkelte die Tatsache,
daß das Problem abstrakter Individualität mit dem Fortschreiten kapitalistischer
Entwicklung ALLE Klassen erfaßt, AUCH DIE ARBEITERKLASSE als Träger
der Ware Arbeitskraft und damit als bürgerliches Geld-Subjekt. Indem gegen
den abstrakten Individualismus der Antiautoritären bloß der anti-individuelle
äußerliche Organisations-Gesichtspunkt der alten Arbeiterbewegung
geltend gemacht wurde, blieb der traditionelle Marxismus in seiner Kritik der
antiautoritären Ideologie selber im Dualismus des bürgerlichen Denkens
befangen; er vertrat nicht die durch gesellschaftlichen Befreiungskampf vermittelte
konkrete Individualität des Kommunismus gegen die abstrakte Individualität
des Geldes, sondern bloß eine neue Variante der abstrakten Gesellschaftlichkeit
(in Gestalt des "Staatssozialismus") gegen die abstrakte Privatheit der Liberalen
und ihrer "umgestülpten" anarchistischen Variante.
Das zentrale Motiv des Antiautoritarismus mußte daher lebendig bleiben
über den klassischen Anarchismus hinaus, und nicht nur in den Schüben
kapitalistischer Krisenprozesse. Das entleerte, mit sich selbst im Unfrieden
lebende abstrakte bürgerliche Geld-Subjekt ist das Thema erst recht der
gesamten Philosophie des 20. Jahrhunderts. Lebensphilosophie und Existentialismus
griffen das Problem auf, ohne es natürlich als philosophisches lösen
zu können. Auch die Kritische Theorie der Frankfurter Schule ist (wie übrigens
großenteils der "westliche Marxismus" überhaupt) in diesem Kontext
anzusiedeln. In ihrer Kritik des "autoritären Staates" und der "autoritären
Persönlichkeit" blieb sie nicht bloß formal und dem Namen nach den
zentralen Motiven des alten Antiautoritarismus verpflichtet: allerdings hindurchgegangen
durch die zeitgenössische philosophische Debatte und unter gleichzeitiger
Berufung auf die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie. Das Resultat
blieb zwar in vieler Hinsicht eher eklektisch, von einer kritischen Auflösung
des alten Gegensatzes konnte keine Rede sein. Auch die Kritische Theorie reproduzierte
selber noch den alten bürgerlichen Dualismus von Individuum und
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Gesellschaft als äußeren, nicht vermittelbaren, feindlichen Gegensatz;
im Unterschied zum traditionellen Marxismus der alten Arbeiterbewegung machte
sie jedoch nicht einfach "staatssozialistisch" die Abstraktion des Allgemeinen
der Gesellschaft gegen das (liberale) Individuum geltend, sondern versuchte
gerade umgekehrt mit den Kategorien der Marxschen Theorie selber in ihrer Vermittlung
durch die bürgerliche philosophische Debatte dieses Individuum, den "Einzelnen"
(auch den als Proletarier daseienden Einzelnen in seiner unwiederholbaren Einzigartigkeit)
zu verteidigen gegen die Zumutungen jener Mächte abstrakter, negativer
Gesellschaftlichkeit, wie sie sich im 20. Jahrhundert bis zur Unerträglichkeit
zu steigern begannen. Die Kritische Theorie kam selber nicht über das Individuum
als Abstraktion hinaus; insofern blieb das zentrale Motiv Stirners immer noch
in abgewandelter und weiterentwickelter Form unaufgelöst erhalten. Aber
indem die Kritische Theorie den kühnen Versuch wagte, gegen den Strich
der traditionellen Interpretation gerade die Befreiung der Individualität
von der Marxschen Theorie her zu begründen, stieß sie letztlich die
Tür auf für eine Reformulierung und Weiterentwicklung dieser Theorie
über die Verkürzung des traditionellen Marxismus hinaus; eine Tür
freilich, durch die bis heute niemand gegangen ist.
Dies war die historische Situation des gesellschaftskritischen Denkens, auf
die auch noch 1968 die Studentenbewegung traf und über deren Schatten sie
nicht springen konnte. Sie war nicht imstande, sozusagen aus dem Stand in eine
völlige NeuErarbeitung der Theorie hineinzuspringen, mußte sich aber
doch in ihrem Gegensatz zu den vorgefundenen gesellschaftlichen Strukturen eine
theoretische Legitimationsgrundlage geben. Angesichts der Erstarrung der Sozialdemokratie
als bürgerliche Institution und der völligen theoretischen wie politischen
Impotenz des sogenannten "Marxismus-Leninismus" östlicher Prägung
als falscher "Marx-Orthodoxie" stellte das Aufgreifen des Antiautoritarismus
durch den historischen Filter der Kritischen Theorie hindurch eine unvermeidliche
Übergangserscheinung radikaler Theorie und Praxis dar; die Unbrauchbarkeit
und theoretische Erschöpfung des an der alten Arbeiterbewegung orientierten
traditionellen Marxismus zwang zum Rückgriff auf weniger diskreditierte
Ansätze radikalen Denkens.
Hatte das Wiedererscheinen des Antiautoritarismus in den Krisen des 20. Jahrhunderts
bis dahin im Schatten der alten Arbeiterbewegung und ihrer großen Parteien
gestanden, so trat es 1968 als zentrale Idee der weltweiten Jugend- und Studentenbewegung
ins volle Rampenlicht der Geschichte zurück, gerade als das neue Einklagen
eines alten, uneingelösten Versprechens, an dem sowohl Liberalismus als
auch traditioneller Marxismus gescheitert waren. Die Vertreter des alten Arbeiterbewegungs-Marxismus
waren ebenso überrascht wie entsetzt, wie der Aufschrei eines ihrer Propagandisten
zeigt:
"Der Anarchismus ist auferstanden; er begeistert studentische Rebellen, entschärft
Handgranaten der Tatpropaganda, überflutet Bücherstände, bereichert
das Vokabular der Polizeiberichte. Die Tatsache ist unbestritten, so überraschend
sie ist.
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Man hatte ihn für tot gehalten, ein Museumsobjekt; aber es war ein Scheintod.
Man muß die Diskussion, bereichert durch die Erfahrung eines bewegten
Jahrhunderts, erneuern" (Bruno Frei, Die anarchistische Utopie, Frankfurt 1978,
I. Auflage 1971, S. 5).
Aber in dieser erneuerten Diskussion hatten die "Traditionalisten" nichts Neues
zu sagen, wie derselbe Autor mit unfreiwilliger Deutlichkeit zeigt, wenn er
sich folgendermaßen gegen den "kleinbürgerlichen Individualismus"
der neuen antiautoritären Bewegung und ihren neoanarchistischen Freiheitsbegriff
wendet: "Der Staat, der die gesellschaftliche Ordnung garantiert(!), ist kein
Gegensatz zur Freiheit(!). Die Frage ist vielmehr, welcher Staat garantiert
welche gesellschaftliche Ordnung, garantiert wessen Freiheit?.... Freiheit,
lehrt Marx, besteht nicht in derNegation(!), in der individuellenWeigerung,
nicht in der Isolierung der Einzelnen von der Gesellschaft, sondern im Gegenteil
in der Fähigkeit, sich mit den Bewegungsgesetzen(!) und Hochzielen(!) der
Menschheit zu identifizieren" (ebda, S. 77).
Ganz genauso hätte es auch ein Konservativer sagen können. Die traditionalistischen
Vertreter des "Realsozialismus" und der linken Sozialdemokratie entlarvten sich
so überdeutlich als Ruhe- und Ordnungs-Ideologen, die dem Ruf des abstrakten
Individuums nach Freiheit wieder nur die abstrakte Verstaatsbürgerlichung
als andere Seite des Geldes entgegenhalten konnten. Während in der Konsequenz
der authentischen Marxschen Theorie die Aufhebung des Staates mit der Aufhebung
der Lohnarbeit und des Geldes identisch ist, muß der Ideologe der "sozialistischen
Warenproduktion" und der "sozial-demokratischen" Staatlichkeit seine Zuflucht
zu den "Bewegungsgesetzen" und "Hochzielen" der Menschheit nehmen. Diese "Bewegungsgesetze",
die nichts anderes sind als die immanente Logik der Warenproduktion und die
Marx vor allem für abschaffenswert hielt, erzwingen ja gerade das Auseinanderfallen
des Individuums in abstraktePrivatheit und abstrakte Gesellschaftlichkeit, jenes
unaufgelöste Dilemma, das erst die Wolkengebilde der äußerlichen
"Ideale" und abstrakten "Hochziele der Menschheit" hervorbringt, denen sich
das empirische Individuum dann moralisch verdonnert "unterordnen" soll. Völlig
zu recht erntete dieser realsozialistisch-sozialdemokratische Staatsbürger-Marxismus
von seiten der Antiautoritären nichts als Hohn und Spott. Freilich blieb
damit das klassische Dilemma der in sich zerrissenen bürgerlichen Individualität
immer noch auch von der anderen Seite her unaufgelöst, denn die neue antiautoritäre
Bewegung konnte ebensowenig zu einer konkreten Kritik der Warenproduktion überhaupt
und damit der abstrakten, über das Geld vermittelten Vergesellschaftung
vorstoßen wie der Staatsbürger-Sozialismus in seinen traditionellen
Versionen. Die Bewegung von 1968 wurde so zum bloßen Durchlauferhitzer
für alle gesellschaftskritischen Emanzipations-Ideen der Vergangenheit,
die alle noch einmal im Eiltempo durchlaufen und verworfen wurden, den Antiautoritarismus
selbst eingeschlossen.
21
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4.
Um der antiautoritären
Bewegung gerecht zu werden, muß dennoch hervorgehoben werden, daß
sie(ebenso wie die Kritische Theorie selber) keineswegs einfach bruchlos und
platt die Stirnerschen Aussagen von 1842 wiederholte oder überhaupt schlicht
in der tradierten anarchistischen Ideologie aufgegangen wäre. Eigentlich
lassen sich zwei verschiedene und letztlich gegensätzliche Argumentations-
und Interpretationsstränge des neuen Antiautoritarismus erkennen, die damals
freilich ihren objektiven Gegensatz nicht wirklich austrugen. Der erste und
eigentlich wichtige Argumentationsstrang, der immer noch von großer Bedeutung
sein könnte, wurde von einer heute zumindest im Bewußtsein der deutschen
Linken völlig verschollenen Gruppe entwickelt, der "Situationistischen
Internationale". Wie der etwas seltsam anmutende Name schon sagt, schien diese
Strömung sich aus dem französischen Links-Existentialismus herzuleiten.
Der Begriff der "Situation" ist ein Zentralbegriff der gesamten Existenzphilosophie,
wie Bollnow zeigt; dieser Begriff meint,
"... daß die Situation nichts ist, in das der Mensch nur gelegentlich
und nur äußerlich gerät, sondern daß das menschliche Dasein
wesensmäßig ein Sein in einer Situation ist und daß der Mensch
der Verhaftetheit mit einer Situation niemals entfliehen kann. Er findet sich
in jedem Augenblick seines Lebens schon immer in eine Situation gestellt, die
er sich nicht ausgesucht hat, die auf seine Wünsche und Bedürfnisse
keine Rücksicht nimmt, sondern die ihn als etwas Fremdes und Feindliches
bedrängt" (O.F. Bollnow, Existenzphilosophie, Stuttgart/Berlin/ Köln/Mainz
1955, 9. Auflage 1984, S. 59f.).
In die Sprache eines linken Aktionismus übersetzt , konnte dies nur heißen,
eine Version der alten anarchistischen Idee der "direkten Aktion" zu propagieren,
sich unmittelbar-"situativ" gegen die objektiv gesetzten "Situationen" der kapitalistischen
Vergesellschaftung als Subjekt aufzulehnen. Recht viel mehr haben die sozialdemokratisch
regredierten Geschichtsschreiber des SDS, Fichter und Lönnendonker, über
diese Quelle der internationalen antiautoritären Bewegung auch nicht zu
berichten:
"Die resignative Grundstimmung in der damaligen europäischen Intelligenz
... verführte die Situationisten zu einer seltsamen Praxis: durch 'experimentelle
Verhaltensweisen' sollte in kollektiver Organisation eine 'einheitliche Umgebung'
als 'konstruiertes Moment des Lebens herbeigeführt werden" (Fichter/Lönnendonker,
Kleine Geschichte des SDS, Berlin 1977, S. 78f.).
Diese in der Tat seltsame Praxis-Vorstellung scheint bloß an alte anarchistische
und utopische "Kommune"-Experimente zu erinnern. Tatsächlich war es in
der BRD der spätere Kommunarde Dieter Kunzelmann, der sich schon 1959 mit
der Schwabinger Künstlergruppe "Spur" als deutsche Sektion dieser "Situationistischen
Internationale" konstituierte. Diese Gruppe um Kunzelmann wurde jedoch
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ihrer putschistischen und neo-anarchistischen Tendenzen wegen schon ein Jahr
später wieder aus der SI ausgeschlossen, was auf ein anderes wirkliches
Selbstverständnis dieser französischen Strömung schließen
läßt. Unter dem Namen der "Subversiven Aktion" (der zeitweise auch
Rudi Dutschke angehörte) wurde die Kunzelmann-Gruppe zu einem Bestandteil
der SDS-Geschichte und in der BRD zum Vorläufer des antiautoritären
Aktionismus.
Wesentlich interessanter aber sind die theoretischen Ansätze der Situationisten
selbst, die in der BRD kaum bekannt wurden, im Frankreich der Mai-Revolte jedoch
durchaus eine Rolle spielten. Im Sommer 1968 erschien die deutsche Übersetzung
eines Pamphlets der Situationisten, das vorher schon außer in Frankreich
auch in England, Italien und in den USA verbreitet worden war. Die darin ausgesprochenen
Gedanken wurden in der deutschen Bewegung kaum diskutiert, erscheinen jedoch
heute für eine kritische Aufarbeitung umso bedeutender. Die Antiautoritären
der SI wiederholten nämlich am allerwenigsten bloß die Grundideen
des alten anarchistischen Antiautoritarismus, sondern suchten diese mit der
Marxschen Kritik des Warenfetischismus zu vermitteln, also genau jener vom traditionellen
Marxismus ausgeblendeten Dimension der Marxschen Kritik des Kapitalverhältnisses.
Schon Sartre hatte in seinen von der Auseinandersetzung mit der Marxschen Theorie
inspirierten Spätschriften dieses Problem als mit der Existenzphilosophie
zu vermittelndes aufgegriffen, ohne dabei freilich über einen ersten Anlauf
hinauszukommen (vgl. Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft, Reinbek 1967).
Die Situationisten wollten, insofern über den "marxistischen" Sartre hinausgehend,
direkt die vom Warenfetisch konstituierte Entfremdung des Individuums von seiner
gesellschaftlichen Existenz angreifen und aufheben; eine ihrer öffentlichenParolen
lautete: "Nieder mit der Bildwelt und dem Warenfetischismus". Unter "Bildwelt"
verstanden sie das Dasein des Warenfetischs in der Kultur des kapitalistischen
Massenkonsums der fordistischen Epoche, ein weit über das in derBRD verbreitete
antiautoritäre Schlagwort vom "Konsumzwang" hinausgehender Ansatz, auch
wenn es heute vielleicht etwas naiv anmutet, dieses Stichwort einer wesentlichen
theoretischen Einsicht unvermittelt in die Parolenform zu gießen. In der
Situationisten-Broschüre heißt es:
"Der Faktenfetischismus verbirgt den archimedischen Punkt, die Details verschütten
das Ganze. Alles mögliche ist über diese Gesellschaft gesagt worden,
nur nicht das wirklich Charakteristische: Ihre Entwicklung zum Warenfetischismus
..." (Das Elend der Studenten, Berlin, Juni 1968, S. 5).
Von dieser Position aus konnte die traditionelle Linke grundsätzlich kritisiert
werden in einem tatsächlich neuen Sinne:
"Der scheinbare Kampf, den angeblich revolutionäre Organisationen heute
gegen die alte Welt führen, bleibt ganz innerhalb dieser alten Welt und
Mystifikationen verstrickt" (ebda, S. 20).
Diese, wenn auch allgemeine, Kennzeichnung trifft das Wesen der gesamten
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alten Arbeiterbewegung und des mit ihr verschmolzenen Marxismus; freilich ist
der Ton einer quasi "ontologischen" Kritik herauszuhören, geschuldet einer
noch dem Existentialismus verhafteten unhistorischen Betrachtungsweise, die
darauf hinausläuft, die alte Arbeiterbewegung abstrakt und ohne Bedingungsanalyse
ihrer wirklichen Leistungen bloß als "falsch" zu denunzieren. Wichtig
ist aber, daß die Situationisten die Immanenz des traditionellen Marxismus
nicht in der üblichen bloß politisch-revolutionaristischen Weise
kritisieren, sondern viel weitergehende, direkt gegen die Ware-Geld-Vergesellschaftung
gerichtete Forderungen stellen:
"Es ist nicht genug, ein abstraktes Votum für die Macht der Arbeiterräte
abzulegen, es gilt, ihre konkrete Bedeutung aufzuzeigen: die Aufhebung der Warenproduktion
und somit des Proletariats. Die Logik der Ware ist prima und ultima ratio der
gegenwärtigen Gesellschaften, sie ist die Basis, auf der sich diese Gesellschaften
totalitär-automatisch selbst steuern ... In der warenproduzierenden Welt
ist die Arbeit nicht auf ein frei gewähltes Ziel gerichtet, sondern von
außen bestimmt. Die Gesetze der Wirtschaft scheinen dabei den Charakter
von Naturgesetzen anzunehmen - denn ihre Macht beruht einzig darauf, daß
sie sich dem Bewußtsein jener entziehen, die nach ihnen handeln. Das Prinzip
der Warenproduktion ist der Ich-Verlust in der chaotischen und bewußtlosen
Produktion einer Welt, die ihren Produzenten völlig entgeht" (ebda, S.
23).
Die Bedeutung dieses einsamen Ansatzes einer radikalen Kritik der Warenform
überhaupt kann gar nicht genug gewürdigt werden, wenn man bedenkt,
daß in den seither vergangenen zwanzig Jahren das äußerste
an "Radikalismus" der Linken nie mehr gewesen ist als eben ein bloß "abstraktes
Votum für die Macht der Arbeiterräte", in der inzwischen selber alt
gewordenen neuen Linken ebenso wie heute (bestenfalls!) bei den Autonomen. Zwar
blieben diese wichtigen Aussagen der Situationisten innerhalb ihres neuen Ansatzes
zunächst selber noch abstrakt und konnten offenbar von den existentialistischen
Grundlagen aus nicht zu einer Konkretisierung der Marxschen Kritik der politischen
Ökonomie auf der Höhe der Zeit weiterentwickelt werden. Auch waren
die Situationisten noch nicht imstande, die kurzgeschlossene falsche Identität
von Theorie und unmittelbarer Praxis zu überwinden, wie sie den Aktionismus
der Antiautoritären überhaupt auszeichnet. Wenn von ihrem ganzen Ansatz
etwas im vergeßlichen Bewußtsein der Linken hängengeblieben
ist, dann vielleicht jener seither öfter zitierte Satz: "Die Revolutionen
des Proletariats werden Feste sein - oder sie sind von vornherein gescheitert".
Die in diesem aus dem Zusammenhang gerissenen Gedanken aufscheinende Assoziation
eines abstrakten, unvermittelten Hedonismus wird aber den Situationisten nicht
gerecht. Ihre radikale Kritik von Ware und Geld geht weit über den gewöhnlichen
Antiautoritarismus hinaus und bleibt auch heute noch jener "archimedische Punkt",
von dem aus allein die bestehenden Gesellschaftsordnungen aus den Angeln gehoben
werden können.
Gerade deshalb aber, weil dieser Ansatz eine auch heute erst noch zu gewinnende
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Zukunft revolutionärer Bewegung weit ausholend vorwegnahm, konnte er vom
gewöhnlichen Bewegungs-Bewußtsein 1968 nicht wirklich aufgenommen
und verstanden werden; die Situationisten selbst mußten schon Klage darüber
führen, daß ihre Ideen "von der gesamten französischen Links-Presse
gründlich kommentiert und gründlich mißverstanden" worden seien.
Erst recht gilt dies von der deutschen Bewegung, die sich sogar weitgehend die
Kommentierung ersparte. Stattdessen setzte sich eine Interpretation des Antiautoritarismus
durch, die eher der Frankfurter Kritischen Theorie mit ihren resignativ-reformistischen
Implikationen verhaftet blieb und mit der Radikalität der französischen
"existentialistischen" Erneuerungsversuche der Marxschen Theorie nicht Schritt
halten konnte. Zwar thematisierte auch die Kritische Theorie durchaus die Mystifikationen
der von ihr so genannten "Tauschgesellschaft"; ihre theoretische Kühnheit
machte jedoch, indem sie das unaufgelöste abstrakte Individuum beschwor
gegen dessen eigene gesellschaftliche Mystifikation, vor der selbst aufgestoßenen
Tür kehrt, um zurückzubiegen in die Begriffswelten des demokratischen
Fetischismus. Die Konkretion der Kritik erfaßte nicht die Warenform als
solche und direkt, sondern vielmehr lediglich die Sekundärformen ihrer
historischen Entwicklung. Hinsichtlich des "Zentralnervs" der bürgerlichen
Gesellschaft blieb die Kritische Theorie so letztlich vage und inkonsequent,
einerseits sich verflüchtigend in die kulturellen Sphären, andererseits
selber unkritisch mit den Fetisch-Kategorien der politischen Ökonomie operierend
(vgl. die einschlägigen Arbeiten zur Theorie ökonomischer Planung
von Friedrich Pollock, dem "politischen Ökonom" der Kritischen Theorie).
Tatsächlich gelang es daher der Frankfurter Schule trotz ihrer theoretischen
Verdienste weit weniger als zumindest einigen linken Existentialisten, die bloße
Beschwörung der unaufgelösten abstrakten Geld-Individualität
und damit den bürgerlichen Liberalismus hinter sich zu lassen.
Rolf Wiggershaus hat anhand der Theorie von Adorno wesentliche Prämissen
und Konsequenzen der Kritischen Theorie prägnant zusammengefaßt.
Danach geht es Marx angeblich um die "unbürgerliche Realisierung"der bürgerlichen
Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, um die Einlösung
der Versprechen von Aufklärung und Liberalismus. In einem quasi moralischen
oder eher metaphorischen Sinne mag dies auch gelten (vgl. die Marxsche Idee
vom "Reich der Freiheit"). Begrifflich-theoretisch jedoch und im Sinne revolutionärer
gesellschaftlicher Praxis haben Marx solche Intentionen durchaus fern gelegen;
ihm ging es NICHT um die "Verwirklichung", sondern um die AUFHEBUNG des Liberalismus
und der Aufklärung. Der bloße Verwirklichungsgedanke bleibt selber
im Gehäuse des Warenfetischismus und damit der abstrakten Geld-Subjektivität.
Die reformistische Implikation dieses Ansatzes wird am deutlichsten von Habermas
vertreten,der als ordinärer Aufklärer immer noch an dieser "Verwirklichung"
in den Grenzen der Legalität und der Gesetze derWarenproduktion herumbasteln
möchte. Auch bei Adorno resultiert der eher resignative Reformismus aus
der im Kern
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liberal bleibenden Verknüpfung von Markt-Ökonomie und Individualität
überhaupt; weil die Wertform der Ware als Grundform der Verdinglichung
völlig unaufgelöst und im Dunkeln bleibt, verpufft auch die Kritik
ihrer kulturellen Sekundärformen wirkungslos und es bleibt völlig
unerfindlich, wie sich ein kommunistisches gesellschaftliches Individuum durch
eine Aufhebung der Warenproduktion hindurch konstituieren soll. Stattdessen
richtet Adorno unter Umgehung des Zentralproblems seine Aufmerksamkeit, ganz
ähnlich wie Horkheimer, auf die vermeintlichen Transformationsformen des
Kapitalismus innerhalb der kapitalistischen Reproduktionsform selber; im "organisierten
Kapitalismus" und der modernen Staatsbürokratie sieht er die Zerstörung
der vom Warentausch konstituierten Individualität und Subjektivität,
und hauptsächlich auf die Klage darüber und die Analyse dieses Prozesses
richtet sich sein Interesse:
"Ohne Marktökonomie und patriarchalische Kleinfamilie kamen nach Adornos
Überzeugung nicht nur keine relativ selbständigen Unternehmer, sondern
überhaupt keine einigermaßen autonomen Menschen mehr zustande ...
Aufgrund solcher Urteile hielt Adorno nach anderen als liberalkapitalistischen
Bedingungen für die Entstehung von Gegenkräften gar nicht erst Ausschau
...Zerfall des Marktes, Zerfall der bürgerlichen Familie, Zerfall des Ichs
- hießen die Stichworte für Adornos Sicht der Genealogie der entsubjektivierten
Subjekte des herrschaftlich organisierten Kapitalismus" (R. Wiggershaus, Theodor
W. Adorno, München 1987, S. 75).
Natürlich war Adorno kein platter Liberaler im Sinne eines kapitalistischen
MarktIdeologen; ihm ging es ja im Gegenteil seinem Selbstverständnis nach
um die Aufhebung der kapitalistisch konstituierten gesellschaftlichen Reproduktion,
doch wird diese Intention durch seinen eigenen theoretischen Ansatz in eigentümlicher
Weise zurückgebogen. Seine crux besteht vor allem darin, daß er aufgrund
mangelnder konkreter Kritik der Warenform selber eigentlich keine andere Individualität
als die von dieser Form konstituierte in ihrer Abstraktheit zu benennen vermag;
der Aufhebungsgedanke gerät deshalb ins Stocken, wird nicht mehr weitergedacht
und erschöpft sich schließlich in einem falsch gestellten "Bedingungs"-Problem:
die vom (als vergehend angenommenen) "liberalen Kapitalismus" konstituierte
Subjektivität soll die unerläßliche Bedingung für eine
radikale Ablehnung sein, die selber eine black box und theoretisch leere bloße
Intention bleibt. Paradoxerweise ergibt sich daraus fast zwanglos die zahnlose
Parole einer RETTUNG jenes "liberalen Kapitalismus" als vermeintliche Voraussetzung
seiner Aufhebung. Ganz davon abgesehen, daß sich hier ein dem bloßen
"Verwirklichungs"-Gedanken geschuldeter Zirkelschluß andeutet, legt diese
Auffassung schon die Tendenz nahe, in der Praxis nur noch den defensiven Kampf
um die bloßen "Bedingungen" von Emanzipation zu führen, das Ziel
selber aber gerade in seinem entscheidenden Inhalt leer und für die warenförmig-immanente
Interpretation offenzulassen. Nicht von ungefähr blitzt in diesem Zusammenhang
eine
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überraschende Assoziation auf, nämlich die Erinnerung an den alten
Revisionisten Bernstein, dem "die Bewegung alles und das Ziel nichts" war. Die
seither praktisch gewordene Kompatibilität von Kritischer Theorie und Sozialdemokratismus
wird so schon vom theoretischen Ansatz her verständlich. In der scheinbaren
Radikalität der auf diesen Argumentationsstrang sich beziehenden antiautoritären
Bewegung war daher von Anfang an der Keim des Umschlagens in platten Reformismus
angelegt.
Das Dilemma der Bewegung ihren "theoretischen Vätern" gegenüber bestand
darin, daß sie deren reformistisch-demokratische Zurück-Haltung nicht
vom Inhalt der Theorie selber ausgehend zu kritisieren vermochte, sondern nur
auf eigentümlich formale Weise, als bloße Kritik eines angeblich
mangelnden "Praxis-Willens". Diese Eindimensionalität der Bewegungs-Kritik
an den "professoralen Autoritäten" wie Horkheimer, Adorno und Habermas,
die angesichts dieser ungerufenen Geister abwehrend die Hände hoben, hat
viel zum stupiden Praxis-Fetischismus beigetragen, der die revolutionäre
Linke immer wieder in die Demoralisierung getrieben hat. Dieses Dilemma läßt
sich schon am strategischen Ansatz Rudi Dutschkes aufzeigen, der zentralen Symbolfigur
jener Bewegung. Der "lange Marsch durch die Institutionen", der "Prozeß
der Veränderung" ist nämlich auf zweierlei Weise zu interpretieren,
und eben darin steckt eine unbewußte Doppelzüngigkeit der Bewegung
selbst: entweder es handelt sich wirklich um einen Bewußtwerdungsprozeß
für die Revolution, dann aber wäre es eine Bewußtwerdung gegen
das Geld, gegen die warenförmige Vergesellschaftung überhaupt (also
im Sinne von Marx und 1968 der Situationisten, auch wenn diese die Intention
nicht weitertragen konnten) - oder es handelt sich um eine "demokratische Erneuerung"
der Warenproduktion selbst, d.h. des Kapitalismus. Ein drittes kann es nicht
geben. Auf den Punkt gebracht, formulierte Rudi Dutschke zwar klar:
"Das Problem der Reform stellt sich gar nicht mehr. Reformen, wie sie sich durchsetzen
können, sind nichts anderes als die Verbesserung der Gefängniszellen,
reproduzieren die bestehende Wirklichkeit..." (R. Dutschke, Mein langer Marsch,
Reinbek 1980, S. 16).
Aber der Inhalt blieb unbestimmt, der direkte Angriff auf Warenproduktion und
damit Geld als kapitalistische Vergesellschaftungsform (und nur in dieser Zuspitzung
wäre auch eine revolutionäre Kritik des "Realsozialismus" zu denken)
blieb unausgesprochen, Dutschke somit demokratisch und also warenfetischistisch
interpretierbar. Die noch so persönlich glaubwürdige Emphase einer
Befreiung des Individuums mußte in diesem begrifflichen Nebel bürgerlich
einvernehmbar bleiben, wenn nicht in der damaligen Situation, so doch historisch.
Dutschke selber hat sich schließlich dem Staatsbürger-Verein der
Grünen angeschlossen, und sein früher Tod ließ diese Entscheidung
undementiert stehen. Schon der lebende Dutschke auf dem Höhepunkt der Bewegung
wurde gelegentlich auch staatsbürgerlich-integrationistisch eingeklagt
und einvernommen, eine Auffassung, die er
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damals noch vehement zurückgewiesen hätte:
"Daß es diesen Rudi Dutschke gibt , daß er ernst genommen werden
muß, resultiert aus dem augenblicklichen Zustand unserer parlamentarischen
Demokratie und der sie tragenden Parteien. Wenn die Dutschkes - und diesmal
nicht im abwertenden Sinn - zu der notwendigen Selbstbesinnung in Staat und
Parteien, zu einer Re-Demokratisierung anstoßen, dann werden sie die Gesellschaft
stärken, die sie zu überwinden trachten. Ein Effekt, der nicht für
Dutschke, aber für die Mehrheit wünschenswert ist" (Stuttgarter Nachrichten
vom 5.12.1967,zit. nach: Mein langer Marsch, a.a.O., S. 55).
Der tote Rudi Dutschke wird von der Mehrheit seiner damaligen Mitstreiter NUR
noch auf dieser Schiene interpretiert, die warenlogisch-demokratisch immanente
Seite der Bewegung von 1968 zur "einzig wahren" erklärt und damit das andere,
weitertragende, über die bloß demokratische Immanenz hinausschießende
Moment und das Selbst des Revolutionärs geradezu hündisch verleugnet.
Wenn diese Herrschaften heute überhaupt noch etwas wollen, so bestenfalls
eine der "Machbarkeit" zugerechnete "Verbesserung der Gefängniszellen",
wie sie der Dutschke von 1968 so verabscheut hat.
Noch besser und exemplarischer als an Dutschke läßt sich die gesellschaftliche
Ambivalenz der antiautoritären Bewegung und ihrer Ideologie an einem anderen
Wortführer aufzeigen, OskarNegt, der revolutionärer Umtriebe noch
nie bezichtigt werden konnte und das Mitgliedsbuch der SPD vermutlich immer
mit sich herumgeschleppt hat. In seiner vielfach nachgedruckten Rede "Politik
und Protest" vom Oktober 1967 spricht er zwar gelegentlich von "verdinglichten
Herrschaftsverhältnissen", aber diese geronnene Phrase hat eigentlich keine
spezifisch ausmachbare Bedeutung mehr und ist weit von der direkten begrifflichen
Zuspitzung der Situationisten entfernt. Stattdessen argumentiert Negt hauptsächlich
in einem vergleichsweise weit zurückgenommenen und verkürzten Bezugsrahmen
der deutschen Nachkriegsgeschichte; statt des historisch sich totalisierenden
Warenfetischismus wird als negative und eigentlich zu bekämpfende Struktur
lediglich eine bestimmte Binnen-Bewegung der jüngsten Entwicklungsstufe
kapitalistischer Warenproduktion im Sinne des Begriffs eines "autoritärenStaats"
von Horkheimer und Adorno wahrgenommen. Es handle sich um
"... die Stabilisierung einer autoritären Leistungsgesellschaft, die im
Interesse monopolistischer und staatlicher Entscheidungsbefugnisse die liberale
Sphäre politischer Diskussionen, parlamentarischer Kontrollen, des langwierigen
Aushandelns von Kompromissen und der temporären Ausgleiche widersprüchlicher
Interessen als Inbegriff unnötiger Reibungsverluste in einem funktionierenden
gesellschaftlichen Gesamtbetrieb schrittweise zu eliminieren strebt" (O. Negt,
Politik und Protest, in: Strategie- und Organisationsdebatte, Hannover o.J.,
S. 3).
Ziemlich ungeschminkt deutet sich hier eine keineswegs bloß taktisch zu
verstehende Auffangposition an, deren eigenes substantielles Streben eher dahin
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geht, die "liberale Sphäre parlamentarischer Kontrollen" zu beschwören
und die (letztlich "sozialpartnerschaftlichen") "Ausgleiche widersprüchlicher
Interessen" im Sinne des ordinärsten Gewerkschaftslegalismus als einzig
klar formulierbare Zielsetzung zu benennen. Negt konzediert zwar gleichzeitig
der Protestbewegung, daß sie mit "einem totalen Anspruch der Gesellschaftsveränderung"
(ebda) auftrete, aber die eigentümliche Inhaltslosigkeit dieser Zuordnung
verweist schon darauf, daß es mit der Totalität dieses Anspruchs
so weit nicht sein konnte. Dies wird noch deutlicher, wenn er von den antiautoritären
Gruppen sagt, daß sie
"... in politisch tätiger Reflexion Formen der organisatorischen Selbsttätigkeit
entwicklen" und damit "nicht nur die verfassungsrechtlich(!) immanenten Ansprüche
auf demokratische Solidarität, die der Grundrechtskatalog(!) enthält",
realisieren, sondern gleichzeitig "... autonome Zonen des praktischen Widerstands"
stabilisieren würden "gegen eine Ordnung, die auf den Zwang zur Legitimation
nur noch mit Zwang und Gewalt als Legitimation reagieren kann" (ebda, S. 13f.).
Wären die vage bestimmten "autonomen Zonen des Widerstands" wirklich als
radikal gesellschaftsverändernd darstellbar, so wären sie natürlich
gerade der Bruch mit bloß "verfassungsrechtlich immanenten" Ansprüchen
und könnten mit solchen keineswegs in der Logik eines "nicht nur - sondern
auch" verknüpft werden. Diese Doppelzüngigkeit Negts läßt
nicht nur den kommenden professoralen deutschen Spießbürger unter
der Revoluzzermütze hervorlugen, der sich in seiner argumentativen Legitimierung
schon nach rückwärts absichert lange vor den Berufsverboten, sondern
sie signalisiert eben jene unbewußte Doppelzüngigkeit der Bewegung
selbst. Ihr wirklicher empirischer Ausgangspunkt war ja tatsächlich bloß
die "Verteidigung der Demokratie" und der bürgerlichen Verfassung gewesen
gegen Notstandsgesetze, große Koalition und "technokratische" Formierungs-Tendenzen.
Die Eigendynamik der Bewegung hatte diese formal auf revolutionäre Positionen
geführt, deren Inhalte aber nicht näher bestimmt und konkretisiert
werden konnten. Tatsächlich machte sich denn auch die vermeintliche Radikalität
mehr an der bloßen FORM der "Spielregelverletzung", des Bruchs akademischer
Hausordnungen usw. geltend als an einem radikalen, gesellschaftsverändernden
Inhalt. Der Inhalt blieb in Wahrheit letztlich dem bloß demokratischen
und daher warenfetischistischen, kapitalistisch immanent bleibenden Ausgangspunkt
der Bewegung verhaftet, von dem aus sie erst ihre relative Massenbasis gewonnen
hatte. Dies wird wiederum exemplarisch am Schluß der Rede Negts deutlich,
wenn er sagt:
"Eine durch die Dialektik von antiinstitutionellen und institutionellen Elementen
konstituierte Praxis, welche die Bedingungen(!) für eine sozialistische
Überwindung der kapitalistischen Klassengesellschaft schafft, wird in dem
Maße die sublime in manifeste Gewalt des Herrschaftssystems verwandeln,
wie revolutionärdemokratische(!) Aktivität eine wirkliche Massenbasis
gewinnt. Erst durch eine solche Erweiterung hätte sich freilich der politische
Gehalt des Protestes gesellschaftlich konkretisiert; die manifeste Gewalt des
Staates würde sich nicht
29
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mehr ausschließlich gegen Studenten und Jugendliche richten können,
sondern wäre konfrontiert mit Strategien organisierter Gegengewalt, die
alle Demokraten dieser Gesellschaft(!!) in einer Einheitsfront des Widerstandes
zusammenschließt" (ebda, S . 15f.).
Hier werden die demokratischen Eselsohren nicht nur in ihrer vollen Pracht sichtbar,
Attribute, mit denen Negt heute mehr denn je üppig gesegnet ist, sondern
es zeigt sich schon die Zurücknahme des Kampfes in einen solchen um bloße
"Bedingungen", wie schon bei Adorno angedeutet. In Bezug auf eine reale gesellschaftliche
Bewegung wird diese Bestimmung aber umso fragwürdiger und nebulöser.
Denn "Bedingungen" im Sinne etwa einer Beeinträchtigung des realen gesellschaftlichen
Reproduktionsprozesses können durch die bloß subjektive Anstrengung
noch dazu einer relativ begrenzten Jugend- und Studentenbewegung gar nicht "geschaffen"
werden; sollen jedoch "Bedingungen" des Bewußtseins im "kulturrevolutionären"
Sinne oder im Sinne der Verbreitung theoretischer Einsicht gemeint sein, so
wäre dies ja gerade die Proklamation, Entfaltung und Konkretisierung revolutionärer
Inhalte selber und nicht ein schwächliches Geltendmachen bürgerlich
immanenter Forderungen und Losungen des bloß demokratischen Bewußtseins.
Die "Gemeinsamkeit der Demokraten", gar "aller Demokraten dieser Gesellschaft"
bloß in einer vermeintlich "wahren", alternativen Weise zu beschwören,
das PRINZIP der bürgerlichen Gesellschaft gegen seine empirische Realität
anrufen, statt mit dem revolutionären Inhalt radikaler Kritik derWarenform
auch dieses ideologische Prinzip aufzusprengen, dies muß von vornherein
eine Manifestation bürgerlicher Immanenz bleiben und alle scheinradikalen
Töne Lügen strafen. Die demokratische Eselei, die völlig innerhalb
des Gehäuses der warenfetischistischen Abstraktionen verbleibt, ist aber
nur die notwendige Konsequenz eines verkürzten theoretischen Ansatzes.
Weil in Wahrheit der eigene revolutionäre Inhalt fehlt, müssen die
längst vermoderten Ideale der revolutionären Bourgeoisie des 18. Jahrhunderts
bis zum Erbrechen wiedergekäut werden, während die vermeintliche Radikalität
sich an nichts als der FORM festmachen kann - und gerade deshalb die rein formale
"GEWALTFRAGE" zum ewig wiederholten Dreh-und Angelpunkt machen, eigentlich inhaltslos
oder mit absolut nicht militanten bürgerlichen Inhalten in die stilisierte
Gebärde der Militanz von "Strategien organisierter Gegengewalt" verfallen
muß.
Negt will heute die eigene Mitverantwortung für den destruktiven und selbstmörderischen
Weg der RAF nicht mehr wahrhaben; gerade aus dem skizzierten Zusammenhang heraus
kann sie ihm präsentiert werden. Die Kämpfer der RAF waren bloß
moralisch konsequenter als die windelweichen Uni-Karrieristen vom Schlage Negts,
die dem eigenen Nimbus zum Trotz in Wahrheit niemals inhaltlich radikal waren,
schon damals nicht. So ist es auch nicht als Ausdruck eines theoretischen Niedergangs
zu werten, wenn Oskar Negt heute sein völliges Unverständnis den zentralen
Kategorien der Marxschen Kritik der Warenproduktion
30
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gegenüber nach 20 Jahren ungeniert in aller Offenheit dokumentiert, so
geschehen beim "Prima-Klima-Kongreß" der alten SDS-Mitglieder im November
1986:
"Es ist leider so, daß viele ... nur die Wertformkapitel gelesen haben
vom Kapital, das sind die schwierigsten, dunkelsten und wahrscheinlich unwesentlichsten
- wahrscheinlich. Ja, da gibts vielleicht Proteste, da will ich mich auch nicht
festlegen ... Es ist eben nicht faktisch so wesentlich für mich, nicht,
also wie die Wertformen ... oder nicht" (Prima-Klima-Protokolle, Hamburg 1987,
S. 165).
Dieses begriffslose Gestammel sagt eigentlich schon alles. Es handelt sich nicht
um einen Abstieg, weil das theoretische Niveau nie höher gewesen ist. Nur
sind heute keine scheinradikalen Phrasen mehr nötig; satt und gesettlet
im Schoß des Faktischen der kapitalistischen Vergesellschaftung, dessen
normative Kraft endlich widerstandslos hingenommen werden darf, kann ein Negt
sich heute breimäulig demokratisch salbadernd rakeln im Kreis der zum "Realismus"
entpuppten Seinen. Die Scham ist eben vorbei. Die demokratische Interpretation
der antiautoritären Bewegung, die sich von Beginn an gegen alle weitergehenden
Optionen vor allem der französischen Situationisten durchgesetzt hatte,
mußte ihrer inneren Logik nach vor den Konsequenzen der unaufgelösten
Geld-Subjektivität der warenfetischistischen Gesellschaft kapitulieren
und sich schließlich offen "realpolitisch" zur kapitalistischen Staatsbürgerlichkeit
bekennen.
5.
Es zeigt sich so, daß
der Antiautoritarismus von 1968, allen verständnislosen Vorhaltungen des
traditionellen Marxismus zum Trotz, seine Verdienste besaß, zumindest
für einen historischen Augenblick eine bis heute nicht wieder erkannte
Widerspruchsebene aufscheinen ließ und gerade in seiner gesellschaftlichen
Ambivalenz ein notwendiges Entwicklungsmoment darstellte, daß er aber
ebensowenig wie jener Marxismus dazu fähig war, die bürgerliche Hülle
der unaufgearbeiteten Geschichte sozialer Emanzipation aufzubrechen. Die äußerste
Abstraktion des Individuums, das den Grund seiner gesellschaftlichen Konstituiertheit
nicht erreicht und sich als die Monade, die es ist, gegen seine eigene ihm äußerliche
institutionelle Gesellschaftlichkeit bloß formal auflehnt, kann nur einen
Scheinradikalismus erzeugen, der die äußersten Konsequenzen des bürgerlichen
Geldsubjekts sozusagen pantomimisch darstellt, aber nicht aufhebt, weder theoretisch
(was die Voraussetzung wäre) noch praktisch. Die inhaltliche Leere des
Antiautoritarismus führt deshalb mit logischer Notwendigkeit zurück
in den Schoß jener bürgerlichen Welt, die zu besiegen er mit Don
Quichottischer Emphase in stetiger Metamorphose seiner Erscheinungsform auf
allen Entwicklungsstufen kapitalistischer Vergesellschaftung immer von neuem
ausgezogen ist.
31
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Die friedlich-schafsmäßige Rückkehr in den bürgerlichen
Heimatpferch oder, wie es mit Thomas Schmid, ein anderer Ex-Scheinradikaler,
etwas vornehmer ausdrückt, die "Heimkehr der Linken in ihr Land", ging
zuerst auf leisen Pfoten vor sich und schien zunächst oberflächlich
sogar entgegengesetzten Charakter zu tragen. Der Antiautoritarismus hatte dem
SDS dazu verholfen, die ererbte bürgerliche Organisationsform eines sozialdemokratischen
Kleintierzuchtvereins in die Luft zu sprengen; auch dies kann nur als Verdienst
gerechnet werden. Freilich hat die bloß negative "Auflösung in die
Bewegung" mangels Inhalt nicht die Organisationsfrage der radikalen Linken lösen
können; hinter der vermeintlichen Organisationsfrage verbarg sich in Wirklichkeit
bereits die bürgerliche Regression. Praktisch zeigte sich dies im raschen
und kurzlebigen Aufstieg der schaurig byzantinischen, am traditionell bolschewistischen
Parteimodell orientierten K-Sekten. Deren Mythologisierung einer empirisch bereits
abgestorbenen Form des Proletariats und des Klassenkampfs der 20erJahre, als
die "revolutionäre Welt noch in Ordnung war", signalisierte keineswegs,
wie ihre Mitglieder sich einbildeten, einen chemisch reinen "Klassenverrat am
Kleinbürgertum" und "Übergang zur Arbeiterklasse", sondern konnte
nur Zwischenstation sein auf dem Weg zurück in den bürgerlichen Heimathafen.
Daß auf jeder Stufe der Bewegung einige Leute hängengeblieben sind
und wir heute noch alle ihre transitorischen Erscheinungen empirisch im Taschenformat
wahrnehmen können, ändert nichts am Generalgang als solchem. Der historisch
kostümierte "proletarische" Organisationsfetischismus hatte in Wahrheit
vor allem die Funktion, mit seinen rigiden Denkverboten und Selbstgeißelungen
der "Intellektuellen" (wozu sich jeder "revolutionäre" Germanistikstudent
im 1. Semester zählen durfte und mußte) jede noch übrige Regung
des "überschießenden", an die radikale Kritik des Warenfetischismus
rührenden Moments der Bewegung abzuwürgen und auszulöschen. Nicht
der endlich erreichte Gegenpol der bürgerlichen Welt war jener traditionelle
Marxismus in seiner verklärten "revolutionären" Gestalt, die nun bloß
noch dogmatisch gegen ihre eigenen kläglichen und als "revisionistisch"
denunzierten Verfallsformen ins Feld geführt wurde, sondern die insgeheim
verwandte Seele, die bewußtlos schon gefühlt wurde. Der wahre Inhalt
jener vorgeblichen Organisations- und Klassenfrage enthüllte sich dann
Ende der 70er Jahre in der beschleunigten Metamorphose zum grünen Kleintierzuchtverein
mit allen Attributen der bürgerlichen Rechts- und Politikform; bis hin
zur Lächerlichkeit ein grün angestrichenes Revival des alten Sozialdemokratismus
unter neuen Bedingungen.
Was bleibt, sind jene "neuen Bedingungen" selbst; und die antiautoritäre
Bewegung kann sich mit Recht sagen, daß sie den Kapitalismus nicht nur
in der BRD hat "modernisieren" helfen im Sinne der negativen, abstrakten Vollvergesellschaftung
in der Warenform. Wenn sich die Veteranen diesen Beitrag freilich heute unter
dem Namen einer "Demokratisierung" der Gesellschaft, einer selbst durch die
"Wende" nicht wieder völlig zurücknehmbaren "Erweiterung der Rechte
32
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und Freiheiten" etc. als Orden an die Brust heften wollen, dann verzerren sie
den wahren Inhalt dieser Entwicklung bis zur Unkenntlichkeit. Schon die These
der Kritischen Theorie vom "Autoritären Staat" nahm die historische Tendenz
sehr eindimensional wahr, auch wenn sie noch um die Doppelbödigkeit der
Begriffe in der fetischistischen Warenform wußte. Erweiterung der staatlichen
Repression und der Staatsintervention einerseits und Erweiterung der formalen
"Freiheiten des Individuums" andererseits schließen sich nicht aus, sondern
vielmehr ein. Die losgelassene Dynamik der abstrakten Warenform und der vollgültigen
Herausbildung des abstrakten Menschen ist es ja, die beides als Identität
zusammenschließt. Die Individuen werden verstaatlicht in der Form der
abstrakten Allgemeinheit, gerade durch denselben Prozeß aber "befreit"
als die inhaltslosen, tendenziell entmenschten Monaden des Geldes. Es zeugt
von grenzenloser theoretischer und politischer Naivität, die etatistischen
Momente dieses Prozesses mißzuverstehen als eine "Rückkehr des Obrigkeitsstaates"
(was selbst Adorno gelegentlich nicht unterlassen konnte). Die staatliche Repressionsmaschine,
ihr tatsächlich ungeheuer erweiterter Apparat, prügelt auf die Individuen
in manifesten wie subtilen Formen insofern ein, als sie durch die Widersprüche
der totalen Warenform an ihrem eigenen Leib und Leben in ausweglose Lagen versetzt
und buchstäblich verrückt werden; aber diese Repression hat nicht
im geringsten mehr die Funktion des halbfeudalen traditionellen Staatsapparats,
gewaltsam traditionelle Hierarchien und Autoritätsstrukturen aufrechtzuerhalten.
Ganz im Gegenteil, die Individuen sollen sich der freien Bewegung des "automatischen
Subjekts" (Marx), der endlich totalen Wertform gesellschaftlicher Reproduktion
und damit des Geldes, ohne jede weitere Beschränkung adaptieren können.
Soweit traditionalistische Reststrukturen und autoritäre Bewußtseinsformen
dem freien Flottieren der Geldmonaden noch im Wege standen, mußten sie
weggeschmolzen werden; und gerade in dieser Hinsicht hat die antiautoritäre
Bewegung ihre bleibenden "Erfolge" errungen.
Der "liberale" Kapitalismus des 19. Jahrhunderts war nicht, wie die Kritische
Theorie suggeriert, der "eigentliche" Kapitalismus des liberalen Individuums,
das noch eine Chance zur "wahren", sozial verallgemeinernden Emanzipation gehabt
hätte, sondern in Wirklichkeit der noch halbfeudale, bloß als gesellschaftlicher
Teilsektor existierende, noch bei weitem unfertige und unentwickelte Kapitalismus;
das damalige liberale Individuum nicht die vollentwickelte, sondern erst die
embryonale Vorform abstrakter Individualität. Der fordistische Voll- oder
Totalkapitalismus ist demzufolge auch nicht eine Transzendierung des Kapitalverhältnisses
auf seinen eigenen Grundlagen, wie Horkheimer und Adorno meinten, sondern im
Gegenteil erst jene Vollendung des Kapitalismus, deren Blüte sie in der
Vergangenheit wähnen. Die von ihnen beschriebenen Sekundärformen des
Warenfetischs sind in ihrer Perversität nicht Resultat einer falschen Aufhebung
der Ware, sondern im Gegenteil erst ihr Zusichkommen, die Enthüllung ihrer
wahren
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Natur und logischen Konsequnz an ihr selber. Jedes Geltendmachen der unaufgelösten
abstrakten Subjektivität gegen die Institutionen der abstrakten Allgemeinheit
als vermeintliche Träger autoritärer Traditionen mußte so nur
umso tiefer in den Fetischismus der Warenform verstricken, was Adorno immerhin
geahnt hat. Seine Weigerung, sich der "Praxis"-Zumutung der Antiautoritären
zu beugen, erscheint so in milderem Licht. Denn in der Tat: jede Teilverwirklichung
der antiautoritären emanzipatorischen Ideen in den Formen der bürgerlichen
Gesellschaft hat sie praktisch in ihr Gegenteil verkehrt. Die partielle Verwirklichung
"befreiter Sexualität" mußte notwendig in die pornografische Industrialisierung
des Sexuellen münden. Denn "Demokratisierung" der Sexualität ist unmittelbar
identisch mit ihrer pornografischen Kommerzialisierung, weil Warenform und Demokratie
identisch sind. Wäre es anders, so hätte die "Demokratisierungs"-Interpretation
der antiautoritären Bewegung unmittelbar in eine Konfrontation mit der
Warenform führen müssen statt in deren Affirmation.
Daß die antiautoritäre Bewegung in ihrem Fortgang nicht bloß
zur objektiven gesellschaftlichen Affirmation und weiteren historischen Freisetzung
der Warenform beigetragen hat, sondern auch in ihrem subjektiven Bewußtsein
davon affiziert wurde, zeigt auch ihre lebensreformerische Verfallsform in Gestalt
der Alternativen, deren vielfältige Projekte bis heute als ein gesellschaftliches
Standbein der Grünen anzusehen sind. Die Alternativ-Projekte sind von Anfang
an eine Zurücknahme des gesellschaftlichen Anspruchs gewesen, ein faktisches
Aufgeben des zum moralischen Ornament verkommenden politisch-gesamtgesellschaftlichen
Bezugs, in dessen Zusammenhang allein die Gesellschaftlichkeit des Individuellen
und seiner Ansprüche thematisiert werden könnte. "Kommunen", herunterdefiniert
zu "Wohngemeinschaften", Druckereien, Verlage, Kneipen, Buchläden, kulturelle
Projekte usw. wurden von der zerfallenden politischen Bewegung entkoppelt und
mit größeren oder kleineren Reibungsverlusten in "Gesehäftsunternehmen"
verwandelt; damit aber auch aus einer logistischen Funktion für einen übergeordneten
gesellschaftlichen Zweck in einen Selbstzweck abstrakter Privatheit, der die
zuerst gesamtgesellschaftlich gedachte Transzendenz ideologisch in seinen Innenraum
zurückbannte: Aus der Politisierung des Privaten wurde die Privatisierung
des Politischen, aus der Emphase der revolutionären Selbstbestimmung der
kleinere Laut lebensreformerischer "Selbstverwaltung" im bloßen Binnenraum
alternativer Projekte. Der schwächliche Widerschein des gesellschaftlichen
Anspruchs in der Ausdehnung zuerst bloß logistischer Projekte einer Bewegung
auf lebensreformerische Pseudo-Produktion (alternative Bäckereien und andere
Handwerksbetriebe, Landwirtschaft auf der "verbrannten Erde" aufgegebener bäuerlicher
Kulturen bis hin zu den Modellen keynesianisch staatssubventionierter "Belegschaftsbetriebe")
und deren staatlich durchwobene "Vernetzung" signalisierte nicht bloß
einen Wandel der "Revolte"-Subjektivität, sondern längst deren Preisgabe
im bedingungslosen Verzicht auf die Revolutionierung der wirklichen gesellschaft-
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lichen Produktion schon nach wenigen Jahren kurzatmiger Versuche. Es zeugt von
theoretischer Stupidität, wenn in anbiedernder Affirmation die sich enthüllende
bürgerliche Abstraktheit des Bewegungs-Subjekts noch in seinen direkt warenförmigen
Zerfallsgestalten gefeiert wird:
"Heute, wo Reflexivität als Lebensprinzip selbst bedroht ist, zeichnen
sich auch soziale Bewegungen etwa in Form von Alternativbewegungen ab, die unmittelbar(!)
den Kampf um technisch bedrohte Lebensformen, schließlich die Chancen
des SELBSTSEINS - wie immer auch widersprüchlich - aufnehmen" (Claus Daniel,
Theorien der Subjektivität, Frankfurt/New York 1981, S. 125, Hervorheb.
R.K.).
Die alternative Aufnahme landwirtschaftliclher Käserei zog offenbar die
theoretische nach sich. "Wie immer auch widersprüchlich" - nach der gesellschaftlichen
Form der proklamierten Subjektivität wird in solchen wurstigen Statements
ebensowenig mehr gefragt wie nach ihrem Inhalt. In der gesellschaftlich totalisierten
Warenproduktion aber ist die leere Form selber der Inhalt als Selbstzweck, dem
sich niemand entziehen kann, der diese Form nicht als solche fundamental kritisiert.
Leichter noch läßt sich der Tiger reiten als die gesellschaftlich
längst entfesselte Geldform als solche für "gute Zwecke" mobilisieren.
Im falschen Leben gibt es tatsächlich kein richtiges; das "Selbstsein"
in der totalisierten Warenform kann immer nur die bedingungslose Hingabe des
abstrakten Subjekts an die objektive Selbstbewegung dieser Form sein. Längst
ist auch die Alternativbewegung als eine Metamorphose des frühen Antiautoritarismus
auf ihrem eigenen Boden von der Gefräßigkeit der gesellschaftlichen
Wertform ereilt worden, nicht nur im Treppenwitz der Bank-Gründung, sondern
überhaupt in der unvermeidlichen marktwirtschaftlichen "Professionalisierung",
in der die objektiven Gesetze der Warenform die "Selbstverwaltungs"-Illusion
genauso blamieren müssen wie jene längst bankrotte "Arbeiterselbsverwaltung"
in der kapitalistischen Warenwirtschaft Jugoslawiens. Und schon deutet sich
eine neue, letzte Metamorphose des Antiautoritarismus an, die im Verbund mit
jener "Professionalisierung" den gesamtgesellschaftlichen Bezug wiederherstellt,
jetzt aber in offen antisozialistischer ideologischer Militanz als Management-Perspektive
eines "ökologischen Kapitalismus". Die grünen "Markt-Ökologen"
bilden nur ein kleines Segment dieser Tendenz, die ihren Schwerpunkt eher in
der "ökosozialen" Perspektivbildung kapitalistischer Sozialtechnologie
hat. Der spätfordistische Aufstieg der Sozialarbeit in den 70er Jahren
war ja von Anfang an personell und ideologisch eng verwoben mit der antiautoritären
Bewegung und deren Durchgangsstadien, die Alternativ-Projekte eingeschlossen.
Im Kontext kommunaler Sozialarbeit aber und ihrer "theoretischen" Reflexion
zeitigt der "Professionalisierungs"-Schub offenbar ungeahnte Resultate:
"Die hochentwickelte Industrie verlangt selber und für ihre Zwecke nach
sozialen Innovationen ... Jeder ist sein eigener Manager ... Der neue Stil der
Betriebsführung ist 'a networking style of management' ..., in dem jeder
zu einer
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Ressource für jeden(!) ... wird. Unternehmen pflegen ihre Humanressourcen(!),
indem sie sich sozial und auf lebensweltliche Bedürfnisse ihrer Beschäftigten
hin orientieren. Betriebliche Planung des Arbeitslebens und persönliche
Lebensplanung, Arbeitsstil und Lebensstil, passen sich flexibel einander an(!).
Andererseits erfolgt vielerorts die Gründung alternativer Wirtschaftsbetriebe
aus sozialen Gründen: Anders leben - anders arbeiten ... Die 'neue Armut'
sollte uns nicht den Blick verstellen(!) auf einen der klassischen Verelendungsthese
diametral entgegenlaufenden Prozeß der Wertsteigerung der Humanressourcen(!).
Der einzelne Mensch kann im industrialisierten Westen mehr aus sich machen(!)
und mit weniger Aufwand mehr leisten als je zuvor ... Humanressourcen sind das
Pfund, mit dem sich wuchern läßt(!). Die zukünftige Rolle der
Sozialarbeit wird wohl weniger von ihrer fortdauernden Verpflichtung, den Notleidenden
beizustehen, bestimmt sein als von ihrer Effektivität bei der Erschließung
sozialer Ressourcen(!) ... Die Erschließung erfolgt einesteils in direkter
Verbindung von Sozialarbeit und Wirtschaftstätigkeit ... Der Sektor der
alternativen Ökonomie hat in der Bundesrepublik immerhin bereits 150 000
und mehr Beschäftigte ... Auf die Dauer müssen überall Rentabilität
und Wohlfahrt übereinkommen(!), wirtschaftlicher und sozialerErtrag in
ein Gleichgewicht gebracht werden. Damit das nicht über die Köpfe
der Menschen hinweg (also wieder 'unsozial') geschieht, besteht eine zunehmend
wichtige Aufgabe der Sozialarbeit darin, außerhalb und innerhalb von Betrieben
zu eigener produktiver Gestaltung ihrer Lebensweise anzuhalten und dazu, sozial
aktiv an den Prozessen der Wirtschaft teilzunehmen. Das ist der Sinn von autogestion,
unter welchem Begriff die Franzosen den Zusammenhang von Selbstbestimmung, Selbstverwaltung
und Selbstbewirtschaftung(!!) diskutieren ..." (Wolf Rainer Wendt, Das breite
Feld der sozialen Arbeit: Historische Beweggründe und ökologische
Perspektiven, in: Oppl/Tomaschek, Soziale Arbeit 2000, Band 1, Soziale Probleme
und Handlungsflexibilität, Freiburg 1986, S. 68ff.).
Die brutale, perverse Verdinglichung dieser Sprache und ihre Terminologie richtet
sich selbst. Jetzt zeigt sich, was die "Verdinglichungs"-Phrase im Munde derer
wert war, die sie zu konkretisieren versäumt haben als radikale Kritik
der Warenform gesellschaftlicher Reproduktion überhaupt. Und keinesfalls
handelt es sich hier um eine vereinzelte Stimme; man denke etwa an den "Paradigmen-Wechsel"
von einst "linken" Industriesoziologen wie Kern/Schumann, die heute gleichfalls
auf ein "aufgeklärtes Management" setzen. In ihrer objektiven Spätfolge
wie im Wandel des subjektiven Bewußtsein ihrer Träger ist die antiautoritäre
Bewegung zum letzten Schrei kapitalistischer Unternehmenskultur geworden. Von
der revolutionären "Selbstbestimmung" über die lebensreformerische
"Selbstverwaltung" zur brutalen Selbstdefinition als verdinglichte "Humanressource",
zur "Selbstbewirtschaftung" und "Selbstverwertung" - welch eine gnadenlose Logik
der Selbstzerstörung emanzipatorischen Willens unter dem Leitstern unaufgelöster
abstrakter Subjektivität! Die mangelnde Fähigkeit eines bloß
formalen Autonomie-
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Denkens oder Antiautoritarismus, sich von der monetaristischen Subjektbestimmung
des Liberalismus abzugrenzen, wird so auf grausame Weise praktisch bewiesen.
Es genügt, einen anderen großen Antiautoritären, Alternativen
und Liebhaber abstrakter Geldsubjektivität zu zitieren:
"Die amerikanische Revolution war eine Philosophische. Zum erstenmal in der
menschlichen Geschichte haben wir den individuellen Genius des einzelnen Menschen
freigesetzt, um so hoch und so weit zu steigen, wie seine eigene Kraft und seine
Fähigkeiten ihn tragen werden" (Ronald Reagan, 1980).
Indem vom Resultat her "Selbstbestimmung" und "Selbstverwaltung" derart in ihrem
Inhalt definiert werden, verlieren sie im nachhinein als solche, als bloß
formale Proklamation emanzipatorischen Willens, jeden letzten Hauch von revolutionärer
Transzendenz. Daß es gelte, als Geldsubjekt "etwas aus sich zu machen",
dazu bedurfte es keiner emanzipatorischen Idee, weil der Inhalt der Geldform
in ihr selbst und in ihrer Leere besteht, in der die totale Entsubjektivierung
des Subjekts begründet ist. Nicht ins vielzitierte Hölderlinsche "Offene"
ist die antiautoritäre Bewegung am bitteren Ende ihres Weges gekommen,
sondern freiwillig hat sie sich selber endgültig einbetoniert in jener
"Gefängniszelle" abstrakter Vergesellschaftung, deren Namen radikal kritisch
zu benennen Dutschke und die Seinen nicht in der Lage gewesen waren. Die "bleierne
Zeit" hat jetzt erst richtig begonnen, für die Sieger des Prozesses der
"Selbstbewirtschaftung" sowohl, die keine Subjekte sein können, wie für
seine Verlierer, die der kapitalistischen Armuts- und Katastrophen-Verwaltung
überantwortet werden. Für den Fall ihrer Revolte werden notfalls als
Grenzträger der entpersönlichten Herrschaft des "automatischen Subjekts"
auch die Turnschuh-Noskes bereitstehen, nachdem die Grünen ja auch schon
ihren Turnschuh-Millerandismus hervorgebracht haben. Die Situationisten von
1968 wußten, wovon sie sprachen:
"Die selbsttätige Regulierung des Warensystems würde ... JEDEN MENSCHEN
ZUM PROGRAMMIERER SEINER EIGENEN EXISTENZ MACHEN: das ist die Quadratur des
Kreises. Aufgabe der Arbeiterräte wird mithin sein, diese Welt nicht ihrer
Selbstregulierung zu überlassen, sondern sie ununterbrochen qualitativ
zu verändern, indem sie das Warensystem praktisch überwinden und damit
die gigantische Pervertierung der Produktion durch ihre Produzenten aufheben"
(Das Elend der Studenten, Juni 1968, S. 23f., Hervorheb. R.K.).
Der negative Teil dieser Aussage liest sich heute als eine Prognose für
die antiautoritäre Bewegung selbst in ihrer demokratischen, kapitalistisch
immanenten Interpretation. Mit der Verifizierung dieser Prognose ist die Linke
tatsächlich "heimgekehrt in ihr Land". Die Grünen und ihr gesellschaftliches
Umfeld sind der stinkende Leichnam des emanzipatorischen Willens von 1968. Dieser
in der Logik des Geldes und seiner Selbstbewegung ersäufte Wille wird in
der kommenden und teils auch schon manifesten Krise des Geldes und der Warenwirtschaft
überhaupt bei seinen einstigen Trägern nicht wieder aufsteigen wie
der Phönix aus der Asche,
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sondern sie endgültig in rasende, gierige, letztlich mörderische Neo-Kleinbürger
verwandeln. Das Schnappen und Beißen, das Heulen und Zähneklappern
um die dahinschmelzenden "Alternativtöpfe" des Staates und der Kommunen
muß sich mit der manifesten Krise der Staatsfinanzen in einer sich abzeichnenden
Weltwirtschaftkrise bis zur Unerträglichkeit steigern und heute noch im
Dunkeln liegende politische Verlaufsformen erzeugen. Nur schwach sind gegenwärtig
neue Hoffnungsträger eines gesellschaftlichen Willens zur Emanzipation
des menschlichen Subjekts abzusehen. Für die heutige junge Radikal-Opposition
der Autonomen, die ihrem Begriff von "Autonomie" so wenig einen klaren Inhalt
gegeben hat wie die antiautoritäre Bewegung von 1968, sollte deren Entwicklung
und ihre gesellschaftlichen wie subjektiven Resultate ein Menetekel darstellen.
"Es ist nicht genug, ein abstraktes Votum für die Macht der Arbeiterräte
abzulegen". Die noch so oft wiederholte abstrakte Parole gegen die Lohnarbeit
und für Autonomie bleibt leer und wirkungslos, wenn sie nicht im theoretischen
gesellschaftlichen Diskurs und im praktischen Kampf auf allen gesellschaftlichen
Ebenen konkretisiert werden kann als fundamentale Kritik der Waren- und Geldform
selber. Die Autonomen wie andere zukünftige Bewegungen werden radikal sein
als radikale Kritiker der warenfetischistischen Gesellschaft und des Geldes
überhaupt, oder sie werden nicht sein als Radikale.