Beitrag
für die brasilianische Zeitung "FOLHA", 1995
Robert Kurz
Jenseits von Markt und
Staat
Die Transformation der Ökonomie durch eine neue genossenschaftliche Produktionsweise
Es gibt einen Traum in der Moderne: den Traum von der sozialen Emanzipation,
von einer autonomen Produktion des Lebens und von der Selbstbestimmung des Menschen.
Gleichzeitig hat der historische Prozess der Modernisierung die alte agrarische
Naturalwirtschaft zerstört, die Warenproduktion entfesselt und alle sozialen
Beziehungen in Geldbeziehungen verwandelt. Die vorher nur schwach entwickelten
Institutionen von Markt und Staat wuchsen auf diese Weise zu hybriden Formen
an und begannen, den gesamten gesellschaftlichen Raum auszufüllen. Was
ist dabei aus dem Traum von der sozialen Emanzipation geworden? Die Projekte
der sozialen Reform, des Sozialismus und der nationalen Befreiung waren ausnahmslos
auf eine staatliche Regulation des Marktes fixiert. Der keynesianische Sozialstaat
des Westens sollte aus dem Prozess des Marktes Gelder abschöpfen und für
soziale Zwecke umverteilen. Der sozialistische Staat des Ostens und des Südens
sollte als "Generalunternehmer" sogar den Markt selber planen und Preise ebenso
wie Löhne dekretieren. In beiden Fällen blieben die Menschen Objekte einer
Bürokratie, die schliesslich überall unter dem Druck des Weltmarkts
gescheitert ist. Aber auch der Markt ist nicht die Sphäre des autonomen menschlichen
Handelns, wie der Liberalismus behauptet, sondern nur die andere Seite derselben
Medaille. Gerade der Markt ist es, der die Menschen der "stummen Diktatur" von
Geld und betriebswirtschaftlicher Rentabilität unterwirft. Deshalb ist die
einseitige liberale Kritik des Staates durch den Markt ebensowenig emanzipatorisch
wie die umgekehrte sozialistische Kritik des Marktes durch den Staat. Die ökonomische
Liberalisierung dient nur dazu, die letzten Reste der sozialen Verantwortung
zu zerstören, die im Kapitalismus und im Sozialismus gleichermassen nur
in der bürokratischen Maske des Staatsapparats erscheinen können.
Das hybride System von Markt und Staat scheint sich an der Schwelle des 21.
Jahrhunderts selber ad absurdum zu führen. Denn wenn dieses System auf
der ganzen Welt hunderte Millionen von Menschen nicht mehr gesellschaftlich
integrieren kann, dann muss es auch aufhören, die totale Form der Gesellschaft
zu sein. Deshalb werden immer mehr Stimmen laut, die nach anderen Formen der
Reproduktion jenseits von Markt und Staat fragen. So hat der französische
Sozialphilosoph André Gorz in seiner "Kritik der ökonomischen Vernunft"
den Begriff der autonomen Tätigkeiten eingeführt, die durch freiwillige
Zusammenschlüsse in den "mikro-sozialen Sphären" von Stadtteilen und Regionen
organisiert werden können. Er denkt dabei vor allem an kulturelle Aktivitäten
und an soziale Tätigkeiten, z.B. die Betreuung von Kindern, Alten und Kranken,
aber auch an die Produktion von Nahrungsmitteln und Gegenständen des Bedarfs.
Jeremy Rifkin, Ökonom und Gesellschaftskritiker in den USA, sieht sogar
ein "postmarktwirtschaftliches Zeitalter" heraufdämmern, in dem sich ein dritter
Sektor als Bereich der Selbsthilfe entwickelt. Es handelt sich bei diesem dritten
Sektor keineswegs nur um graue Theorie. Überall auf der Welt ist in den
vergangenen 10 bis 20 Jahren die Bedeutung eines diffusen gesellschaftlichen
Raumes zwischen Markt und Staat gewachsen. Dabei handelt es sich nicht in erster
Linie um die "Schattenwirtschaft", die oft nichts anderes als ein illegaler
und brutalisierter Markt ist. Im Gegensatz dazu setzt sich der dritte Sektor
aus einer Vielzahl von freiwilligen Vereinigungen zusammen, die sich gegen soziale
Misere und ökologische Zerstörung organisieren. Die meisten von ihnen
legen grossen Wert auf Selbstverwaltung. Praktisch stossen sie in die Räume
vor, aus denen sich der Markt mangels Rentabilität und der Staat mangels Finanzierungsfähigkeit
zurückgezogen haben. Sie schaffen öffentliche Küchen, legen Gärten
an, bauen Wasserleitungen, beseitigen Müll, betreuen Strassenkinder, stellen
Wohnraum bereit, organisieren eigenen Schulunterricht usw. Und sie haben viele
Namen: Jeremy Rifkin nennt z.B. die Travaux d'Utilité Collective in Frankreich,
die Jichikai in Japan (Gemeinde-Organisationen für gegenseitige Hilfe),
die Organizaciónes Económicas Populares in Chile oder die juntas de vecinos
in anderen Ländern Lateinamerikas. Als Sammelnamen haben sich die Begriffe
"Non-Profit-Organizations" (NPOs) und "Non-Governmental-Organizations" (NGOs)
herausgebildet, um zu unterstreichen, dass es sich weder um kommerzielle noch
um bürokratische Initiativen handelt. Die entscheidende Frage ist, ob sich
der dritte Sektor zu einem neuen Paradigma der gesellschaftlichen Reproduktion
entwickeln kann. Damit das möglich wird, muss er über blosse Not-
und Hilfsmassnahmen hinausgehen, die nichts weiter beabsichtigen, als die Wunden
ein wenig zu verbinden, die den Menschen von der "invisible hand" des enthemmten
Marktes zugefügt werden. Wenn kein neuer globaler Boom der Marktwirtschaft
mehr kommt, auf den viele immer noch hoffen, dann braucht der dritte Sektor
eine eigene Perspektive der Entwicklung für das 21. Jahrhundert, statt
bloss ein vorübergehendes Phänomen der Krise zu sein. Worin besteht eigentlich
die ökonomische Logik dieser Tätigkeiten? Auffällig ist, dass Autoren
wie Gorz oder Rifkin das Problem noch völlig in den Kategorien der Marktwirtschaft
beschreiben. Gorz schlägt vor, die hohe technische Produktivität für
eine allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit in der Marktwirtschaft zu nutzen
und gleichzeitig ein ausreichendes Mindesteinkommen für alle in der Geldform
zu zahlen. Die zusätzliche freie Zeit soll dann für die freiwilligen Organisationen
jenseits von Markt und Staat verwendet werden. Rifkin dagegen hofft, dass im
dritten Sektor selber viele "bezahlte Arbeitsplätze" entstehen. In beiden Fällen
bleibt der dritte Sektor der unmündige kleine Bruder des Marktes, weil
die Quelle der "Finanzierung" letzten Endes immer nur die Brosamen der Mildtätigkeit
sein können, die von der Produktion für den Profit abfallen. Denn
nach den objektiven Gesetzen der Marktwirtschaft lässt sich die Steigerung
der technischen Produktivität nicht in eine Senkung der Arbeitszeit für
die gesamte Gesellschaft übersetzen, sondern immer nur in eine Senkung
der betriebswirtschaftlichen Kosten. Unter den heutigen Bedingungen bedeutet
das auf der Ebene der Gesamtgesellschaft Massenarbeitslosigkeit, während der
Zuwachs der Produktivität für die Konkurrenz auf den globalen Märkten
verbraucht wird. Die Visionen von Gorz und Rifkin drohen so ein Subventionsmodell
für wenige reiche Länder oder eine Art altruistisches Hobby für marktwirtschaftliche
Gewinner zu bleiben. Richtig ist sicher, dass eine sofortige und totale Überwindung
des Marktsystems durch den dritten Sektor nicht möglich sein wird. Man
kann sich aber vorstellen, dass immer mehr Menschen nur noch einen Teil ihrer
Bedürfnisse mittels Geld befriedigen, das sie durch Arbeit für den
Markt oder durch soziale Transfers vom Staat beziehen. Ein anderer Teil der
Bedürfnisse könnte dagegen durch selbstorganisierte Tätigkeiten im
dritten Sektor befriedigt werden. So geschieht es bereits heute in vielen solchen
Initiativen. Das bedeutet, dass dieser Sektor der Reproduktion nicht (oder nur
teilweise) subventioniert wird, sondern stattdessen einen Teil der Tätigkeiten,
der Zeit und der Ressourcen von der Logik des Geldes "entkoppelt". In der Geschichte
der alten Arbeiterbewegung gab es einen ähnlichen Versuch in Form der Genossenschaften.
Die ursprüngliche genossenschaftliche Idee bestand darin, nicht allein
für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen,
sondern auch bestimmte Lebensbereiche durch selbstverwaltete Tätigkeiten aus
den Zwängen der Lohnarbeit herauszunehmen. Die Gewerkschaften und sozialistischen
Parteien förderten diese sogenannte "Gemeinwirtschaft" in Form von Konsum-,
Wohnungsbau- und Produktionsgenossenschaften. Aber dieser Ansatz wurde von der
historischen Expansion des Marktes überrollt. Als in den zentralen industriellen
Sektoren höhere Löhne und mehr Freizeit erreicht werden konnten, verloren
die Gewerkschaften den Sinn für die genossenschaftliche Bewegung. Der Staat
hatte erst recht kein Interesse an einer autonomen Sphäre; er bemühte
sich im Gegenteil, die genossenschaftliche Tätigkeit in ein Feld der Kapitalrendite
zu verwandeln, um die dabei entstehenden Geldeinkommen besteuern zu können.
So wurden die Genossenschaften teils freiwillig, teils durch die Gesetzgebung
gezwungen zu ganz gewöhnlichen marktwirtschaftlichen Unternehmen oder lösten
sich allmählich auf. Es ist eine historische Ironie: während heute in vielen
Ländern die Gewerkschaften die letzten Reste der längst kapitalisierten alten
"Gemeinwirtschaft" liquidieren, entsteht der dritte Sektor neu und "von unten",
weil Markt und Staat nicht mehr das gesamte Leben erfassen können. Es wird
sicher Ökonomen geben, die behaupten, dass der dritte Sektor dem Markt
nicht standhalten kann, weil für selbstverwaltete Initiativen die Kosten
der notwendigen Investitionen zu hoch wären und sie deshalb nur mit primitiven
Mitteln produzieren könnten. Das ist richtig für die Produktion von
Produktionsmitteln wie Computer, Maschinen, Werkzeuge usw. Dieser Sektor wird
zunächst für die Aktivitäten des dritten Sektors schwer erreichbar sein.
Es ist aber nicht richtig für die Produktion von Konsumtionsmitteln und
Dienstleistungen. Denn die mikroelektronische Revolution hat technisch zu einer
Miniaturisierung und ökonomisch zu einer enormen Verbilligung der "produzierten
Produktionsmittel" geführt. Rechner und Werkzeugmaschinen, die vor weniger
als 20 Jahren noch gross wie Häuser waren und die Kapitalkraft mittlerer Unternehmen
erforderten, können heute im Taschenformat von kleinen Gruppen oder sogar
von Individuen gekauft werden. Warum ist dann die Kapitalintensität in der
Konsumgüterindustrie und bei den Dienstleistungen trotzdem stark gestiegen?
Der Grund ist einfach: als Profit-Unternehmen müssen diese Sektoren mit
den Profiten der Produktionsmittelindustrie und mit der Rendite auf den Finanzmärkten
konkurrieren. Deshalb erliegen sie dem Trend zur Konzentration des Kapitals
und sind nur bei grossen Marktanteilen rentabel. Dieses Problem haben die Non-Profit-Organisationen
per definitionem nicht, weil sie ausserhalb der Orientierung auf eine Kapitalrendite
direkt für die Bedürfnisse der Beteiligten produzieren. Ein einfaches
Beispiel ist der Bau von Wohnungen. Ein Investor von Geldkapital, der gar nicht
das eigene Bedürfnis nach Wohnraum befriedigen will, kann nicht damit zufrieden
sein, dass Häuser gebaut und langfristig erhalten werden. Er will darüber
hinaus eine Rendite seines Kapitals, die mindestens so hoch wie der Profit in
anderen Branchen sein muss. Die Mitglieder einer Genossenschaft dagegen wollen
selber in ihren Häusern wohnen. Sie brauchen keine extra Rendite erwirtschaften,
sondern müssen nur gemeinsam Geld sammeln für Baumaterial und die
Bezahlung spezieller Handwerker. Viele notwendige Arbeiten können sie selber
ausführen. Und ausserdem können sie mehr Rücksicht auf soziale,
ästhetische und ökologische Kriterien nehmen, weil es ihnen nicht um einen
abstrakten Gewinn geht. Freilich brauchen die NPOs für solche Projekte
Zeit, Raum, Starthilfe und günstige juristische Rahmenbedingungen. Damit
ist ein grosser sozialer Konflikt für die kommende Epoche programmiert.
Denn das gegenwärtige System der Ökonomie und des Rechts ist darauf fixiert,
alle Ressourcen in die Form des privaten "Geldmachens" zu pressen oder etatistisch
davon abzuzweigen. Das marktwirtschaftliche Management sieht es als die natürliche
Bestimmung der menschlichen Arbeitskraft, für die Kapitalrendite verwurstet
zu werden; wer keine "Arbeit" in diesem Sinne hat, soll auf Knien darum bitten.
Und die politische Klasse sieht es als die natürliche Bestimmung der menschlichen
Person, staatlich verwaltet zu werden. Manager und Politiker haben daher heute
ebensowenig wie in der Vergangenheit ein Interesse daran, dass ein autonomer
Sektor ausserhalb ihrer Kontrolle entsteht. Weil der Markt selber den Standard
der Rentabilität immer höher schraubt, stehen jedoch auf der ganzen Welt
immer mehr Wohnungen und Büros leer, intakte Produktionsmittel werden massenhaft
stillgelegt, grosse Ländereien liegen brach. Diese Ressourcen werden grösstenteils
nicht für NPOs und NGOs freigegeben, sondern sie bleiben von einem abstrakten
Privateigentum oder Staatseigentum beschlagnahmt, das gar nichts mehr mit ihnen
anfangen kann. Aus diesen Gründen ist schon jetzt absehbar, dass der dritte
Sektor zu einem grossen politischen Faktor aufsteigen wird; vielleicht sollte
man besser sagen: zu einem antipolitischen oder postpolitischen Faktor, denn
die neuen Initiativen lassen sich nicht mehr in die alten Kategorien der modernen
Politik einsortieren. Diese Tendenz ist an der Oberfläche noch wenig sichtbar,
weil heute trotz einiger Ausnahmen jeder Politclown, Karrierist oder Staatsterrorist
mehr Aufmerksamkeit in den Medien findet als die bereits grossen und bedeutsamen
Bewegungen des dritten Sektors. Das liegt freilich auch daran, dass diese Bewegungen
bis jetzt allzu bescheiden, ohne übergreifenden gesellschaftskritischen Anspruch
und ohne eigene Theorie sind. Sie haben sich selbst noch nicht als neue historische
Kraft erkannt. Und sie werden nicht genügend von der bisherigen politischen
Linken unterstützt, die sich nur schwer von ihrer Fixierung auf den Staat befreien
kann und vielleicht in den Bewegungen des dritten Sektors eher eine politische
Konkurrenz als einen anderen, erfolgversprechenden Ansatz der sozialen Emanzipation
wittert. Viele ehemalige Marxisten kapitulieren lieber vor dem Neoliberalismus,
als die eigene Vergangenheit kritisch zu transzendieren. Wäre es nicht raffiniert,
den militanten Neoliberalen eine überraschende Antwort zu geben: Ihr habt recht,
die persönliche Initiative und die dezentrale Organisation sind dem Dinosaurier
des Etatismus überlegen wie David dem Goliath; aber wer sagt uns denn, dass
die Alternative eine kommerzielle sein muss? Die NPOs und NGOs müssen auch
nicht lokal borniert sein, denn schon heute bilden sie internationale Netzwerke.
Vielleicht gehört die Zukunft einer "mikroelektronischen Naturalwirtschaft"
auf genossenschaftlicher Basis. Und vielleicht ist das totalitäre System der
Marktwirtschaft genau wie der Staat selber ein plumper Goliath, für den der
Stein und die Schleuder schon bereit liegen.