em português
Robert Kurz
Die Ästhetik der Modernisierung
Von der Abspaltung zur negativen Integration der Kunst
Die Trennung von Leben und Kunst ist ein altes Thema der Moderne. Alle Künstler,
die einer Wahrheit zum Ausdruck verhelfen wollen und die sich existentiell in
ihren Schöpfungen verbrauchen, haben immer wieder an dieser Trennung gelitten.
Ob sie Schönheit bringt oder die Ästhetik des Häßlichen
zeigt, ob sie radikale Kritik übt oder den Formenreichtum der Natur neu
zu entdecken sucht, ob sie sich realistisch oder phantastisch orientiert: Stets
bleibt die Kunst wie durch eine gläserne, aber undurchdringliche Wand von
der Gesellschaft getrennt. Ihre Hervorbringungen werden entweder nicht beachtet
oder sie sind weltberühmt als schon von Geburt an tote und museale Gegenstände.
Der Künstler erscheint als eine Figur von geradezu antiker Tragik: Wie
vor Tantalus ewig das Wasser und die Früchte zurückweichen, so weicht
vor ihm das Leben zurück; wie König Midas verhungern mußte,
weil sich alle Gegenstände unter seiner Berührung in Gold verwandelten,
so muß der Künstler als gesellschaftliches Wesen verhungern, weil
sich unter seiner Berührung alle Gegenstände in pure Exponate verwandeln;
und wie Sisyphos wälzt er seinen Stein stets vergeblich - sein Werk bleibt
unvermittelt mit der Welt.
Alle Versuche der Kunst, aus ihrem gläsernen Ghetto auszubrechen, sind
gescheitert. In Fabriken aufgestellte Plastiken und Gemälde an den Wänden
von Büros blieben Fremdkörper; literarische Lesungen in Kirchen oder
Schulen kamen nie über den Charakter von Pflichtveranstaltungen hinaus.
Als die Dadaisten aus Verzweiflung zum Mittel der Provokation griffen und rostige
Eisenrohre oder Klosettschüsseln in die heiligen Hallen der Kunst schleppten,
um die Bourgeoisie zu verhöhnen, wurde dieses Angebot mit tierischem Ernst
als Kunstgegenständlichkeit angenommen und katalogisiert wie die Skulpturen
von Michelangelo oder die Bilder von Picasso. Die tautologische Definition lautet:
Kunst ist alles, was die Gesellschaft a priori in einem getrennten Reservat
namens "Kunst" wahrnimmt und was in dieser seiner Kunstgegenständlichkeit
ohne Rücksicht auf den Inhalt gesammelt werden kann wie Briefmarken oder
aufgespießte Käfer. Egal was die Kunst selber will und wie sie es
darstellt, sie ist damit immer schon entschärft und verharmlost. Der Künstler
ist für die kapitalistischen Eliten nicht einmal ein Hofnarr, sondern bestenfalls
ein spezieller Lieferant wie der Weinhändler oder der Konditor. Einen Gebrauchtwagen
würde man nicht von ihm kaufen und als Schwiegersohn wäre er unmöglich.
Das ist jedenfalls sein Status in der klassischen Moderne.
Ihre eigene Existenzweise und deren Kategorien hat die moderne Gesellschaft
schon immer als überhistorische und allgemein-menschliche gesehen. Wenn
etwas faul und eigentlich unerträglich ist an diesem System, dann soll
es sich nie um eine historische und durch Kritik zu überwindende Problemlage
handeln, sondern immer um eine unaufhebbare Bedingung der Existenz schlechthin,
mit der die Menschheit nun einmal bedauerlicherweise leben muß. Durch
die Brille dieser Ontologisierung nimmt die Moderne auch das Dilemma der Getrenntheit
von Kunst und Leben wahr. Es wird so getan, als wäre in der griechischen
Antike der Künstler ganz genauso wie heute ein Verkäufer seiner Möglichkeiten
gewesen und als hätten schon die alten Ägypter ihre Götterbilder
in Galerien und Museen ausgestellt oder auf Auktionen mit Preisschildern versehen.
Aber die alten Zivilisationen hatten in unserem Sinne keine "Kunst"
und auch keine "Kultur". Denn die moderne Struktur von getrennten
und gegeneinander verselbständigten Sphären, die auch unsere Sprache
und unser Denken bestimmt, war allen früheren Gesellschaften vollkommen
fremd. Welche menschlichen Defizite, Probleme und soziale Herrschaftsverhältnisse
sie auch immer hatten, sie zerlegten ihr Dasein nicht in abgeteilte Funktionsbereiche.
Die moderne Systemtheorie betrachtet dies als einen Mangel an "Ausdifferenzierung",
womit sie einen Gradmesser von Primitivität unterstellt: Je integrierter
eine Gesellschaft ist, desto primitiver ist sie auch; und je "ausdifferenzierter"
umgekehrt eine Gesellschaft ist, desto "entwickelter" ist sie und
desto mehr "Chancen" bietet sie - so die Behauptung des spätbürgerlichen
Systemdenkens. Wie schon immer seit der Aufklärung erscheint die kapitalistische
Moderne als die Krönung der Geschichte, obwohl es etwas Erbärmliches
hat, die höchste und nicht mehr überbietbare Errungenschaft gesellschaftlicher
Evolution ausgerechnet darin zu sehen, daß der funktionalistisch reduzierte
Mensch nur noch einen Schnittpunkt von systemischen Strukturen darstellt.
Aber die vormodernen Gesellschaften waren in Wirklichkeit nicht primitiv, sondern
durchaus hochdifferenziert; nur entsprach diese Art der Differenzierung nicht
dem modernen Begriff davon. Die alten, vorwiegend agrarischen Sozietäten
hatten keine Kultur, sondern sie waren eine Kultur. In unserem
wissenschaftlichen Sprachgebrauch kommt das sogar zum Ausdruck, wenn auch meistens
unreflektiert: Wir sprechen ohne weiteres von der altägyptischen, der mesopotamischen,
der antiken "Kultur" usw. und meinen damit in der Regel sowohl die
speziellen Artefakte und künstlerischen Darstellungen aus Bildhauerei,
Malerei, Literatur etc. als auch andererseits die jeweilige Gesellschaft als
Ganzes mitsamt ihrer sozialen Struktur. Wenn hingegen von "moderner Kultur"
die Rede ist, dann meinen wir damit immer nur jenen besonderen Aspekt der Ausdrucksformen
und niemals das ganze gesellschaftliche System. Automatisch und unbewußt
"wissen" wir also, daß Kultur früher einmal das Ganze war
und nicht eine funktionell abgetrennte Sphäre für die sonntägliche
museale Erbauung des geldverdienenden Menschen.
Tatsächlich bedeutet ja das lateinische Wort "cultus", auf das
unser Kulturbegriff zurückgeht, sowohl "Anpflanzung" und "Ackerbau"
als auch "Gottesdienst", "Lebensweise", "Gesellschaftlichkeit",
"Bildung" und sogar "Kleidung" (für bestimmte Anläße).
Diese vielschichtige Begrifflichkeit verweist auf den integrierten Charakter
der alten Agrargesellschaften. Die differenzierten Inhalte und Formen sowohl
des "Stoffwechsels mit der Natur" (Karl Marx) als auch der sozialen
Beziehungen und der Ästhetik fielen nicht als "Subsysteme" mit
jeweils "eigener Logik" auseinander, sondern sie waren immer der Ausdruck
einer einzigen und kohärenten kulturellen Daseinsweise. In modernen terms
muß sich die Beschreibung dieser kulturellen Existenz verwirrend anhören:
Die Produktion war ästhetisch, die Ästhetik religiös, die Religion
politisch, die Politik kulturell, die Kultur sozial usw. Mit anderen Worten:
Die für uns distinkten gesellschaftlichen Attribute waren miteinander verschränkt,
jeder Bereich des Lebens war in jedem anderen gewissermaßen mitenthalten.
Man könnte vielleicht versucht sein, von einer religiösen Konstitution
dieser agrarischen Kulturen zu sprechen, weil die Religion anscheinend das stärkste
integrative Moment der "Gesellschaft als Kultur" darstellte. Bekanntlich
sind nicht nur alle Arten des künstlerischen Handwerks, sondern auch das
Theater und die sportlichen Wettkämpfe aus kultischen Handlungen hervorgegangen;
genauer gesagt: sie waren kultische Handlungen besonderer Art. Aber auch
die ganz gewöhnlichen Verrichtungen des Alltags hatten grundsätzlich
kultischen Charakter; sogar Witz und Ironie waren kultisch eingebunden. Dennoch
wäre es verfehlt, "die Religion" als das systemisch bestimmende
Moment solcher Gesellschaften herauszuheben, denn dabei denken wir ja schon
wieder unseren funktionellen Begriff getrennter Sphären mit. Auch die Religion
war aber keine Religion im modernen Sinne, kein bloßer "Glaube",
keine beschränkte Gelegenheit für transzendente Gedanken und schon
gar keine "Privatangelegenheit".
Wir dürfen uns deshalb den religiösen Charakter der alten Kulturen
freilich nicht einfach als einengendes, irrationales Zwangsverhältnis vorstellen.
Das Religiöse war gleichzeitig das Öffentliche, die sogenannte Politik,
die Form der Debatte. Nicht umsonst hat das lateinische Wort "privatus"
eine eher negative, abschätzige Bedeutung, die für uns noch deutlicher
wird beim entsprechenden altgriechischen Begriff: dort ist der nicht alltäglich
und selbstverständlich am öffentlichen Leben teilnehmende "privatus"
der Idiot. Wenn aber das Religiöse gleichzeitig die Form des Öffentlichen
und umfassend alltäglich ist, dann muß dies nicht bedeuten, daß
sich darin die Beschränktheit dieser Gesellschaft zeigt, wie es die apologetische
Ideologie der modernen Selbstlegitimation behauptet. Genausogut könnte
umgekehrt gesagt werden, daß eine solche Kultur-Gesellschaft viel mehr
Öffentlichkeit und Debatte hatte als das moderne System. Wie wir es auch
drehen und wenden, wir kommen mit unserem modernen Selbstverständnis dem
Dasein einer kulturell integrierten Gesellschaft nicht bei. Wir haben keine
Begriffe dafür.
Diese moderne Blindheit für den Charakter vormoderner Verhältnisse
hat noch ein weiteres großes Mißverständnis erzeugt. Im Zentrum
dessen, was wir "Religion" nennen, steht im Grunde genommen in allen
Kulturen das Problem der menschlichen Sterblichkeit und des Todes als Vorgang,
Ereignis und "Lebensziel". Zusammen mit der Religion hat die Moderne
auch den Tod in eine besondere funktionelle Sphäre verbannt und ihn damit
- ähnlich wie die Kunst - vom Leben getrennt. Auf diese Weise führte
die moderne Säkularisierung der Gesellschaft nicht etwa dazu, mit dem Tod
anders und womöglich reflektierter umzugehen, sondern ihn zu verdrängen
und zu ignorieren. Das, was die Religion in den alten Gesellschaften bedeutet
hatte, wurde ja nicht etwa überwunden und positiv aufgehoben, sondern lediglich
als irrationaler Rest für den Privatsinn des abstrakten Einzelnen funktionell
reduziert. Im Hinblick auf die leibliche Sterblichkeit ging die Moderne sogar
noch weiter: Wie die alten und für die kapitalistische Reproduktion "unbrauchbar"
gewordenen Menschen sogar ihren eigenen Kindern als bloße "Altlast"
erscheinen und in Anstalten weggesperrt werden, die vom normalen Leben abgetrennt
sind, so werden auch die Toten wie Müll und industrieller Schrott "entsorgt".
Nachdem die Moderne den Tod verdrängt hatte, konnte sie die frühere
Integration von Leben und Tod nur noch als erschreckende "Todesbezogenheit"
begreifen. Daß die alten Ägypter so großen Wert auf ihre Gräber
und auf das Einbalsamieren der Toten legten, wird ihnen gewöhnlich als
finsterer Todeskult ausgelegt, als wären sie mit nichts anderem beschäftigt
gewesen. Erst recht angewidert zeigt sich der moderne Mensch von der weit verbreiteten
Sitte der Jungsteinzeit, die Gebeine der Toten mitten im Haus unter der Feuerstelle
zu begraben. In Wirklichkeit müssen alle diese Menschen äußerst
lebenslustig gewesen sein, wie die Altertumswissenschaften heute in vieler Hinsicht
belegen können. Die selbstverständliche Integration des Todes in den
Alltag erscheint uns nur als fremdartig, weil das Problem unserer eigenen Sterblichkeit
auf einen im gewöhnlichen Leben unsichtbaren Ort "ausgelagert"
worden ist. Diverse Kulturkritiker haben diese Trennung von Leben und Tod ebenso
wie die Trennung von Kunst und Leben in der Geschichte der Modernisierung immer
wieder zum quälenden Thema gemacht, ohne daß jedoch die zugrunde
liegende gesellschaftliche Struktur dabei jemals radikal kritisiert worden wäre.
In einer "Gesellschaft als Kultur", die sogar den Tod zu integrieren
imstande war, mußte notwendigerweise auch die "Kunst" immer
schon Bestandteil des alltäglichen Lebens sein und war daher völlig
undenkbar als das Exponat einer sterilisierten und toten Sphäre "hinter
Glas". Aber eben deswegen war sie auch keine Kunst als Kunst, sondern ein
bestimmtes Moment in einem integrierten gesellschaftlichen Zusammenhang. Der
"Künstler" konnte daher nur im Sinne einer technischen Fähigkeit
Künstler und anerkannt sein, nicht aber als sozialer Repräsentant
"der" Kunst. Das Problem der funktionalen Trennungen, das die Moderne
so beschäftigt, ist zusammen mit ihr überhaupt erst entstanden und
hätte vorher nicht einmal formuliert werden können. Es fragt sich
also, woher diese systemische "Ausdifferenzierung" eigentlich kommt.
Der Prozeß der Modernisierung hat die Gesellschaft keineswegs gleichmäßig
und gleichwertig aufgegliedert. Vielmehr wurde ein bestimmter Aspekt der menschlichen
Reproduktion, nämlich die sogenannte Ökonomie, von allen übrigen
Aspekten und vom Leben überhaupt abgespalten. Ebensowenig wie von
einer Kunst oder Religion kann daher für die alten agrarischen Zivilisationen
von einer Ökonomie in unserem Sinne gesprochen werden, obwohl der Begriff
aus der Antike stammt. War aber die "Oikonomia" im antiken Griechenland
als Hauswirtschaft wie bei allen vormodernen Zivilisationen im integrierten
kulturellen Zusammenhang eine sachliche Voraussetzung und ein
Mittel für kultische und damit soziale oder ästhetische Zwecke
gewesen, so entwickelte sie sich in der Moderne zu einem absurden Selbstzweck
und zum zentralen Inhalt der Gesellschaft: Das Geld wurde als Kapital
auf sich selbst rückgekoppelt und damit zum blinden "automatischen
Subjekt" (Karl Marx), das allen menschlichen und kulturellen Zwecken gespenstisch
vorausgesetzt ist.
Indem diese "Verwertung des Werts" (Karl Marx) oder abstrakte betriebswirtschaftliche
Gewinnmaximierung sich als prozessierender Selbstzweck vom Leben abspaltete,
entstand erstmals eine getrennte, verselbständigte "Funktionssphäre"
wie ein Fremdkörper in der Gesellschaft, der sich zur Herrschaft und zum
Zentrum aufzuschwingen begann. Und erst das Dasein dieses abgespaltenen und
gleichzeitig dominierenden Sektors ließ auch alle anderen, von der kapitalistischen
Ökonomie noch übriggelassenen Aspekte der gesellschaftlichen Reproduktion
als getrennte "Subsysteme" erscheinen, die jedoch ausnahmslos bloß
sekundäre Bedeutung haben und dem vorausgesetzten ökonomischen Selbstzweck
untergeordnet sind.
Unter dem Diktat der verselbständigten Ökonomie mutierte die produktive
Tätigkeit zur abstrakten "Arbeit" in einem entfremdeten, vom
Leben getrennten Funktionsraum, der erst sekundär und unter dem Zwang seiner
eigenen unbeherrschbaren "Systemgesetzlichkeit" durch die ebenfalls
getrennte Sondersphäre der Politik reguliert wird. Eine solche von der
kulturell integrierten Gesellschaft abgespaltene "Politik" mußte
daher den vormodernen Zivilisationen ebenso unbekannt sein wie die "herausgelöste
Ökonomie" (Karl Polanyi) des kapitalistischen Selbstzwecks und der
dazugehörige positive Begriff der abstrakten "Arbeit" außerhalb
eines integrierten Lebenszusammenhangs. Die moderne Politik und die dazugehörigen
Institutionen von Staat und Recht können nicht mit den scheinbar entsprechenden
vormodernen Institutionen gleichgesetzt werden, die ebensowenig wie die "Religion"
den Charakter getrennter funktioneller Sektoren hatten. Erst im Prozeß
der modernen gesellschaftlichen Desintegration durch die "herausgelöste
Ökonomie" entstanden Politik, Staat und Recht in unserem Sinne als
komplementäre "Subsysteme" zweiter Ordnung und damit als erste
Diener (Minister!) des stummen Apriori kapitalistischer Ökonomie.
Wenn der zentrale Inhalt und Zweck der Gesellschaft ein abgespaltener Selbstzweck
geworden ist, dann muß notwendigerweise das Leben zu einem bloßen
Rest herabsinken. Die Äußerungen des Lebens jenseits der systemischen
Spaltungen und komplementären Funktionssphären von Markt und Staat,
Ökonomie und Politik, Konkurrenz und Recht wurden zum Restmüll der
"Freizeit" degradiert; und irgendwo in Bezug auf diesen diffusen Rest
ist nicht nur die Religion, sondern auch die Kunst und Kultur als besondere
Sphäre angesiedelt. Alle Dinge, die den Menschen einmal entscheidend wichtig
waren, alle existentiellen Fragen, alle damit verbundenen ästhetischen
Zwecke und Ausdrucksformen sind zu diesem bedeutungslosen "Rest" geworden
und ihre Repräsentanten müssen um die Brosamen raufen, die vom Tisch
des monströsen Selbstzwecks abfallen.
Besonders absurd ist dabei die Lage der Kunst und des Ästhetischen überhaupt.
Obwohl jede Erscheinung des Lebens an sich für den Menschen immer ein ästhetisches
Moment besitzt, hat der Kapitalismus diese elementare Tatsache negiert und die
Ästhetik in einen getrennten Raum abgespalten wie alle anderen Momente
auch. Die "Arbeit" ist nicht ästhetisch, die Ökonomie ist
nicht ästhetisch, die Politik ist nicht ästhetisch, nur die Ästhetik
ist ästhetisch. Es ist, als würde die Ästhetik der Dinge eine
abstraktifizierte, gespenstische Eigenexistenz neben den Dingen führen;
ganz wie die Gesellschaftlichkeit der Produkte in der zum Selbstzweck gewordenen
abstrakten Form des Geldes eine abstraktifizierte Sonderexistenz neben den Produkten
führt und die abstrakte formale Logik als das "Geld des Geistes"
(Marx) verselbständigt neben die konkrete Logik der wirklichen Zusammenhänge
tritt.
Das gläserne Gefängnis des Künstlers besteht gerade in dieser
strukturellen Abspaltung des Ästhetischen. Die Kunst tigert in diesem Käfig
hilflos hin und her; sie ist nicht mehr die künstlerische Form eines gesellschaftlichen
Inhalts, sondern abgespaltene "Formheit" - entweder Form ohne Inhalt
oder Inhalt als bloße Form. Die Kunst muß also den Selbstzweck des
Kapitals nachäffen, das sich als abstrakte und auf sich selbst rückgekoppelte
Form (Geld) am liebsten von jedem materiellen Inhalt emanzipieren möchte,
ohne diese Absurdität jemals realisieren zu können. "L'art pour
l'art" ist nur der Gipfelpunkt der Kunst als unfreiwillige Karikatur des
Kapitals, ohne das Dilemma auf dem Boden des kapitalistischen Systems lösen
zu können.
Ist sie aber durch ihre Not zum wahnhaft selbstverliebten Selbstzweck geworden,
so kann die Kunst in ihrer unaufgehobenen Getrenntheit eine gesellschaftliche
Hybris hervorbringen: Statt sich selbst als das Produkt eines Systems der Abspaltungen
zu begreifen und die radikale Kritik dieser destruktiven Selbstzweck-Struktur
zu mobilisieren, beginnt die Kunst die Spaltung selbst und deren funktionalistische
Ausgeburten zu "ästhetisieren". Nicht nur ihr eigenes Dilemma
wird dabei zum ästhetischen Sujet, sondern die schreiende kapitalistische
Schizophrenie insgesamt. Wenn die kapitalistische Struktur aber nicht kritisiert,
sondern ästhetisiert wird, dann können auch von Granaten zerfetzte
Leiber, vergewaltigte Frauen, verhungernde Kinder und die Obszönität
der Macht als bloß ästhetische Gegenstände erscheinen. Die abgespaltene
Ästhetik kehrt nicht in die gesellschaftlichen Inhalte zurück, sondern
beleuchtet sie nur in zynischer Reflexion. Eine "Ästhetisierung der
Politik" innerhalb des unaufgehobenen kapitalistischen Systems führt
so nicht in die Emanzipation, sondern direkt in die Barbarei. Die ästhetisch
inszenierte Politik war das Erfolgsgeheimnis des Faschismus und Hitler der Prototyp
des Künstlers als Politiker, der die getrennten Sphären nicht reintegriert,
sondern ihre Desintegration zum blutigen Gesamtkunstwerk stilisiert.
Die prekäre Situation der Kunst in der kapitalistischen Struktur der Spaltungen
hat auch eine geschlechtliche Seite. Damit sich die "herausgelöste
Ökonomie" des kapitalistischen Selbstzwecks überhaupt etablieren
und die moderne Sphärentrennung hervorbringen konnte, war eine elementare
Voraussetzung nötig: Alles, was in diesem System der Spaltungen nicht aufging,
mußte seinerseits primär abgespalten werden. Und das waren jene Momente
des einstmals kulturell integrierten Lebens, die auf die moderne Frau abgewälzt
wurden: Familie, "Hausarbeit", Kinderbetreuung, Pflege, "Liebe"
usw. samt den dazugehörigen Eigenschaften, zu denen auch eine angebliche
besondere Empfänglichkeit für das Ästhetische gehört: Die
Frau als das "Naturschöne" schmückt sich und das Heim ihrer
Lieben. Dieser soziale Raum, der nicht vollständig von den kapitalistischen
Strukturen aufgesaugt werden konnte, aber dennoch für die menschliche Reproduktion
notwendig blieb, trat als abgetrennte Privatheit neuer Art in Gegensatz zur
gesamten gesellschaftlichen Struktur des Kapitals und der darin enthaltenen
Binnen-Spaltungen. Es entstand also eine paradoxe "Abspaltung vom Gesamtsystem
der Abspaltungen" (Roswitha Scholz), die dessen "dunkle Rückseite"
bildet und als "weiblich" konnotiert ist, während umgekehrt das
offizielle System als Ganzes "männlich" besetzt und dominiert
wird.
Diese aus der feministischen Kritik hervorgewachsene Erkenntnis der elementaren
und primären geschlechtlichen Abspaltung verweist auf ein sonderbares geschlechtliches
Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit, das auch die abgespaltene
ästhetische Sphäre von Kunst und Kultur betrifft. In den kulturell
integrierten vormodernen Gesellschaften gab es zwar durchaus starke patriarchalische
Momente, aber nicht in der "ausdifferenzierten" und zugespitzten modernen
Form. Die kulturell integrierte Differenziertheit, für die wir keine Begriffe
mehr besitzen, hat auch "Privatheit" und "Öffentlichkeit"
nicht in unserem Sinne getrennt. In modernen Begriffen gesprochen war vieles
öffentlich, was heute als privat gilt - und umgekehrt; soweit die Öffentlichkeit
"männlich" war, blieb sie begrenzt oder es gab "männliche"
und "weibliche" Öffentlichkeiten gleichzeitig und parallel im
kulturellen Kontext.
Die paradoxen Formen der Desintegration auf der Basis der "herausgelösten
Ökonomie" aber haben Öffentlichkeit und Privatheit auf eine doppelte
Weise geschlechtlich getrennt. Einerseits gibt es den intimen Raum der Privatheit,
in dem "die Frau" das sogenannte schöne Geschlecht und gleichzeitig
zuständig ist für die Wärme des Nests, die Bequemlichkeit des
Herrn, die liebevolle Zuwendung usw. - und gerade deswegen als inferior und
"geistesschwach" gilt. Dieser inferioren Privatheit gegenüber
erscheint das gesamte System des Kapitalismus mit der "herausgelösten
Ökonomie" an der Spitze als die "männliche" Sphäre
der bürgerlichen Öffentlichkeit und als die eigentliche Gesellschaft.
Andererseits gibt es aber auch innerhalb dieser offiziellen "männlichen"
Struktur eine zweite Binnen-Spaltung von Privatheit und Öffentlichkeit:
Absurderweise erscheint hier die Aktivität für den subjektlosen Selbstzweck
des Systems als die "männliche" Privatheit des kapitalistischen
Interessen-Subjekts, des "homo öconomicus" und Geldverdieners,
während die ebenfalls "männlich" besetzte komplementäre
Sphäre der Politik als Öffentlichkeit definiert ist. Und die abgespaltene
Sphäre der Ästhetik oder Kunst und Kultur stellt nur einen Wurmfortsatz
dieser Binnen-Öffentlichkeit innerhalb des "männlichen"
kapitalistischen Pseudo-Universums dar.
Deshalb ist "der Künstler" im Prinzip ein männliches Wesen
innerhalb der kapitalistischen Öffentlichkeit, wenn auch an einem besonders
prekären Ort. Zwar gibt es auch Künstlerinnen, ebenso wie Politikerinnen,
Unternehmerinnen, Wissenschaftlerinnen usw. - aber erstens bloß als Ausnahmen,
von denen die soziologische Regel bestätigt wird; und zweitens immer in
Adaption an die "männlichen" Spielregeln, womit nur bewiesen
wird, daß es sich nicht um biologische Bedingungen, sondern um sozialhistorische
Zuschreibungen handelt. Der strukturell "männliche" Künstler
in seinem Glaskäfig der abgespaltenen Ästhetik wird dabei zu einem
besonders schizophrenen Wesen: Einerseits ist er durch und durch kapitalistischer
"Mann" und Geldverdiener, der auf der bürgerlichen Privatheit
erster Ordnung ruht und "die Frau" als inferiores Pflegewesen im Hintergrund
benötigt wie jeder ordinäre Autoverkäufer; andererseits vertritt
er innerhalb der "männlichen" bürgerlichen Öffentlichkeit
in Gestalt der Ästhetik selber ein abgespaltenes "weibliches"
Element, das nicht im funktionalistischen System aufgeht und trotzdem Teil der
kapitalistischen Öffentlichkeit ist.
Nur in Form der abgetrennten, sterilen und musealen Kunstgegenständlichkeit
kann das "Weibliche" innerhalb des männlichen Pseudo-Universums
erscheinen. Der Künstler ist somit der kapitalistische Mann, der als einziger
weibliche Seiten zeigen und notfalls sogar homosexuell sein darf - aber nur
als der gesellschaftliche Irrläufer des narzißtisch auf sich selbst
bezogenen Ästhetischen, der "die Frau" auch noch ihrer zugeschriebenen
Attribute beraubt und somit der Übermann gerade dadurch ist, daß
er sogar das "Weibliche" männlich eingemeindet und "die
Frau" als Modell, Gegenstand oder Muse zum bloßen Objekt der Schönheit
degradiert. Gleichzeitig wird ihm aber dennoch von der bürgerlichen Gesellschaft
seine Repräsentanz des Weiblichen im Männlichen als Manko angekreidet
und die "weibliche Inferiorität" färbt auf ihn ab, sodaß
er von den Kollegen Autoverkäufern als gesellschaftlicher Exot betrachtet
und nicht in jeder Hinsicht für voll genommen wird.
Diese Struktur der Abspaltungen, die das Wesen der Moderne ausmacht, wird aber
heute schon als historische Vergangenheit wahrgenommen. Die kapitalistische
Dynamik hat ihre eigene gesellschaftliche Form gesprengt und prozessiert dennoch
hemmungslos weiter. Massenkultur und neue Medien scheinen die systemische "Ausdifferenzierung"
einzuebnen: Was die Kritik vor einem halben Jahrhundert noch als "Kulturindustrie"
(Adorno) denunziert hat, wird heute von den Postmodernisten als Reintegration
von Kunst und Leben gefeiert. Medialisierung gilt per se schon als Emanzipation
von den Zwängen der kapitalistischen Realität; die Welt wird zum digitalen
Spiel erklärt. Überall wimmelt es nur so von "Chancen",
die im Sinne der medialen "Demokratisierung" ergriffen werden können.
Und im lustigen habituellen Maskenball der Geschlechter glaubt die schöne
neue postmoderne Welt auch die geschlechtliche Abspaltung überwunden zu
haben. Der Transvestit wird fast schon zum neuen revolutionären Subjekt
ausgerufen.
Die Chancen-Rhetorik des postmodernen kulturellen Berufsoptimismus, auch wenn
er sich manchmal linksradikal geriert, erinnert verdächtig an die Orwellsche
Sprache der neoliberalen Ökonomisten. Tatsächlich kehrt nicht die
Kunst als "demokratische Massenkultur" in die Gesellschaft zurück,
sondern umgekehrt überschreitet der Markt seine Grenzen und erneuert seinen
Anspruch auf die Totalität härter denn je. Nachdem sich die kapitalistische
Ökonomie vom kulturellen Lebenszusammenhang abgespalten und dessen Reste
in getrennte Subsysteme verwandelt hatte, konnte ihre Dynamik bei diesem Zustand
der Desintegration nicht stehen bleiben. Schienen die Sektoren der Kunst und
Kultur, des Sports, der Religion, der "Freizeit" usw. zunächst
noch eine gewisse eigene Logik gegen das dominierende System der "herausgelösten
Ökonomie" behaupten zu können, so werden sie nun sukzessive selber
"ökonomisiert".
Abhängig und zweitrangig waren diese Bereiche von Anfang an: Wenn der soziale
Zusammenhang der Gesellschaft durch den abgespaltenen Selbstzweck des Geldes
bestimmt wird, muß auch der Priester, der Athlet und der Künstler
"Geld verdienen"; sei es direkt als Verkäufer auf dem Markt,
sei es indirekt durch die staatliche Abschöpfung von Geld aus den Prozessen
des Marktes. Aber diese Abhängigkeit war lange Zeit nur eine äußerliche.
Solange die Kunst in ihrer eigenen Produktion nicht den ökonomischen Gesetzen
des Marktes ausgeliefert war, konnte sie auch noch nicht ganz kapitalistische
Ware sein, sondern wurde es erst nachträglich in der Zirkulation. Aber
der kapitalistische Selbstzweck ist ebenso gefräßig wie unersättlich,
und so mußte er schließlich auch den selber schon verstümmelten
Rest des Lebens auffressen: die abgespaltene Kunst und Kultur ebenso wie die
kümmerliche "Freizeit" und die beschränkte familiäre
Intimität.
Die Kunst kehrt nur insofern in das Leben zurück, als das Leben sich bereits
in die Ökonomie aufgelöst hat. Jetzt hat die Kunst kein eigenes Dasein
mehr, nicht einmal als Sphäre einer abgespaltenen Ästhetik, sondern
sie ist selber unmittelbar ein ökonomischer Gegenstand geworden und deshalb
findet bereits ihre Produktion unter den Gesichtspunkten des Marketings statt.
Überhaupt alle Gegenstände der Welt und des Lebens besitzen im entgrenzten
Kapitalismus am Ende des 20. Jahrhunderts keinen eigenen qualitativen Wert mehr,
sondern nur noch den ökonomischen Wert, den ihnen ihre Marktgängigkeit
verleiht.
Was die Postmoderne als emanzipatorische Chance der Kunst in der kapitalistischen
Massenkultur wittern möchte, ist in Wirklichkeit ihre Zerstörung.
Wenn die "fröhlichen Positivisten" (Michel Foucault) der Postmoderne
diese prophetische Einsicht Adornos heute in die Nähe eines konservativen
Kulturpessimismus rücken wollen, dann beweisen sie damit nur, daß
sie selber vor dem ökonomischen Imperativ bedingungslos kapituliert haben
und nicht weniger affirmativ als die konservativen Scheinkritiker sind. Kritisiert
der konservative Kulturpessimismus die Zerstörung der Kunst durch die kapitalistische
Kulturindustrie nur vom Standpunkt ihrer eigenen Vergangenheit, als sie noch
selbstzweckhafte Ästhetik in der klassischen Moderne war, so lügt
sich der Postmodernismus den letzten Schub der Auflösung von Kunst in Ökonomie
als ihre Wiederaneignung durch die Gesellschaft zurecht. Und trauert die konservative
Kulturkritik der bürgerlichen Familie ebenso nach wie den elitären
Subjekten des alten Bildungsbürgertums, so verkennt der Postmodernismus
das einsame mediale Elend des atomisierten "dezentrierten Subjekts"
als emanzipatorischen Frühling. Die einen kleben an der kapitalistischen
Vergangenheit, die anderen an der kapitalistischen Gegenwart, beide verweigern
eine neue Perspektive für die antikapitalistische Zukunft.
Männer und Frauen, Künstler und Autoverkäufer sind heute nur
insofern identisch geworden, als sie alle dieselbe leere Identität des
"homo öconomicus" angenommen haben und als willenlose Agenten
des "automatischen Subjekts" nicht mehr sie selbst sind. Die "Ausdifferenzierung"
der sektoral aufgespaltenen Subjektivitäten wird von der Marktwirtschaft
niedergewalzt, bis jeder eine Art Autoverkäufer ist, egal was er tut. Der
naive Glaube an die kulturindustrielle postmoderne Konsumentendemokratie blamiert
sich unter der Diktatur des kapitalistischen Angebots. Die Kulturindustrie ist
daher nicht zu kritisieren, weil sie Massenkultur ist, sondern weil sie in der
entfremdeten Form der "herausgelösten Ökonomie" aufgeht.
Ihre Ästhetik ist nicht die Ästhetik des Menschen, sondern die Ästhetik
der Ware.
In der Demokratie der Waren haben die Menschen als Menschen nichts mehr zu sagen.
Die Warenästhetik integriert nicht die desintegrierten Individuen, sondern
die Waren als gespenstische Pseudosubjekte. Sie ist nicht die ästhetische
Form eines Inhalts, sondern das "Design" der ökonomischen Abstraktion.
Dieses Endstadium der modernen Ästhetik läßt sich auf mehreren
Ebenen beschreiben:
- Erstens handelt es sich um eine Ästhetik des Partikularismus.
Kontexte und Zusammenhänge bleiben unberücksichtigt. Es wird ignoriert,
daß das Ganze mehr und etwas qualitativ anderes ist als die Summe der
Teile. Das Design ist die glitzernde Ästhetik der abstrakten einzelnen
Ware für den Konsum des abstrakten einzelnen Individuums, während
sich das Ganze der Landschaft, der Städte und des sozialen Raums in eine
stinkende Müllhalde verwandelt.
- Zweitens entspricht diesem Design eine Ästhetik der Beliebigkeit.
Form und Inhalt haben keine Beziehung mehr zueinander, weil der Inhalt selber
zur Form umdefiniert wird. Dem Kapital ist es gleichgültig, ob es sich
durch die Produktion von Schweinehälften, Tretminen oder Abführmitteln
verwertet. Ebenso gleichgültig muß es der zum Design ökonomisierten
Kunst werden, was sie produziert - wenn es sich nur als verkäuflich und
medial inszenierungsfähig darstellt. Damit ist jeder Maßstab beseitigt.
Während eine bewußte kulturelle Integration immer Maßstäbe
entwickeln muß, auch wenn sie um deren Relativität weiß und
sie verändern kann, ist die Warenästhetik apriori maßstabslos
- passend zum postmodernen "dezentrierten Subjekt", dem buchstäblich
"alles egal" ist. Eine Welt ohne Maßstäbe, die alles gleichgültig
macht, kann aber nur noch eines hervorbringen: endlose Langeweile.
- Drittens erweist sich die zum Design der Warenwelt degradierte Kunst und Kultur
als Ästhetik der Simulation. Die postmoderne Schnapsidee
einer medialen Derealisation der Realität (Jean Baudrillard u.Co.) möchte
nur allzugern an den Schein des Designs glauben, weil sie ihn selber produziert.
Die Simulation der Medien versucht eine parallele virtuelle und entmaterialisierte
Welt aufzubauen, in der dem Kapitalismus keine natürlichen und sozialen
Schranken mehr gesetzt sind und das Wachstum der "herausgelösten Ökonomie"
endlos fortgesetzt werden kann. Den virtuellen Scheinwelten der Medien entspricht
ökonomisch der Kasinokapitalismus der letzten 15 Jahre: Die entkoppelten
Finanzmärkte simulieren eine Akkumulation des Kapitals, die längst
keinen realökonomischen Boden mehr unter den Füßen hat. Der
Kapitalismus läuft gewissermaßen in der Luft weiter, nachdem er den
Rand des Abgrunds überschritten hat. In diesem ökonomischen Milieu
des "fiktiven Kapitals" (Karl Marx) von Aktienboom, Verschuldung,
Gewinnspielen und "Risiko"-Soziologie (Ulrich Beck) hat sich ein Zeitgeist
entwickelt, der die Unerträglichkeit der kapitalistischen Zumutungen durch
ein "So tun als ob" überspielen möchte. In der simulativen
Pose einer medialen Selbst-Ästhetisierung tun die Individuen so, "als
ob" sie kompetent, erfolgreich, schön und reflektiert wären,
während ihre realen sozialen Beziehungen zusammenbrechen.
Partikularismus, Beliebigkeit und Simulation verraten, daß die zerstörte
Kunst durch ihre Mutation zur Warenästhetik nur negativ in ein gesellschaftliches
Leben integriert wird, das schon kein Leben mehr ist. Das alte Problem der Trennung
von Kunst und Leben ist nicht gelöst, sondern gegenstandslos geworden,
weil der gesellschaftliche Mensch selber gegenstandslos geworden ist. Aber auch
diese Gegenstandslosigkeit erweist sich als bloßer Schein, in dem sich
das "automatische Subjekt" gewissermaßen in den Köpfen
der Menschen Illusionen über sich selbst macht. Die kapitalistische Realität
soll entwirklicht werden, weil sie ausweglos am absoluten Ende ihrer Entwicklung
angekommen ist, ohne daß die systemisch konditionierten Menschen diese
historische Krise wahrhaben wollen. Aber hinter dem glatten Design der Warenästhetik
zeigt sich unerbittlich ihre wahre negative Existenz. Ihrem realen Leiden können
sie nicht entfliehen, auch wenn sie versuchen, sich selber medial zu entwirklichen.
Die "herausgelöste Ökonomie" kann sich immer nur tautologisch
in sich selbst integrieren, aber ihr Anspruch auf reibungslose Totalisierung
muß scheitern, weil sie das wirkliche, sinnliche Leben zwar negativ machen,
aber nicht ihrer surrealen Welt der verselbständigten Abstraktionen einverleiben
kann - ebensowenig wie sie imstande ist, den Tod zu entwirklichen. Das Verdrängte
kehrt nicht zurück, es ist immer schon da. Nur an der Oberfläche des
Designs erscheint das System der Spaltungen in die Ökonomisierung der Welt
aufgelöst. Hinter diesem Schein aber wird die desintegrierte reale Welt
unerträglich. Wie die geschlechtliche Abspaltung nicht in der Travestie
verschwindet, sondern die postmoderne "Verwilderung des Patriarchats"
(Roswitha Scholz) auch nach der Zersetzung der bürgerlichen Familie die
Lasten der sozialen Krise primär auf die Frauen abwälzt, ebensowenig
verschwindet das ästhetische Elend der funktionalistisch zugerichteten
Welt im warenästhetischen Design, sondern tritt in der Trostlosigkeit der
ökonomisierten öffentlichen Räume umso krasser hervor.
Wenn die reale Krise nicht mehr länger verdrängt werden kann, geht
die mediale Entwirklichung dazu über, das unüberwundene und schmerzhaft
wahrgenommene Elend zu "ästhetisieren", auch wenn diese Ästhetisierung
der Krise nicht mehr die politischen Formen der 30er Jahre annimmt, sondern
sogar in der Politik selber "ökonomisiert" in Erscheinung tritt.
Aber aus der kommerziellen, warenästhetisch aufbereiteten Medialisierung
von Armut, Gewalt und Verwilderung der Geschlechterverhältnisse grinsen
die Motive des Faschismus heraus. Die Ästhetik von medialer Derealisation
und maßstabsloser Beliebigkeit ist die Ästhetik des Bürgerkriegs
und der Barbarei, denn sie beseitigt letzten Endes auch die zivilisatorischen
Hemmungen.
Eine Rückkehr in die klassische Moderne kann es ebensowenig geben wie die
Rückkehr in die alten agrarischen Formen der kulturell integrierten Gesellschaft.
Aber ein Weiterleben in der kapitalistischen Desintegration ist ebensowenig
möglich. Auch die Kunst kann sich nur selbst positiv aufheben, indem sie
bewußt zum Moment einer neuen sozialen Bewegung wird, die über den
alten Arbeiterbeweguns-Marxismus hinausgeht und die Wurzel bloßlegt, die
das System der Abspaltungen und funktionellen Trennungen hervorgebracht hat.
Eine kulturelle Integration der Gesellschaft auf neuer, höherer Stufenleiter
der Entwicklung wird nur möglich sein, wenn der Selbstzweck der Ökonomie
gebrochen und die basale geschlechtliche Abspaltung aufgehoben wird. Die Voraussetzung
einer neuen emanzipatorischen Debatte ist heute die Notwehr gegen die kapitalistische
Ökonomisierung der Welt.