Krise und Kritik der Warengesellschaft |
erschienen in:
Folha Mai 2003 Robert Kurz DIE
JEUNESSE DORÉE DER GLOBALISIERUNG Lange Zeit schienen sich die gegensätzlichen intellektuellen Aussagen über den Charakter der Globalisierung die Waage zu halten: Sind die Risiken größer oder sind es die Chancen? Haben wir es mit einer objektiven Schranke der kapitalistischen Entwicklung zu tun oder mit einer neuen Ära der Akkumulation von Kapital? Nimmt die globale Armut zu oder nimmt sie ab? Theorie stand gegen Theorie, Analyse gegen Analyse, Statistik gegen Statistik, Interpretation gegen Interpretation. In Wahrheit wurde diese ganze Debatte durch eine Intelligentsia bestimmt, die in den westlichen Zentren die Entwicklung von einem komfortablen Logenplatz aus verfolgte. Das Räsonnement war platonisch; es ging nicht um die eigene soziale Haut. Es war das Glasperlenspiel einer Virtualität, die ihren harten sozialen Kern nicht zeigen mußte. Das hat sich in den letzten Jahren gründlich geändert. Seit dem Zusammenbruch der New Economy im Frühjahr 2000 greift die soziale Krise auch in den westlichen Ländern immer weiter um sich. Unter die Räder kommen jetzt nicht mehr bloß Randgruppen ohne starke Repräsentanz (Langzeitarbeitslose und Sozialhilfeempfänger, Migranten und Illegale, Asylbewerber, alleinerziehende Mütter, Behinderte, die Gruppen der Altersarmut usw.), sondern auch die Mitte der Gesellschaft wird erfaßt. Die Einkommen der großen Mehrheit sinken, die sozialen Sicherungssysteme zerfallen, die öffentlichen Dienste werden abgebaut, die medizinische Versorgung der Normalbürger ist gefährdet. Die Privatisierung der Risiken nimmt ein Ausmaß finanzieller Belastungen an, das den bisherigen Lebensstandard zerstört und die Binnenökonomie abwürgt. Vor allem aber hat die sozialökonomische Krise gerade den Teil der westlichen Gesellschaften tief getroffen, der das am allerwenigsten erwartet hatte, nämlich die vermeintliche "Gründergeneration" der IT- und Internet-Branche, im weiteren Sinne die Kompetenz-Schichten der sogenannten Informations- oder Wissensgesellschaft, die schon als große Gewinner der Globalisierung gehandelt worden waren. Der liberale Soziologe Ralf Dahrendorf hat noch vor kurzem von der "globalen Klasse" in diesem Sinne gesprochen, die ihm als neues Paradigma sozialer Herrschaft erschien. Diese "Klasse", so Dahrendorf, habe begonnen, "den Ton anzugeben", ihre Werte zu verallgemeinern, ihre spezifischen Neigungen zu den Träumen der vielen zu machen. Das ist zweifellos richtig. Und man muß den sozialen Zirkel dieser "globalen Klasse" sogar noch erweitern. Dazu gehören nicht nur die Software-Industrie und die Internet-Dienstleistungsbetriebe wie "Amazon" usw., sondern auch die "harten" Technologien einiger im Zuge der Globalisierung aufgestiegenen Sektoren der Produktion und der industriellen Dienstleistungen, so zum Beispiel außer den Hardware-Produzenten die Flugzeugindustrie und die Fluggesellschaften. Ferner sind es kommerzielle Dienstleistungen wie die Tourismus- und die Werbeindustrie, die zwar auch schon in Zeiten des Fordismus ihre erste Blüte hatten, aber im Zuge von 3. industrieller Revolution und Globalisierung einen neuen Schub erlebten. Nicht zuletzt handelt es sich um "ideologische Produktion" im weitesten Sinne, um ein Feld von kulturindustriellen Tätigkeiten, die sich besonders in den 90er Jahren ausdehnten. Auf diesem Feld ist eine breite Schicht von neuen Medienarbeitern entstanden, die das Schlagwort von der "Wissensgesellschaft" kreiert und feuilletonistisch verbreitet haben, um sich selbst zu feiern. Genau diese durch den Prozeß der Globalisierung besonders forcierten vermeintlichen Zukunftsfelder wurden am heftigsten vom Wirbelsturm der Krise überzogen und in ein ökonomisches Trümmerfeld verwandelt. Es hat sich bekanntlich herausgestellt, daß die ganze Herrlichkeit nur auf einer globalen Finanzblasen-Konjunktur beruhte. Noch sind nicht alle Blasen geplatzt, aber bereits ein genügend großer Teil, um den heftigen Rückschlag auf die reale Ökonomie auszulösen, der zuerst gerade die innovativen Sektoren niederreißt. Die neuen Technologien und die neuen Medien verschwinden deswegen natürlich nicht; ebensowenig wird die Globalisierung rückgängig gemacht. Aber es wird unübersehbar deutlich, daß 3. industrielle Revolution und Globalisierung keine neue Ära des kapitalistischen Wachstums bringen können. Die technologischen Potenzen und die planetarische Vergesellschaftung des 21. Jahrhunderts sind völlig unvereinbar mit den bisherigen sozialökonomischen Formen der Moderne. Der Westen und die asiatischen Zentren erleben jetzt denselben Prozeß der gesellschaftlichen Auflösung und der Barbarei, den die an der "nachholenden Modernisierung" gescheiterten Regionen der 3. Welt bereits durchlaufen haben. Die Ambivalenz der Interpretationen erlischt, die Sache ist negativ entschieden. Natürlich handelt es sich dabei nicht bloß um einen objektiven Prozeß. Das soziale Bewußtsein muß auf irgendeine Weise die hereinbrechende Krise verarbeiten. Das betrifft vor allem jene neuen sozialen Schichten, die laut Dahrendorf begonnen hatten, kulturell-symbolisch "den Ton anzugeben", und deren Felder jetzt untergepflügt werden. Mit welcher Mentalität und mit welcher Ideologie haben wir es dabei zu tun? Dahrendorf illustriert die "globale Klasse" mit jenen bekannten Figuren, die "viel Zeit in den Lounges internationaler Flughäfen verbringen" und dort pausenlos in ihre Mobiltelefone plappern. Es sind die Leute, die Tony Blair an die Macht gebracht haben und in seiner Doktrin als "New Labour" firmieren. In Deutschland heißt das Label "neue Mitte". Es ist keine Klasse von kapitalistischen Großmoguln, auch wenn Bill Gates zu ihnen zählt; ebensowenig aber ist es eine klar definierte "Arbeiterklasse". Man könnte sie als "Unternehmer ihres Humankapitals" bezeichnen, egal in welcher Form sie sich selbst investieren. Oft sind es mobile Dienstleister, vom Computerfreak bis zum Hilfs-Animateur beim "Club Meditérrane". Der Typus ist weltweit anzutreffen, aber natürlich wie die Globalisierung in unterschiedlicher Dichte. Ist es in der 3. Welt nur eine winzige städtische Schicht, so finden wir in den westlichen Ländern eine breite Basis von sozialen Gruppen mit einem bestimmten Lebensentwurf, die sich als Teil der "globalen Klasse" zumindest der Möglichkeit nach empfinden konnten. Auch diejenigen, deren ökonomische Position in Wahrheit schon von Anfang an prekär war, durften sich mit Hilfe der sozialen Netze (oder familialen Rückhalts durch die älteren Generationen des längst vergangenen "Wirtschaftswunders") eine Zukunft in der "neuen Mitte" imaginieren und in gewisser Weise am "kulturellen Kapital" (Bourdieu) der scheinbar zukunftsträchtigen neuen Sektoren teilhaben. Aber egal, ob soziale Aufsteiger in der kurzen Ära der New Economy oder bloß ideologische Träumer der "Wissensgesellschaft", ob kulturindustrielle Kleinunternehmer oder billige Medienarbeiter: Es ist eine Klasse von ökonomischen und politischen Illusionisten. Sogar die zur Schau getragene Kompetenz und Professionalität sind oft bloße Produkte der Simulation. Der postmoderne ideologische Kult der Virtualität hat seine technologische Grundlage in den Scheinwelten der neuen Medien und im entwirklichten Kommunikationsraum des Internet. Ökonomisch entspricht ihm die luftige Architektur des heute zu Ende gehenden Finanzblasen-Kapitalismus, politisch die Inszenierung von medial aufbereiteten Kunstfiguren und von Design-Vokabeln nach dem Muster der kommerziellen Werbung. Diese Virtualität bestimmt das Bewußtsein der in den 90er Jahren sozialisierten Jugend, die ein wesentliches Segment der diffusen "globalen Klasse" ausmacht. Insgesamt sind es junge Leute (etwa zwischen 25 und 40), die das Bild der "neuen Mitte" bestimmen. Einerseits hat diese junge "globale Klasse" weder Vergangenheit noch Zukunft, sie ist der Geschichtslosigkeit des totalen Marktes verfallen. Andererseits ist sie dennoch auch das Produkt einer bestimmten historischen Erfahrung. Ihre Stunde Null war das Ende des Sozialismus, der Zusammenbruch der Befreiungsbewegungen und Entwicklungs-Regimes in der 3. Welt, der Niedergang des alten marxistischen Paradigmas, das Verstummen emanzipatorischer Gesellschaftskritik und der Verfall theoretischer Reflexion überhaupt. In vieler Hinsicht kann man von einer Jeunesse dorée sprechen, einer "goldenen Jugend", leichtlebig, konsumfreudig und süchtig nach Vergnügungen. Das Urbild dieser Bezeichnung war die gegenrevolutionäre Pariser Jugend nach dem Sturz der Jakobiner (1794). Es waren die Kinder einer reichen großstädtischen Minderheit wie heute in der 3. Welt, getrennt vom Gros ihrer Altersgenossen. In den westlichen Zentren dagegen ist es die Mehrheit einer bestimmten Generation, die jetzt ihr sozialökonomisches Waterloo erleben muß. Die "globale Klasse" im weiteren Sinne ist immer noch jung, aber ihre Zukunft ist schon vorbei. Das ist nicht nur an ökonomischen Parametern abzulesen. Viele konnten das soziale Desaster noch gar nicht verarbeiten, in das ihre Träume und Imaginationen sich aufgelöst haben. Der Schock der Realität geht aber über die Erfahrung hinaus, daß man zum Beispiel seine Miete nicht mehr bezahlen kann oder sich plötzlich nach den hochfliegenden Hoffnungen der New Economy in jämmerlichen Billigjobs wiederfindet. Es war auch die Erschütterung des 11. September, die der Postmoderne das Genick gebrochen hat. Die Symbolik dieses terroristischen Angriffs springt ins Auge, wenn man Dahrendorfs Beschreibung der "globalen Klasse" liest: "Die im Wolkenkratzer der Möglichkeiten Angekommenen mögen es nicht bis zur Spitze schaffen; die Spitze ist heutzutage weit weg für die Mehrheit...Aber während manche Fahrstühle nur bis zum 10. Stock fahren und andere erst im 50. beginnen, gibt es doch für alle eine Fahrt nach oben. Dann aber sind da diejenigen, die nicht einmal das Erdgeschoß des Hochhauses der Möglichkeiten erreichen". Die brutale Zerstörung der Twin Towers und das Brandmal von "Ground Zero" haben der "globalen Klasse" und ihren ideologischen Mitläufern mit einem Schlag deutlich gemacht, daß ihr "Wolkenkratzer der Möglichkeiten" nicht die ganze Welt ist, und daß die barbarische "Furie der Zerstörung" auch die Zentren nicht verschont. Das Ende der ökonomischen Illusionen ist auch das Ende der "Sicherheit". Um ermessen zu können, wie die jetzt nicht mehr so goldene Jeunesse dorée der abgestürzten Postmoderne ihre eigene Krise verarbeitet, kann als Indikator die entsprechende Generation der radikalen Linken herangezogen werden. Zwar ist das eine kleine ideologische Minderheit, die aber als integraler Teil der Gesellschaft dieselbe Sozialisation durchlaufen hat, demselben Milieu und denselben sozialen Sektoren entstammt. Gerade, weil sie sich innerhalb dieses Bezugs mit dem Anspruch reflektierten Denkens legitimieren muß, kann sie als Seismograph für allgemeinere Tendenzen dienen. Diese Linke hat ihre Radikalität längst selber virtualisiert, dem Muster der umgebenden Gesellschaft entsprechend. Die harte ökonomische Kritik wurde weitgehend durch einen weichen Kulturalismus ersetzt. Deshalb steht die linke Minderheit ebenso unvorbereitet den ökonomischen und politischen Katastrophen der zusammenbrechenden Postmoderne gegenüber wie die große Mehrheit der "globalen Klasse". Unter dem Druck der realen Erscheinungen, die sich nicht mehr entwirklichen lassen, lösen sich die ohnehin schon ausgelaugten Paradigmen einer Gesellschaftskritik vollends auf, deren Begriffe untauglich geworden sind. In der gegenwärtigen Weltkrise gerät der gemeinsame gesellschaftliche Boden der konkurrierenden sozialen Kräfte ins Wanken, die gemeinsamen kategorialen Formen zerbrechen, das gemeinsame Bezugssystem stößt an Grenzen. Der linke Flügel der "globalen Klasse" und ihrer Jeunesse Dorée ist völlig unfähig, sich diesem Problem zu stellen. Ein Teil flüchtet in regressive Reaktionen. Die kulturalistische Umdeutung von Kapitalismuskritik und Antiimperialismus nähert sich reaktionären Ideen an, lädt sich mit Antisemitismus und neonationalistischen Interpretationen auf. Der Begriff der "Völker", wie er gegen die negativen Konsequenzen der kapitalistischen Globalisierung mobilisiert werden soll, enthüllt seine anti-emanzipatorische Qualität "ethnischer" Bornierung. Das Spektrum der ideologischen Regression reicht von der nationalkeynesianischen Nostalgie bis zum folkloristischen Projekt und sogar bis zur Sympathie mit Selbstmordattentätern. Ein anderer Teil der Linken in der "globalen Klasse" möchte sich hinter die Mauern des imperialen Limes flüchten, um die Barbarei draußen in der 3. Welt festzubannen. Diese Linke wird plötzlich so dumm proamerikanisch, wie ihre Väter dumm antiamerikanisch waren. Man beschwört unreflektiert die "westlichen Werte", den "Mythos New York" und die Wonnen des Warenkonsums. Die Kapitalismuskritik wird fallengelassen; erst einmal soll die US-Militärmaschine "Ordnung" schaffen. Diese Alternativen sind so unappetitlich, daß einige davon abgestoßene junge Linke der untergehenden "globalen Klasse" sogar auf den fossilen Traditionsmarxismus zurückgreifen möchten. Aber die Welt der Dampfmaschinen-Proletarier ist so weit entfernt von den heutigen sozialen Existenzen der Krise, daß diese Art der Nostalgie die am wenigsten ernst zu nehmende ist. Der linke Flügel der abstürzenden postmodernen Jeunesse Dorée zeigt in seinen ignoranten Reaktionen, daß die "globale Klasse" insgesamt paralysiert ist. Aber vielleicht sind diese lebensgeschichtlich immer noch Jungen, die sich nicht von der Sozialisation der 90er Jahre lösen können, in Wahrheit schon die Alten, und die jetzt 30-jährigen Linken so etwas wie "rote Großväter". Bei den weltweiten Massendemonstrationen gegen den Irak-Krieg trat eine neue Generation von 15-20-Jährigen in Erscheinung, für die das Weltbild der New-Economy-Generation und ihrer Linken schon Geschichte ist. Sie werden hoffentlich besser begreifen, daß neue Zeiten und neue Krisen auch neue Antworten emanzipatorischer Gesellschaftskritik verlangen. |