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Robert Kurz

Gibt es einen konfuzianischen Kapitalismus?
Anmerkungen zu einem asiatischen Mißverständnis



Seit langem ist die wechselseitige Beeinflussung von Ökonomie und Kultur im weitesten Sinne ein Thema der Sozialwissenschaften. Dabei sind im wesentlichen zwei Denkrichtungen zu beobachten: Die einen gehen von den allgemeinen Gesetzen des Kapitalismus aus und zeigen, wie die traditionellen Kulturen von der modernen Ökonomie zersetzt werden; die anderen gehen umgekehrt von der Verschiedenartigkeit der Kulturen aus und zeigen, wie der Kapitalismus seinerseits kulturell überformt wird und aus den großen Kulturkreisen ganz verschiedene Versionen seiner allgemeinen Logik hervorgehen. Diese Verbindung von Ökonomie und Kulturgeschichte, die seit Werner Sombart und Max Weber besonders in Deutschland gepflegt wurde, hat den Begriff der "Wirtschaftsstile" (Bertram Schefold) hervorgebracht. Heute findet dieser Ansatz im Westen große Beachtung. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu spricht vom "kulturellen Kapital", und der US-amerikanische Historiker Samuel Huntington sieht nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus sogar einen "Krieg der Kulturen" heraufdämmern. Gleichzeitig beruft sich das neue Selbstbewußtsein des asiatischen Kapitalismus auf eine eigene "kulturelle Identität", die derjenigen des "dekadenten Westens" überlegen sei.
Max Weber, der gerne als Vorläufer dieses ökonomischen Denkens in kulturellen Kategorien gehandelt wird, hatte freilich nicht die Vorstellung eines Kapitalismus im kulturellen Plural, als er seine Soziologie der Weltreligionen schrieb und das Verhältnis der religiös bestimmten Kulturen zum modernen Kapitalismus untersuchte. Ihm ging es vielmehr um die historische Entstehung des Kapitalismus selbst und um die Frage des Übergangs zur Moderne. Denn in allen vormodernen Gesellschaften, auch in Europa, waren die sozialen und ökonomischen Motive religiös bestimmt, also unvereinbar mit dem abstrakten Kalkül des "homo öconomicus". Die Theorie mußte erklären, warum es nur in West- und Nordeuropa eine authentische Geburt des Kapitalismus gegeben hatte, während diese Produktionsweise den anderen Teilen der Welt von außen aufgezwungen wurde. Bekanntlich kam Weber zu dem Schluß, daß die religiöse Ideologie des Protestantismus der einzige geeignete Übergang zu einer kapitalistischen Mentalität war, während die anderen religiösen Kulturen, darunter auch Buddhismus und Konfuzianismus, kein passendes kulturelles Unterfutter für die Entwicklung des Kapitalismus bilden konnten.
Interessant ist, wie Weber diese These begründet hat. Es war ihm durchaus bewußt, daß sowohl der puritanische Protestantismus als auch die konfuzianische Ethik eine starke Arbeitsmoral und ein rationalistisches Denken bevorzugten. Warum sollte dann der Konfuzianismus nicht ebenso geeignet für die Hervorbringung des Kapitalismus sein wie der Protestantismus? Für Weber war, wie er in seiner "Wirtschaftsethik der Weltreligionen" schreibt, der entscheidende Unterschied die Bedeutung der sozialen Beziehungen außerhalb des ökonomischen Systems im engeren Sinne: "Die konfuzianische Ethik beließ die Menschen höchst absichtsvoll in ihren naturgewachsenen oder durch die sozialen Über- und Unterordnungsverhältnisse gegebenen persönlichen Beziehungen. Sie verklärte diese, und nur diese, ethisch und kannte letztlich keine anderen sozialen Pflichten als die durch solche persönlichen Relationen von Mensch zu Mensch, von Fürst zu Diener, vom höheren zum niederen Beamten, vom Vater und Bruder zum Sohn und Bruder, vom Lehrer zum Schüler, von Freund zu Freund geschaffenen menschlichen Pietätspflichten. Der puritanischen Ethik dagegen waren eben diese rein persönlichen Beziehungen - obwohl sie sie natürlich, soweit sie nicht gottwidrig waren, bestehen ließ und ethisch regelte - dennoch leicht verdächtig, weil sie Kreaturen galten. Die Beziehung zu Gott ging ihnen unter allen Umständen vor. Allzu intensive, kreaturvergötternde Beziehungen zu Menschen rein als solchen waren unbedingt zu meiden. Denn das Vertrauen auf Menschen, gerade auf die natürlich nächststehenden, würde der Seele gefährlich sein...Daraus folgen praktisch sehr wichtige Unterschiede beider ethischer Konzeptionen, obwohl wir doch beide in ihrer praktischen Wendung als >rationalistisch< bezeichnen und obwohl sie beide >utilitaristische< Konsequenzen zogen".
Ersetzt man den puritanischen "Gott" durch den ökonomischen Wert oder schlicht das Geld, dann wird sofort die westliche wirtschaftsliberale Konzeption des Menschen als eines vereinzelten Egoisten sichtbar, der alle persönlichen sozialen Bindungen auf dem Altar der abstrakten ökonomischen Rationalität und des rein individuellen Erfolgs opfert. Und weil der Konfuzianismus diesem Impuls grundsätzlich widerstrebt, hielt Max Weber ihn im Gegensatz zum Protestantismus für kapitalistisch ungeeignet. Es mag dabei strittig sein, ob nun die spezifische protestantische Religiosität sich säkularisiert und dadurch den Kapitalismus hervorgebracht hat, oder ob nicht vielmehr der entstehende Kapitalismus sich die protestantische Ideologie zunutze gemacht und sie nach seinem Bilde weltlich zugeschnitten hat. Fest steht jedenfalls, daß nur dieses europäische Amalgam von Protestantismus und Kapitalismus die moderne Welt des totalen Marktes gezeugt hat, während in den viel älteren Kulturen von China, Japan und dem übrigen Asien der Kapitalismus erst zusammen mit fremden, europäischen Ideen importiert und nicht von innen heraus entwickelt wurde.
In diesem historischen Sinne kann Max Weber gar nicht mehr widerlegt werden. Trotzdem gilt seine These über die mangelnde kapitalistische Anschlußfähigkeit des Konfuzianismus (aber auch des Buddhismus und der asiatischen Mentalität überhaupt) mittlerweile als falsch, weil China, Japan und die "kleinen Tiger" heute einen spezifisch asiatischen Kapitalismus zu kreieren scheinen, der von der westlichen Version grundsätzlich abweicht, auf eigene kulturelle Traditionen zurückgreift und als ungemein erfolgreich gilt. Ist also der sozial bindungslose, nur dem "Gott" des Geldes verpflichtete ökonomische Individualismus womöglich gar nicht essentiell für die kapitalistische Produktionsweise? Sehen wir in Asien die Geburt eines anderen, sogar überlegenen Kapitalismus, der auf das "kulturelle Kapital" der persönlichen und sozialen Loyalität zurückgreift? Neuerdings wird dieser Gedanke auch von dem US-amerikanischen Politologen Francis Fukuyama verfochten, der mit seiner These vom "Ende der Geschichte" bekanntgeworden ist.
Ich glaube, daß wir es hier mit einer großen Illusion zu tun haben, die nur durch die historische Ungleichzeitigkeit der Entwicklung zu erklären ist. Der asiatische Kapitalismus kreiert kein neues Modell, sondern er durchläuft nur eine Etappe der kapitalistischen Entwicklung, die auch dem Westen in der Vergangenheit nicht fremd war. Alle vor- und frühmodernen Gesellschaften, auch die europäischen, waren durch eine Struktur der autoritären Ehrerbietung von unten nach oben, durch ein System der persönlichen Loyalitäten und Abhängigkeiten sowie durch eine rigorose Moral geprägt. Das ist keine asiatische Spezialität, sondern ein allgemeines Kennzeichen des Übergangs von Agrargesellschaften zum Kapitalismus. Wenn dabei allein die individualistische Ideologie des Protestantismus einen eigenen, authentischen Kapitalismus hervorbringen konnte, dann ist kaum anzunehmen, daß die asiatischen Länder, die den Kapitalismus bloß importiert haben, das Stadium der autoritären Bindung und der persönlichen Loyalität ausgerechnet durch kulturelle Formen konservieren können, die dem Kapitalismus schon früher nicht von sich aus entgegengekommen sind. Das neue Selbstbewußtsein der Asiaten ist ein Selbstbetrug, denn ihre Eigenständigkeit haben sie schon durch die Übernahme des Kapitalismus selbst aufgegeben.
Daß die Strukturen des asiatischen Kapitalismus historisch rückständig sind und ökonomisch dem Weltmarkt nicht langfristig standhalten können, mag gegenwärtig durch kurzfristige Konkurrenzvorteile verdeckt werden, die gewissermaßen die (vorübergehenden) "windfall profits" der historischen Ungleichzeitigkeit bilden; allerdings nur für Minderheiten in einigen wenigen Ländern. Der hauptsächliche Faktor dabei sind allerdings nicht spezifisch asiatische Formen des "kulturellen Kapitals", sondern hohe Wachstumsraten einfach aufgrund der niedrigen Ausgangsbasis, wie sie schon früher bei anderen industriellen Newcomern wie z.B. der Sowjetunion in den 30er Jahren zu beobachten waren, ohne daß daraus ein dauerhaftes neues "Erfolgsmodell" wurde. Nur vor diesem ökonomischen Hintergrund können autoritäre Loyalitätsbeziehungen für einige Zeit eine flankierende Funktion des Erfolgs bilden.
Wenn dabei sowohl das Verhältnis der einzelnen Bürger zum Staat als auch das Verhältnis der Lohnarbeiter zum Unternehmer quasi als persönliche und wechselseitige Loyalitätsbeziehung von "Fürst zu Diener" reinterpretiert wird, dann ist das nur eine Maske für die kapitalistische Versachlichung und Anonymisierung aller sozialen Strukturen. Auch der europäische Frühkapitalismus kannte patriarchalische Unternehmen, in denen die soziale Abhängigkeit noch quasi-feudal als Verhältnis von "Herr" und "Gefolgschaft" erschien. Ebenso ist der autoritäre Eingriff des Staates in die Ökonomie und die Förderung korporatistischer Zusammenschlüsse im Dienste der "Nation" vom Absolutismus bis zu den Modernisierungs-Diktaturen des 20. Jahrhunderts nur eine Verpuppungs-Phase der modernen kapitalistischen Demokratie und ihres abstrakten Individualismus gewesen, der jede soziale Loyalität zersetzt. Soweit er eine starke staatliche Moderation der Ökonomie und eine Abschottung seiner Binnenmärkte bevorzugt, wiederholt der asiatische Kapitalismus die merkantilistische Epoche des Westens, und eine gewisse Uniformierung der Bürger, das ständige Absingen der Nationalhymne usw. bilden höchstens eine oberflächliche kulturelle und habituelle Begleitmusik dieses Prozesses.
Die Übertragung derartiger ritueller Übungen auf die betriebswirtschaftliche Ebene in Japan, etwa der quasi-militärische gemeinsame Frühsport der Beschäftigten oder das feierliche Absingen von "Firmenhymnen", wurde im Westen bis zur Lächerlichkeit als "neue Geheimwaffe" der asiatischen Management-Philosophie mißverstanden und durch Konzepte der "corporate identity" nachgeäfft, während es sich in Wirklichkeit um bloße Übergangserscheinungen von der feudalen zur kapitalistischen Mentalität handelt. Unter dem Druck der Globalisierung verfällt heute schon in ganz Asien der staatlich moderierte Korporatismus ebenso wie die patriarchalische betriebswirtschaftliche Loyalität. Auf den Binnenmärkten setzt sich die Logik der Konkurrenz durch, und an die Stelle der asiatischen "corporate identity" tritt unaufhaltsam das erzkapitalistische Prinzip von "hire and fire".
Nicht besser wird es auf die Dauer den engen blutsverwandtschaftlichen Bindungen und Verpflichtungen gehen, die ebenfalls nichts spezifisch asiatisches sind. Bis heute sind in der ganzen Welt "große Familien" und Clans in mehr oder weniger großem Umfang als Fossile der Modernisierungsgeschichte übriggeblieben, in Arabien, Afrika und Lateinamerika ganz genauso wie in China oder Singapur, ohne daß sie ein "kapitalistisches Modell" darstellen. Der konfuzianische familiale Kleinkapitalismus in China mag heute einen Teil des Wachstums tragen; er bleibt aber auf sekundäre Dienstleistungen beschränkt und kann die Staatsindustrie nicht ersetzen. Für die Exportindustrialisierung nach Kriterien des Weltmarkts wird er schon mittelfristig eher ein Hindernis sein. Auch die als Beispiel für erfolgreiches Unternehmertum gelobten asiatischen Immigranten in den USA besetzen meistens bloß ökonomische Nischen im Handel und Gaststätten-Gewerbe, die keineswegs ein eigenständiger Kapitalismus sind. Das Prinzip dieses Erfolgs ist einfach: die familiale Loyalität wird brutal ausgebeutet, einschließlich Kinderarbeit und Arbeit ohne Lohn, um billig anbieten zu können. Nach demselben Prinzip verfahren oft südeuropäische Immigranten aus der Türkei, Griechenland, Spanien usw. als Gastwirte oder Lebensmittelhändler in Deutschland. Aber wie viele Generationen trägt diese Struktur der Familien-Sklaverei? Davon wird nicht viel übrigbleiben.
Der Prozeß der kapitalistischen Individualisierung, der die Familienbindung zersetzt, wie schon Marx und Engels im "Kommunistischen Manifest" schrieben, hat heute auch die großstädtischen Zentren Asiens erreicht. Und er wird vor dem Kodex der konfuzianischen Moralpolizei nicht halt machen. In Singapur, so lese ich, wird das Spucken auf den Boden und das Pinkeln in Aufzüge mit Stockprügeln bestraft. Man fragt sich: Haben die Einwohner von Singapur vorher gewohnheitsmäßig in die Aufzüge gepinkelt? Solche Vorschriften erinnern fatal an die deutschen Polizeiordnungen des 16. Jahrhunderts, als die europäische Welt sich noch auf dem Weg zum (kapitalistischen) "Prozeß der Zivilisation" (Norbert Elias) befand und sogar das Intimleben polizeilich geregelt wurde. Die spätkapitalistischen Individuen pinkeln auch ohne polizeiliche Drohung nicht in Aufzüge; aber wie sie ihre intimen Reflexe unter Kontrolle haben, so kalkulieren sie auch ihr sexuelles Leben jenseits der rigiden altväterlichen Moral. Nicht der Rausch und die Hemmungslosigkeit ist im Westen an deren Stelle getreten, sondern die Kommerzialisierung der Sexualität und sogar der Gefühle. Es ist absurd, wenn ausgerechnet die asiatischen Newcomer, die bekanntlich nicht nur vom Export ihrer Autos und Chips, sondern auch vom Sextourismus leben, einen Kapitalismus auf der Basis konfuzianischer Moral begründen wollen. Zusammen mit dem automatischen Subjekt des Geldes, MacDonalds und Hollywood haben sie sich schon längst selber den Virus der "westlichen Dekadenz" eingefangen.
Gerade die USA, aber inzwischen auch Europa zeigen heute, daß das Endstadium jedes Kapitalismus die vollständige Auflösung der Gesellschaft in autistische abstrakte Individuen ist. Schon vor mehr als 150 Jahren hat Alexis de Tocqueville vorausgesehen, daß die moderne Gesellschaft daran zerbrechen wird. Nicht nur der republikanische Präsidentschaftskandidat Bob Dole beschwört vor- und frühmoderne Ideale, um diese Gefahr zu bannen. Francis Fukuyama schielt inzwischen auf der Suche nach einer Unterstützung des hemmungslosen Kapitalismus "durch bestimmte Aspekte der traditionellen Kultur" nach Asien. Er wünscht sich einen Kapitalismus, der "von kulturellen Traditionen durchsetzt ist, die nichtliberalen Quellen entspringen": eine Milderung des reinen Marktes durch das "soziale Kapital" freiwilliger, ziviler Korporationen und eines "allgemeinen gegenseitigen Vertrauens". Fromme Wünsche, kalter Kaffee. Einen pietätvollen, vegetarisch gewordenen konfuzianischen Kapitalismus wird es nicht geben, weil der säkularisierte puritanische Gott des Geldes in keiner einzigen Kultur andere Götter neben sich duldet und die nackten Individuen unmittelbar an sich fesselt. Max Weber wird wahrscheinlich mit seiner These einer mangelnden kapitalistischen Kompatibilität von Konfuzianismus und Buddhismus nicht nur für die Geschichte, sondern auch für die Zukunft recht behalten.