Robert
Kurz
Auf der
Suche nach dem verlorenen sozialistischen Ziel
Manifest für die Erneuerung
revolutionärer Theorie
(Initiative Marxistische Kritik, IMK (Hrsg.), 1988)
Inhalt
1. Die bisherige Linke
ist am Ende .......................... S. 9
2. Die Theorie muß ihr Recht bekommen ....................... S.
11
3 Eine Erneuerung des sozialistischen Ziels kann nur in einer fundamentalen
Kritik der Warenproduktion bestehen..........S. 15
4. Die alte Arbeiterbewegung konnte nur Entwicklungshelfer kapitalistischer
Vergesellschaftung sein ................. S. 23
5. Die wahren Totengräber des Kapitalismus werden erst heute geboren
.................................................. S. 49
6. Revolutionäre Intelligenz kann sich nur außerhalb des Wissenschaftsbetriebs
entwickeln ........................ S. 64
Nachwort ....................................................
S. 78
Anhang ...................................................... S. 94
Robert Kurz. Manifest,
April/November 1988
[Vorbemerkung: Die Seitentrennung bezieht sich auf die Original-Ausgabe]
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Vorwort
[S. 3-5]
I.
Das nachfolgende Manifest, Resultat eines mehrjährigen theoretischen Aufarbeitungsprozesses,
stellt keinen Endpunkt, sondern einen Ausgangspunkt dar. Es ist nicht unmittelbar
Anleitung zum Handeln im Sinne des üblichen politischen Praxis-Fetischismus,
sondern theoretisches Programm eines revolutionären Willens, der sich des
objektiven und subjektiven gesellschaftlichen Vermittlungsproblems bewußt
ist: ein Programm insofern für die "theoretische Praxis" selbst als ein
begriffenes Moment gesellschaftlicher Bewegung, das mit deren anderen Momenten
weder unmittelbar identisch noch auch nur synchron sein kann.
Die apodiktischen Formulierungen, wie sie dem Charakter eines Manifests entsprechen,
sollen keineswegs irgendeine Heilsgewißheit suggerieren oder eine neue
Glaubenswahrheit in die Welt setzen. Vielmehr wird die Kohärenz einer erarbeiteten
theoretischen Position "aus einem Guß" offengelegt, die für sich
allerdings in Anspruch nimmt, den Zugang zu einer radikalen Kritik "aller bestehenden
Gesellschaftsordnung" im Sinne des Kommunistischen Manifests erneut freizulegen.
Es ist dies kein theoretisches "Sesam öffne dich" für denkfaule Mitläufer
und Bekenner, sondern das Wiederaufnehmen einer verschütteten Dimension
des Marxschen Werkes, ohne daß wir uns diesem in einem bloß schriftgelehrten
Sinne auslegender Priester des "Marxismus" verpflichtet fühlen würden.
Gerade aus einer solchen Haltung heraus ist dieses Manifest gleichzeitig ein
hingeworfener Fehdehandschuh der gesamten heutigen Linken gegenüber, deren
Spektrum sich in reformistischer Verplattung, steriler Traditionspflege und
sprachloser Bauchmilitanz erschöpft.
Der Text gibt im wesentlichen die Anschauungen wieder, wie sie in der Zeitschrift
"Marxistische Kritik" sowie auf zahlreichen Seminaren in den vergangenen Jahren
entwickelt wurden; er geht aber über das bisher (wenige) Publizierte hinaus,
auch über den gesicherten Konsens der Redaktion der "Marxistischen Kritik",
die sich weder als abgeschottete monolithische Einheit noch den Theoriebildungsprozeß
als abgeschlossen begreift. Die Kernaussagen über die Befangenheit der
Linken in den warenfetischistischen Reproduktionsformen und über das Ende
der alten "Arbeiterbewegung" stellen allerdings eine verbindliche Grundlage
unserer Position dar mit einem einheitlichen Ansatz.
Die "Initiative Marxistische Kritik" (IMK) als Trägerkreis der Zeitschrift
und der Seminararbeit gibt dieses Manifest heraus, um sich einen Orientierungsrahmen
für die weitere theoretische Arbeit, Qualifizierung und öffentliche
Auseinandersetzung zu schaffen. Es handelt sich aber für sie weder um einen
theoretischen Katechismus noch um das Surrogat eines politischen Programms.
Im einzelnen gibt es auch innerhalb der IMK Vorbehalte und Unklarheiten gegenüber
diversen Aussagen der dargelegten Gesamtanschauung, so etwa hinsichtlich der
"Zusammenbruchstheorie", der Frauenbewegung, der Bestimmung des bürgerlichen
Staates etc. Die IMK betrachtet aber das Ganze der im Manifest entwickelten
Position als geeigneten
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und fruchtbaren Ausgangspunkt, um zu einer Erneuerung revolutionärer Theorie
auf der Höhe der Zeit zu gelangen.
Insofern ist das Manifest nicht nur als die notwendig schroffe Abgrenzung von
der bisherigen Linken, sondern gleichzeitig als Angebot zur Mitarbeit, theoretischen
Qualifizierung und Auseinandersetzung zu verstehen. Nicht im Sinne eines linken
Pluralismus ohne inhaltliche Verbindlichkeit, sondern als weitertreibendes Abarbeiten
an einer bestimmten und unmißverständlich klargelegten Position.
II.
Obwohl es sich um eine Manifestation auf dem Boden der Theorie selbst handelt
und noch nicht um eine unmittelbar praktische Kampfansage an die bestehende
Gesellschaft, kann sie doch nicht in einer neutralen wissenschaftlichen Form
und ohne jeden politischen Bezug vorgetragen werden. Auch die Theorie hat immer
an sich selbst schon das Moment des Kampfes, weil sie Teil der gesellschaftlichen
Praxis ist. Wir verstehen uns nicht als positivistische Wissenschaftler, die
zumindest ihrer Ideologie nach außerhalb dieser totalen Praxis stehen
und diese quasi nur unter dem Mikroskop beobachten, sondern vielmehr selbst
als aktives und kämpfendes Teilchen der von uns untersuchten Bewegung.
Der Ausgangspunkt für ein Programm zur Erneuerung revolutionärer Theorie
ist auch notwendigerweise nicht etwa voraussetzungslos die kapitalistische Gesellschaft
in ihrer Unmittelbarkeit, sondern der Zustand der Theorie und der Linken selbst,
gegen die wir polemisieren, weil sie ihren Frieden mit dieser Ordnung gemacht
hat oder bloß hilflos gegen deren Erscheinungsformen anrennt. Die Kritik
nicht bloß äußerlich, sondern auch immanent als ERKLÄRUNG
des kritisierten Zustands selbst zu leisten, erfordert gleichzeitig eine im
wesentlichen GESCHICHTLICHE Darstellung, in der nicht (wie es einem rein wissenschaftlichen
Vorgehen angemessener wäre) das Historische im Logischen impliziert ist,
sondern vielmehr das Logische anhand der historischen Entwicklung herausgearbeitet
wird.
III.
In der Abfolge der Kapitel handelt es sich zunächst einmal um die Geschichte
unserer eigenen kritischen Theoriebildung selbst, sozusagen um die "Jahresringe"
unserer Entwicklung, die sich dabei gleichzeitig als ein logisches, systematisches
Ganzes herausstellt. Ausgehend von der Kritik des gängigen linken Theorieverständnisses
spannt sich der Bogen über eine Kritik der Wertform und der Befangenheit
der Linken in dieser Form negativer, abstrakter Gesellschaftlichkeit bis hin
zu einer aufhebenden Kritik dieses Zustands durch eine Bedingungsanalyse der
alten Arbeiterbewegung und der auf diese bezogenen marxistischen Strömungen
hindurch (als deren Endprodukt wir die heutige Linke sehen), um schließlich
zu klassentheoretischen Schlußfolgerungen und zum sozialen Vermittlungsproblem
der Theorie selber zu kommen.
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Im Kapitel über Arbeiterbewegung und Demokratie, das deshalb auch den größten
Raum einnehmen muß, werden die vorher für sich behandelten Momente
des Theorieverständnisses und der Warenproduktion in einen größeren
historischen Erklärungszusammenhang gestellt; die Geschichte des Kapitalverhältnisses
wird so gleichzeitig als Geschichte der Arbeiterbewegung und der theoretisch-politischen
Linken selbst skizziert, wobei die allgemeine ENTWICKLUNGSLOGIK des Warenfetischs
und seiner Sekundärformen ebenso wie die spezifische Kritik bestimmter
linker Gruppen und Strömungen in Form kurzer Exkurse in diesem Rahmen dargestellt
werden.
Wir erwarten weder ungeteilte Zustimmung noch ein bloß betretenes Schweigen.
Wenn dieses Manifest zum Ärgernis für die Linke wird, dann hat es
seinen Zweck erfüllt.
Nürnberg, April
1988
Robert Kurz. Manifest,
April/November 1988
[Vorbemerkung: Die Seitentrennung bezieht sich auf die Original-Ausgabe]
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1. Die bisherige Linke ist am Ende
Die neue Linke ist alt
geworden und hat sich verbraucht; die Linke überhaupt in allen ihren Spielarten
erscheint nur noch als schwacher Schatten einer vergangenen Epoche. Die subjektive
Revolte von 1968 ist umgeschlagen in einen kläglich immanenten Machbarkeits-Reformismus
zwischen der grünen und der altsozialdemokratischen Staatsbürgerpartei,
während als angeschimmelter Bodensatz der früheren Bewegung noch ein
paar Sekten weitervegetieren. Die alten Kontroversen über den richtigen
Weg zur sozialistischen Revolution erscheinen schal und nichtssagend; sie interessieren
niemanden mehr. Die Revolutionen der 3. Welt sind erschlafft und geben keine
Identifikationsmuster mehr ab, ebensowenig der sowjetische Realsozialismus,
dessen politisch-ökonomische Substanz und Ideologie bröckelt wie das
Mauerwerk antiker Gebäude. Das einst scheinbar weltbewegende Schisma des
chinesischen und des sowjetischen Marxismus-Leninismus ist gegenstandslos geworden
und erscheint im nachhinein als ziemlich unbedeutende ideologische Episode.
Und trotz Massenarbeitslosigkeit und neuer Armut hat sich die Arbeiterbewegung
nicht zu neuer Radikalität erhoben, sondern führt korporatistische
Rückzugsgefechte auf dem wankenden Boden der Lohnarbeit. Der schlafende
Riese ist nicht erwacht, um mit der berühmten eisernen Faust die Ausbeuterordnung
zu zerschlagen, sondern um sich als hilfloser Greis von wohlmeinenden Bischöfen
zum Gebet und zur letzten Ölung geleiten zu lassen.
Die historische Ironie ist perfekt: die manifeste Krise des Kapitalismus wurde
gleichzeitig zur Krise des Marxismus selbst. Während sich die Widersprüche
des kapitalistischen Weltmarkts bis zum Zerreißen spannen, klopfen die
sogenannten sozialistischen Länder bescheiden an seiner Tür an und
bitten um Aufnahme. Mitten in der Krise des internationalen Kreditsystems und
am Vorabend eines möglichen Bankenkrachs ist die deutsche Linke mit der
Gründung einer Bank beschäftigt. Gerade in dem Augenblick, in dem
die allgemeine Krisenprognose von Marx sich zu aktualisieren scheint, gilt der
Marxismus bei immer größeren Teilen dieser Linken als obsolet oder
zumindest weitgehend ergänzungsbedürftig.
Aber die scheinbare Verrücktheit hat gute Gründe. Gerade die neue
Krise des kapitalistischen Weltsystems hat die traditionell gewordenen theoretischen
und programmatischen Leitsätze des bisherigen Marxismus fast noch mehr
dementiert als vorher die ungeheure Prosperität der Nachkriegsperiode.
Kein einziger dieser Leitsätze konnte in der neuen Krise gesellschaftliches
Gewicht gewinnen, keine einzige Prognose und Erwartung der Linken über
Inhalt, Verlaufsformen und Konsequenzen der Krise ist eingetroffen. Die alten
sozialistischen Ziele erstrahlten in dieser Krise und vor dem Hintergrund ihrer
realen Erscheinungsformen nicht etwa heller, sondern nahmen sich immer unwirklicher,
abgerissener und hilfloser aus. In Wahrheit hat die gesellschaftliche Krise
ans Licht gebracht, daß die marxistische Linke mit leeren Händen
dasteht. Es ist kein Trost, daß sich die angestrengte Wiederbelebung nicht-
und vormarxistischer linker Theorien fast noch gespenstischer ausnimmt und die
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archäologischen Ausgrabungen anarchistischer oder genossenschaftssozialistischer
Provenienz aus dem 19. Jahrhundert den Marxismus ebensowenig ergänzen können
wie die geradezu närrische Rückkehr zum demokratischen Ideenhimmel
des 18. Jahrhunderts und der französischen Revolution. Am Ende des 20.
Jahrhunderts wird der liberale Demokratismus auch als Ergänzungsideologie
zahnlos gewordener Marxisten nicht appetitlicher. Solche Verrenkungen führen
weder theoretisch noch praktisch weiter, sondern dienen bestenfalls der mehr
oder weniger gnädigen Bemäntelung des zu beobachtenden Zurückkriechens
eines Großteils der Linken in den Schoß jenes immer noch stinkenden
Leichnams, von dem Rosa Luxemburg schon 1914 gesprochen hat. Der grüne
Wechselbalg dieses unverwüstlichen Leichnams kann nicht beanspruchen, das
verlorene sozialistische Ziel auch nur im mindesten zu ersetzen.
Die Aufgabe einer Linken, die noch nicht jede Selbstachtung verloren hat und
nicht im Strudel des großen Hauptstroms eines reformistischen Pragmatismus
in der gesellschaftlichen Opposition untergehen will, kann nicht in irgendeiner
Form des Mitmachens bei den grünsozialdemokratischen Staatsbürgerparteien
bestehen, ebensowenig im Weiterbetreiben der Mühlen des politischen Sektenwesens,
das blind den politischen Konjunkturen hinterhertappt und sich stets von neuem
und stets vergeblich frischen Wind für die eigene Bruchbude erhofft.
Erst recht nicht kann es freilich Aufgabe einer solchen Linken sein, der realen
gesellschaftlichen Oppositionsbewegung zum Trotz an einer Spielart des traditionellen
Marxismus festzuhalten, sich in irgendeine revolutionäre Tradition (speziell
des russischen Bolschewismus) mit der ungebrochenen Gemütsruhe des Ignoranten
zu stellen und die Schlachten der Vergangenheit auf dem geduldigen Papier noch
einmal schlagen zu wollen. Die bisherige Linke ist in allen ihren Formen am
Ende; der historische Entwicklungsprozeß kapitalistischer Vergesellschaftung
ist über alle ihre Traditionen hinweggegangen.
Diese tief einschneidende Zäsur kann nicht übersehen werden. Nötig
ist nicht alter Wein in neuen Schläuchen, sondern eine marxistische Kritik
des gesamten bisherigen Marxismus selbst. Eine Erneuerung der revolutionären
Theorie auf der Höhe der heute erreichten kapitalistischen Vergesellschaftungsstufe
muß durch eine kritische Aufarbeitung der Geschichte des Marxismus hindurch,
sowohl der größeren Geschichte der alten Arbeiterbewegung als auch
unserer eigenen Geschichte seit 1968. Dies unterscheidet uns von denjenigen
Linken ebenso, die von der Marxschen Theorie heute nichts mehr wissen wollen
oder sie mit allerlei Flickwerk ideologisch zu ergänzen trachten, wie von
den unverbesserlichen Gralshütern einer vermeintlich gesicherten, nur von
allerlei Abweichlern beschmutzten reinen Lehre. Wir wenden uns daher weder an
die politikasternden Mitmacher noch an die letzten Gläubigen, sondern an
den Teil der Linken, dem das ewig vor sich hinkampagnende Weiterwursteln mit
dem Ohr am Puls der Massen ebenso obsolet geworden ist wie die mittlerweile
etwas verschämt gewordene Anbetung marxistischer Glaubenswahrheiten und
die Verehrung revolutionärer Ikonen einer unwiederbringlichen Vergangenheit.
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2. Die Theorie muß ihr Recht bekommen
Die Kritik würde bei weitem zu kurz greifen, wollte sie nichts weiter einklagen
als die Notwendigkeit sozialistischer Theoriebildung überhaupt. Dem Buchstaben
nach hat die Theorie immer ihr Recht bekommen. Keine Partei, Gruppe oder Strömung,
die nicht salbungsvoll den Anspruch mehr oder weniger endgültiger Klärung
aller mehr oder weniger unzeitgemäßen theoretischen Fragen erhoben
hätte. Kein undogmatisches pseudokritisches Geklingel, das nicht mit irgendeinem
Schmöker vom Dachboden der ausgemusterten Emanzipationstheorien hausieren
gegangen wäre. Und kein Linker, der sich nicht wenigstens einmal im Leben
unter Gähnkrämpfen durch eine Kapitalschulung gequält hätte.
An kleinen und großen Theorien, theoretischen "Organen" für den Hausgebrauch
der kommunistischen Sekten oder als linkssozialistische Begleitmusik zur Verstaatsbürgerlichung
der neuen Linken, an ziemlich massenhafter Theorieproduktion überhaupt
hat nie ein Mangel geherrscht. Jedes Verdauungsgeräusch des Zeitgeistes
wurde von der Linken theoretisch intoniert und heruntergeklimpert.
Aber auf dem Papier dieser Fluten theoretischer Produktion wurde den zur Kenntlichkeit
entwickelten Formen kapitalistischer Vergesellschaftung niemals ihre eigene
Melodie vorgespielt, um sie zum Tanzen zu bringen. Die Theorie bekam in Wirklichkeit
ihr Recht nicht, weil sie nie als eigengewichtiges Moment sozialer Emanzipationsbewegung
anerkannt worden war. Die Linke spielte den Verhältnissen nur die verschiedenen
Melodien ihrer eigenen Wunschträume, Willenserklärungen und politischen
Fingerübungen vor auf der zum bloßen INSTRUMENT degradierten Theorie.
Die revolutionäre Wissenschaft hat heute ihren Stolz und ihren Biß
verloren, weil sie von der Linken in ihrer Gesamtheit systematisch heruntergebracht
wurde zum Aschenputtel un- und vorwissenschaftlicher politischer Prämissen
und sozialer Lebensformen, denen sie als Legitimationsmagd zu dienen hat. Als
bloßes Mittel politisch-sozialer Zwecke, die selber außerhalb des
Zugriffs kritischer Reflexion bleiben, muß die revolutionäre Theorie
aber verkommen. Das Theorieverständnis der Linken ist so letztlich trotz
aller sozialistisch-kommunistischen Willenserklärungen ein bürgerliches,
positivistisches geblieben. Die eigenen subjektiven politischen Zwecke waren
der Theorie immer schon vorausgesetzt, statt aus ihr abgeleitet zu werden. Diese
methodische Zahnlosigkeit des Theorieverständnisses und die falsche Unmittelbarkeit
des politischen Willens trugen so das Signum bürgerlicher Immanenz bereits,
als die Linke sich noch nicht zu ihrer jüngsten schwarzrotgoldenen Staatsbürgerlichkeit
entpuppt hatte.
Gerade in dieser entscheidenden Hinsicht ist an der neuen Linken nichts Neues
gewesen. Schon die alte Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg hatte, zuerst
noch gegen den ebenso energischen wie vergeblichen Protest von Engels, die sozialistische
Wissenschaft an die Kandare ihrer politisch-parlamentarischen und gewerkschaftlichen
Willensbildung auf dem nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellten Boden
der Lohnarbeit genommen. Die Theorie
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wurde zensiert und kastriert, wo sie auch nur im mindesten an den eisernen Vorhang
rührte, der für den Marxismus von der Lebenswelt und den Willensprozessen
einer Arbeiterbewegung errichtet worden war, die eigentlich nichts weiter wollte
als ihr Auskommen in der Lohnarbeit und ihre staatsbürgerliche Anerkennung.
Auch der revolutionäre Frühling bolschewistischer Theoriebildung nach
den Schrecken des Ersten Weltkriegs konnte auf den Grundlagen einer hauptsächlich
noch vorkapitalistischen Ökonomie nicht länger als einen historischen
Atemzug lang anhalten und die arbeiterbewegte Verkürzung der Marxschen
Theorie nicht überwinden. Der von Stalin kanonisierte "Leninismus" mußte
sich vielmehr in die Ideologie einer nachholenden Industrialisierung verwandeln
und den gesamten Begriffsapparat des wissenschaftlichen Sozialismus unter dieser
unreflektierten Prämisse verbiegen bis zur Unkenntlichkeit. Der legitimatorische
Zweck verwandelte die Theorie noch weit mehr in ein positivistisch verkürztes
Mittel als im Westen, weil als ihr Zuchtmeister nicht mehr bloß der Parteiapparat
auftrat, sondern der Staatswille, der sie bis zum heutigen Tag unter unverhüllte
Polizei-Kuratel gestellt hat. Die Verkommenheit der wissenschaftlichen Begriffsbildung
in diesem Theorie-Knast ist an der theoretischen Ausschußproduktion des
akademischen Lebens in den Ländern des sowjetischen Machtbereichs abzulesen.
Reformerische "Demokratisierung" kann diesem Leichnam der Theorie kein neues
Leben einhauchen, sondern ihm bloß endgültig das bürgerliche
Grab schaufeln. Daß dann vielleicht der Verwesungsgeruch des historischen
Marxismus aus den dickleibigen DDR-Lehrbüchern nicht mehr ganz so penetrant
herüberweht, dürfte kaum als Fortschritt der Theorie selber einzuschätzen
sein.
Ein Teil der westlichen Theoriebildung, so vor allem die Kritische Theorie der
Frankfurter Schule, versuchte sich von den positivistischen Fesseln des Arbeiterbewegungs-Marxismus
zu lösen, ohne jedoch über den Schatten dieser historischen Epoche
springen zu können, der sie selber noch angehörte. Die Kritische Theorie
benannte zwar immerhin den verkürzten Horizont des positivistischen Theorieverständnisses,
jedoch nur auf der Ebene abstrakter Methodenkritik und gefärbt von ihrer
bürgerlich-lebensphilosophischen Abkunft. Auch sie konnte so nicht den
Verhältnissen die Melodie von deren eigenem Widerspruch vorspielen, sondern
mußte zu einer abstrakten, der Kritik des Kapitalverhältnisses äußerlichen
Subjekttheorie gelangen, die teils in Resignation, teils in Reformismus und
teils in subjektivistisch-revolutionären Aktivismus mündete.
Die neue Linke in ihrer Gesamtheit stellte nie eine Überwindung des tradierten
marxistischen Theorieverständnisses bis zur Weltkriegs-Epoche dar, sondern
vielmehr bloß dessen Endmoräne. Sie hatte ihre ideologischen Wurzeln
im linksakademischen Flügel des Sozialdemokratismus ebenso wie in einer
Rezeption der Frankfurter Subjekttheorie in ihrer aktivistischen Variante. In
allen Fraktionen der neuen Linken setzte sich letztlich gleichermaßen
das verkürzt-instrumentalistische Verständnis der Theorie durch und
damit deren Degradation.
Die K-Gruppen überführten den scheinbar voraussetzungslosen, bloß
sich selbst nach dem
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positivistischen trial-and-error-Prinzip reflektierenden Aktivismus fast bruchlos
in die Farce eines Kostümfests als Revival der untergegangenen 3. Internationale.
Die Theorie wurde zum beliebigen Legitimationsmittel für die subjektiven
politischen Phantasien der diversen Mini-Parteien und deren Führungscliquen,
die sich in napoleonischen Posen gefielen.
Die universitäre linkssozialistische Theoriebildung (Sozialistische Studiengruppen/SOST,
Prokla, Sozialistisches Büro, Argument etc.), von ihrem Umfang her beträchtlich,
hat sich davon immer nur der äußeren Form nach unterschieden. Die
linksakademischen Theorieproduzenten konnten sich nie als eigenständigen
gesellschaftlichen Pol revolutionärer Theoriebildung begreifen. Auf dem
Boden der akademischen Lebenswelt und deren Alimentierung durch Staat und kapitalistische
Stiftungen, deren Fesseln und stumme Zwänge umso enger und drückender
werden mußten, je mehr sich das Dasein der Linkssozialisten von der versiegenden
68-er Bewegung und damit von den einmal erkämpften "Freiräumen" entkoppelte,
konnte keine Selbständigkeit revolutionärer Wissenschaft gedeihen.
Die linke akademische Theoriebildung, wiewohl nicht unmittelbar an einen äußerlichen,
vorausgesetzten politischen Willen organisatorisch gebunden, unterwarf sich
so freiwillig den empirisch vorgefundenen gesellschaftlichen Oppositions-Subjekten,
soweit sie erfolgversprechend schienen, und brachte sich als "wissenschaftliche
Hilfskraft" in die jeweiligen politischen Konjunkturen und Bewegungen ein, denen
sie hauptsächlich legitimatorische Unterstützung gab, statt sich mit
ihnen aus kritischer Distanz auseinanderzusetzen. Die Frage nach dem revolutionären
Inhalt der Theorie wurde nicht selber theoretisch bestimmt, sondern von der
äußerlichen Existenz oder NichtExistenz eines gesellschaftlichen
revolutionären Klassen- oder Bewegungs-Subjekts abhängig gemacht und
damit die Wissenschaft verraten. Die Reste marxistischer Nomenklatur bei den
Linkssozialisten können nicht darüber hinwegtäuschen, daß
ihre Theoriebildung heute zum ordinären Erfüllungsgehilfen des staatsbürgerlichen,
grünsozialdemokratischen parlamentarischen Kretinismus herabgesunken ist.
Der von einer inzwischen selber traditionell gewordenen neuen Linken ganz abgekoppelte
Radikalismus der Jugendbewegung in den 80-er Jahren stellt keinerlei Alternative
dar; er bleibt weitgehend sprach- und theorielos, ja teilweise direkt theoriefeindlich
und straft sich so selber Lügen. Die Autonomen sind bloß die halbe
Portion Nachschlag des subjektiven Radikalismus der 68-er auf dem Höhepunkt
ihrer Bewegung. Soweit sie theoretische Versatzstücke transportieren, handelt
es sich wie gehabt um das gespenstische Revival längst versunkener Originale
(Anarchismus, Syndikalismus, Operaismus), die von Leuten abermals ausgebuddelt
werden (z.B. Karlsruher Stadtzeitung/"Wildcat"), denen noch nicht einmal bewußt
zu sein scheint, daß ein paar Jahre zuvor an diesen Knochen schon einmal
mit durchschlagendem Mißerfolg genagt wurde. Auch diese kümmerlichen
theoretischen Gehversuche bleiben empiristisch an den subjektiven, unmittelbaren
Erfahrungshorizont und damit an dasselbe alte, instrumentalistische Verständnis
gebunden. Die neue Militanz ist, ebenso wie der größte Teil des Feminismus
heute, kein strategischer, theoretisch vermittelter Ansatz gesamtgesell-
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schaftlicher Umwälzung, sondern viel eher Ausdruck einer selbstgenügsamen
sozialen Lebensform auf dem Boden der herrschenden Verhältnisse, in deren
Zusammenhängen sich Reflexion bestenfalls nur legitimatorisch darstellen
kann.
In allen Strömungen der Linken wird zwar von Zeit zu Zeit eine Klage über
"mangelnde Theorie" angestimmt, ohne daß sich aber das verkürzte
Theorieverständnis als solches jemals grundsätzlich geändert
hätte. Es nützt überhaupt nichts, die pure Quantität theoretischer
Beschäftigung eine Zeitlang zu erhöhen, solange nicht die falsche
Unmittelbarkeit des kurzgeschlossenen Praxisbezugs in ihren diversen Varianten
aufgehoben wird. Wenn wir der Theorie im Gegensatz zur Gesamtheit der heutigen
Linken wieder zu ihrem Recht verhelfen wollen, dann müssen wir sie radikal
abkoppeln vom Gefuchtel der sogenannten Praxis des linken Politikastertums aller
Schattierungen. Revolutionäre Wissenschaft darf nicht abhängig sein
vom politischen Kalkül einer Partei oder Sekte, ebensowenig vom spontanen
Entwicklungsprozeß gesellschaftlicher Oppositionsbewegungen oder "Stimmungen"
und politischen oder kulturellen Konjunkturen, wie sie sich in immer schnellerer
Abfolge die Türklinke in die Hand geben. Die Theorie ist als selbständiger
Pol gesellschaftlicher Kritik und Umwälzung zu erarbeiten; sie muß
sich mit der gesellschaftlichen Praxis vermitteln - dies ist jedoch erst eine
zu leistende Aufgabe von historischer Dimension und keine platte Voraussetzung,
die von selber schon immer da wäre.
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3. Eine Erneuerung des sozialistischen Ziels kann nur in
einer fundamentalen Kritik der Warenproduktion bestehen
Die Kritik würde aber
auch noch zu kurz greifen, bliebe sie bei einer abstrakten Methodenkritik des
instrumentalistischen Theorieverständnisses im bisherigen Marxismus stehen.
Der INHALT dieser Kritik kann nicht zunächst offen bleiben und dann irgendwann
nachgeschoben werden. Denn dies würde bedeuten, den vorne hinausgejagten
bürgerlichen Positivismus durch die Hintertür wieder hereinzulassen.
Ist es doch gerade ein wesentliches Kennzeichen der positivistischen Denkweise,
daß sich für sie Form (Methode) und Inhalt als getrennt und einander
äußerlich darstellen. Die Methode ist dann etwas für sich existierendes,
das äußerlich an beliebige Inhalte herangetragen wird. Mit Hegel
und Marx wollen wir aber im Gegensatz dazu festhalten, daß die Methode
nichts ist als der auseinandergelegte Inhalt selbst. Wenn Methode und Inhalt
daher nicht getrennt sind, müssen wir nach dem Inhalt fragen, den die verkürzte
positivistische Methode auch auf dem Boden des historischen Marxismus an sich
selber hat. Dieser Inhalt kann nur die unbegriffene, nicht kritisch überwundene
WARENFORM der gesellschaftlichen Reproduktion sein, die sich dem Denken überhaupt
und also auch dem theoretischen Bewußtsein als blinde gesellschaftliche
Voraussetzung spontan aufdrängt, und zwar umso mehr, je allgemeiner und
totaler diese Warenform historisch herausgebildet ist und alle gesellschaftlichen
Lebensprozesse durchtränkt.
Zwar hatte die alte Arbeiterbewegung, soweit sie von der Marxschen Theorie berührt
worden war, zunächst noch durchaus die Aufhebung der Warenproduktion gefordert
(so noch im Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie von 1891). Aber
diese programmatische Losung blieb abstrakt und unvermittelt mit dem tatsächlichen,
realen Gehalt von Programmatik und Politik der Arbeiterbewegung. Was die Ware
als historische Reproduktionsform von anderen Formationen unterscheidet, ist
ihr Dasein als WERT, dem ABSTRAKTE ARBEIT als gesellschaftliche zugrundeliegt
und der sich im GELD als allgemeine und sich totalisierende Verkehrsform des
abstrakten gesellschaftlichen Menschen ausdrückt. Eine konkrete Kritik
und Aufhebung der Warenproduktion ist unmöglich ohne eine ebensolche Kritik
und Aufhebung von abstrakter Arbeit, Wert und Geld. Von dieser Einsicht aber
waren die alte Arbeiterbewegung und ihre politischen Ausdrucksformen weit entfernt.
Der einschlägige Programmpunkt blieb so ein folgenloser Fremdkörper
und bloße Verbeugung vor dem Buchstaben der Marxschen Theorie, ohne deren
revolutionären Inhalt gesellschaftlich zuspitzen zu können.
Die alte Arbeiterbewegung wollte letztlich gar nicht die Warenform der Produktion
aufheben, sondern bloß das den Arbeitern im Nacken sitzende Geldkapital
äußerlich loswerden. Sie begriff Lohnarbeit und Mehrwert nicht als
das entfaltete Dasein des Werts selber, sondern als eine der an sich "natürlichen"
Wertform äußerliche und aufgesetzte Angelegenheit, als bloßen
"Diebstahl" des Mehrprodukts durch die Willenshandlungen einer soziologistisch
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verkürzt bestimmten Kapitalistenklasse. Daher auch das zähe, teils
offene, teils untergründige Überleben des Lassalleanismus und Proudhonismus
in den Arbeiterbewegungen, obwohl diese Theoreme längst wissenschaftlich
widerlegt waren. Aus der äußerlichen Kritik der "Mehrwerträuberei"
folgte die Idee des GENOSSENSCHAFTSSOZIALISMUS, die illusionäre Vorstellung
eines von den Arbeitern selbstverwalteten betriebswirtschaftlichen Kollektivismus,
die in allen ihren historischen Praxisversuchen elendiglichen Schiffbruch erlitten
hat, bis hin zum Fiasko der jugoslawischen Arbeiterselbstverwaltung und zum
sang- und klanglosen Niedergang der israelischen Kibbuz-Bewegung.
Aus der ebenso äußerlichen Kritik der kapitalistischen Krisen folgte
die Idee des STAATSSOZIALISMUS, die nicht weniger illusionäre Vorstellung
einer staatlich regulierten und "geplanten" Warenproduktion auf weiterhin betriebswirtschaftlicher
Basis. Der Staat konnte nicht begriffen werden als von der Wertform selber gesetzte
abstrakte Allgemeinheit, als Kehrseite des Geldes und anderes Dasein der Lohnarbeit,
sondern als bloß äußerliches Instrument, das je nach dem herrschenden
politischen Willen so oder so verwendet werden könne.
Die anarchistische und syndikalistische Staatskritik umgekehrt blieb abstrakt
und unwahr, weil sie die unbegriffene Form des Staates als isoliertes Grundübel
denunzierte und den Staat also ebensowenig als abstrakte Allgemeinheit der Warenproduktion
selber ableiten konnte; im Gegenteil rückte sie mit ihrer Ideologie "kleiner"
Warenproduktion ohne Staatseinfluß und vermeintlich "selbstbestimmter"
Tauschverhältnisse ohne zinstragendes Kapital etc. in vieler Hinsicht in
die Nähe ultrareaktionärer und liberalistischer bürgerlicher
Anschauungen. Genossenschaftssozialismus und Staatssozialismus als verkürzte
Ideologien auf dem Boden der Warenproduktion und als sich ständig gegenseitig
durchdringende und miteinander in wechselnden Relationen mischende Gegensätze
blieben in der alten Arbeiterbewegung bestimmend bis zu ihrem Ende; sie ist
darüber nie hinausgekommen.
Das theoretische Bewußtsein des traditionellen Marxismus konnte gerade
aufgrund seiner gelungenen Verschmelzung mit dieser Arbeiterbewegung deren ideologischen
Verkürzungen nicht standhalten, sondern mußte ihnen den Tribut zollen
und die Marxsche Theorie in ihrem Kern ausblenden, abschwächen und verflachen.
Was Marx schon an der klassischen bürgerlichen Ökonomie kritisiert
hatte, das Steckenbleiben im bloß quantitativen Verständnis der Wertform,
trifft auch auf den historischen Marxismus selber zu, der die Marxsche Werttheorie
zu einer bloßen Variante der Ricardianischen zurechtstutzte. Als "Wertgesetz"
interessierte diesen Marxismus am gesellschaftlichen Wertverhältnis bloß
der quantitative Regulationsmechanismus, das Gelingen oder Nichtgelingen der
"Allokation der Ressourcen" auf dem überhaupt nicht mehr in Frage gestellten
Boden der Wertform, deren negative historische Qualität völlig außer
Betracht blieb. Wie in der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre interessierte
nicht so sehr das WAS des Werts, sondern vielmehr das WIE. Dieser funktionalistischen
Verkürzung, die ihre Konsequenz in der positivistischen Verkürzung
des gesamten
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Theorieverständnisses hatte, entsprach eine Zurücknahme der Marxschen
Kritik der Warenproduktion überhaupt zu einer bloßen Kritik des "blinden
Marktes", während die Warenform als solche völlig unangetastet blieb.
Damit aber mußte auch der Marxsche Begriff des PRIVATEIGENTUMS völlig
entstellt werden. Wert, Geld und Warenfetisch erschienen nicht mehr wie bei
Marx als das reale DASEIN des Privateigentums, sondern vielmehr als diesem äußerliche,
für sich seiende Kategorien. Die Totalität der Marxschen Kategorien
einer KRITIK der politischen Ökonomie als Kritik der realen gesellschaftlichen
Totalität des Wertverhältnisses zerfiel zu einem theoretischen Trümmerhaufen
einander äußerlicher Einzelkategorien, aus dem sich der positivistisch
gewordene bürgerliche Menschenverstand des Marxismus die verschiedensten
Kombinationen zusammenbastelte. Aus dem Marxschen Totalitätsbegriff eines
GESAMTGESELLSCHAFTLICHEN VERHÄLTNISSES verwandelte sich für die Marxisten
das Privateigentum unter der Hand in die bürgerliche Lesart einer äußeren
Willensbeziehung natürlicher und juristischer Personen auf DINGE. In dieser
entstellenden Auffassung mußte eine Aufhebung des Privateigentums auf
dem weiterexistierenden Boden von Wert, Ware und Geld als möglich und logisch
erscheinen, im Sinne der authentischen Marxschen Theorie eine Absurdität.
Der Staat, statt als ein Moment des gesamtgesellschaftlichen Verhältnisses
des Privateigentums, konnte dann wie in der bürgerlichen Vulgärökonomie
als dessen äußerer Widerpart betrachtet werden, das Staatseigentum
als vermeintliches Gegenteil des Privateigentums.
Da sich für den Marxismus die Qualität der Wertform in eine ewige
Selbstverständlichkeit verwandelt hatte wie Naturgrundlage und Atemluft,
mußten ihm auch die verschiedenen Momente ihres gesellschaftlichen Daseins
wie Ware, Geld, Kapital, Staat als an sich ewige "Dinge" erscheinen, auf die
sich lediglich historisch verschiedene gesellschaftliche Willenssubjekte äußerlich-instrumentalistisch
beziehen und ihre Interessen auf diesem Boden und in dieser Form durchsetzen.
Folgerichtig wurde auch die Marxsche Bestimmung von Klassen und Klassenkampf
auf den Kopf gestellt. Während Marx die modernen Klassen aus der historischen
Entwicklung der Wertform selber abgeleitet hatte, ihr Dasein und ihre immanenten
Interessen als bewußtlose Funktion des Wertverhältnisses und die
Emanzipation der Arbeiterklasse demzufolge als dessen Aufhebung, rangierten
bei den Marxisten die Klassen und ihr Interessengegensatz logisch VOR der Ableitung
des Wertverhältnisses und diesem äußerlich. Der Wert wurde nicht
mehr als die bewußtlose Bewegungsform der Gesellschaft selber einschließlich
ihrer individuellen und korporativen menschlichen Bestandteile begriffen, als
das "automatische Subjekt" (Marx), sondern bloß noch als die starre und
quasi-naturhafte Grundlage, auf der die mehr oder weniger voraussetzungslosen
Klassensubjekte ihren Interessengegensatz austragen und auf der sie ihr jeweiliges
Machtterritorium abstecken. In soziologistischer Verflachung wurde die Geschichte
des Kapitals zur bloßen Resultante von "Kräfteverhältnissen"
der kämpfenden Klassensubjekte INNERHALB der Wertform und damit die Marxsche
Klassentheorie zu einer bloßen Variante der bürgerlichen Willensillusion
des abstrakten
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sozialen Subjekts, das seinen eigenen gesellschaftlichen Bedingungsgrund nicht
weiß. In dieser entstellten Fassung konnte die Klassentheorie auch für
Teile des bürgerlichen theoretischen Bewußtseins akzeptabel werden
und drang in Gestalt soziologischer und sozialhistorischer Theoreme in den bürgerlichen
positivistischen Wissenschaftsbetrieb ein.
Da der Wert so aus einem gesellschaftlichen Verhältnis zu einem vulgären
äußerlichen Ding begrifflich verhunzt war und die Klassentheorie
zu einem ebenso vulgären Soziologismus, richtete sich das theoretische
Interesse der Marxisten mehr und mehr auf die bloß äußere Organisationsform
der blind vorausgesetzten Wertökonomie. Teils sollten die nationale und
internationale Zentralisation des Kapitals und der wachsende staatliche Sektor
per se schon Kapitalismus und "Wertgesetz" aufheben (Reformisten), teils sollte
die äußerliche Machteroberung der proletarischen Partei noch als
notwendiger Faktor hinzutreten (Revolutionäre). Der Unterschied von Reformismus
und Revolution wurde beiderseits nur in der politischen Sphäre gesehen,
aufgehängt an der politisch-militärischen Machtfrage und am juristisch
verkürzten bürgerlichen Eigentumsbegriff. Unverstanden blieb, daß
die beiden feindlichen Brüder ihren Konflikt auf dem gemeinsam nicht grundsätzlich
in Frage gestellten Boden der negativen, abstrakten Wertform als Vergesellschaftungsstruktur
austrugen.
Die russische Oktoberrevolution konnte weder praktisch über das Bewußtsein
der alten Arbeiterbewegung noch theoretisch über das Verständnis des
damit verbundenen Marxismus hinauskommen. Zwar versuchte sie in ihrer "heroischen"
kriegskommunistischen Phase in einem kühnen und gleichzeitig von der Not
diktierten Anlauf das Geld abzuschaffen, doch blieb dieser Versuch auf die Konsumtionssphäre
in wenigen Zentren (Petersburg) beschränkt und dem real noch großenteils
vorkapitalistischen gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß völlig
äußerlich. Die bloße Kritik des Geldes konnte auf den unentwickelten
gesellschaftlichen Grundlagen, die eine Herausbildung des Wertverhältnisses
im großen Maßstab noch vor sich hatten, nicht zu einer Kritik der
Wertform selber fortentwickelt werden, weder praktisch noch theoretisch. Der
revolutionäre Wille der Bolschewiki konnte nicht über die Schwelle
des Werts hinauskommen.
Die gesellschaftliche Praxis der nachholenden Industrialisierung brachte stattdessen
die Ideologie und den theoretischen Unbegriff einer "sozialistischen Warenproduktion"
oder einer "geplanten Warenwirtschaft" hervor, im Sinne der Marxschen Theorie
eine contradictio in adjecto. Auch ein "geplanter Markt" ist ein Markt, auch
ein "sozialistisch" genannter Wert ist indirekte, abstrakte, negative Vergesellschaftung,
genauso wie ein schwarzer und ein weißer Stein beides Steine sind. Der
Begriff der gesellschaftlichen Planung führt sich so selber ad absurdum.
Indem die vermeintlich revolutionäre 3. Internationale, bedingungslos ausgerichtet
an den gesellschaftlichen Notwendigkeiten der Sowjetunion, mit dem Unbegriff
der "sozialistischen Warenproduktion" endgültig programmatisch die Kritik
der Warenproduktion überhaupt auslöschte, fiel sie zumindest formell
sogar noch hinter das Erfurter Programm der Sozialdemokratie zurück. In
der Linken beider Flügel der alten Arbeiterbewegung
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waren so die Lichter der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie schon
ausgegangen, bevor diese Bewegung noch ihren historischen Offenbarungseid zu
leisten hatte. Der russische Marxismus hatte trotz seiner relativen Verdienste
und Anstrengungen am Ende dem alten Arbeiterbewegungs-Marxismus nur die Krone
der Entstellung aufsetzen können. Er hat das Steckenbleiben der alten Arbeiterbewegung
im Wertverhältnis auch theoretisch nicht überwunden, sondern vielmehr
gerade endgültig besiegelt und mit dem falschen Schein revolutionärer
Orthodoxie der Marxschen Theorie umgeben.
Auf eigentümliche Weise kam die historische Verkürzung und Entstellung
der Marxschen Theorie auch im "westlichen Marxismus" zum Ausdruck. Auch dieser
war keineswegs imstande, die Kritik des Wertverhältnisses selber radikal
zu thematisieren. Sein Spezifikum gegenüber den Hauptströmen des Marxismus
der 2. und 3. Internationale war die noch stärkere und abstraktere Betonung
der sozialen, politischen und individuellen Subjektivität, ohne daß
ein systematischer Ansatz zur Vermittlung der Subjekttheorie mit der Werttheorie
und Kritik der Warenproduktion gelang. Es zeigt sich darin nicht nur die Beschränkung
dieses "westlichen Marxismus" auf den theoretischen Horizont der Epoche, sondern
auch seine Abkunft von der bürgerlichen Krisenphilosophie des abstrakten
Warensubjekts. Das bürgerliche Subjekt, das sich in der Zirkulationssphäre
zu Hause fühlt und dort seinen angestammten Tummelplatz und die Medien
seiner Entfaltung findet, mußte den fortschreitenden kapitalistischen
Vergesellschaftungsprozeß mit seinen Formen der zunehmenden Kapitalkonzentration,
Verbürokratisierung und Verstaatlichung der "Lebensbereiche" als Bedrohung
und tendenzielle Subjektvernichtung empfinden, ohne doch auch nur im mindesten
über die warenlogischen Kategorien und damit über sich selbst hinausdenken
zu können. Das geistige Resultat war eine ganze Kette von verschiedenen
und in der Auseinandersetzung aufeinander bezogenen bürgerlichen "Subjektrettungsprojekten"
auf der theoretischen, ideologischen und politischen Ebene: von Kierkegaard,
Schopenhauer und Nietzsche, Antisemitismus, Lebensphilosophie, Kulturpessimismus
und Faschismus bis hin zum modernen Existentialismus, der seine rechten wie
seine linken Ausgeburten produzierte.
Die Subjekttheorie des "westlichen Marxismus" ist ein Bestandteil dieses ideologischen
Kraftfeldes und des darin wuchernden Ideen-Konglomerats. Dieser Marxismus hat
nicht etwa gegen die Verkürzungen der 2. und 3. Internationale das Zentrum
der Marxschen Kritik der bürgerlichen Gesellschaft konkretisiert und erneut
revolutionär herausgearbeitet, sondern ist nur noch weiter vor der Warenform
in die Sphären der politischen und kulturellen Willens-Subjektivität
geflüchtet. Trotz gegenteiliger, aber äußerlich bleibender und
niemals eingelöster Beteuerungen wollte die Kritische Theorie der Frankfurter
Schule letztlich die bürgerliche Aufklärung nicht revolutionär
aufheben, sondern bloß positiv vollenden; sie wollte das bürgerliche
Zirkulationssubjekt nicht wirklich abschaffen, sondern sein Königreich
bloß emanzipatorisch verallgemeinern.
Gleichzeitig teilte sie auch die werttheoretische Bornierung des alten Arbeiterbewegungs-
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Marxismus weitgehend. Von vagen Hinweisen auf die Mysterien der "Tauschgesellschaft"
abgesehen blieben ihre Kategorien ebenso unkritisch auf den Rahmen des Wertverhältnisses
bezogen: die Begrifflichkeit der "kapitalistischen Planwirtschaft" (Pollock)
und des "autoritären Staates" (Horkheimer) markiert die phänomenologisch
beschränkte Eingebundenheit dieses Denkens in die Warenlogik. Nicht sehr
verschieden von den Marxisten der 2. und 3. Internationale sprachen die kritischen
Theoretiker von der "Abschaffung der Zirkulationssphäre" durch den Kapitalismus
bzw. den Staat selbst, womit sie wie diese die Beschränkung ihres theoretischen
Zugriffs auf den quantitativen Regulationsmechanismus dokumentierten, während
die ungebrochene qualitative Weiterexistenz der Warenform selbst (und damit
natürlich auch der Zirkulation in ihrem qualitativen Dasein) als zentrale
Fragestellung fast völlig ausgeblendet blieb. Im Unterschied zu den traditionellen
Arbeiterbewegungs-Marxisten sah die Frankfurter Schule in dieser Phänomenologie
der kapitalistischen Metamorphose allerdings nichts Erfreuliches und Fortschrittliches,
keinen wie immer gearteten Übergang zum "Sozialismus", sondern vielmehr
das unabwendbare Verhängnis und das traurige Ende der Aufklärung.
Darin drückt sich nicht nur und nicht so sehr überlegenes Problembewußtsein
aus, sondern vielmehr in erster Linie das resignierende Bewußtsein von
der Abtakelung des bürgerlichen Zirkulationssubjekts, dem die Kritische
Theorie nostalgisch nachtrauerte und außer dem sie kein anderes zu benennen
wußte. Hinter der verzweifelt festgehaltenen Un-Bedingtheit des Subjekts
verbirgt sich bloß dessen Befangenheit als Marionette der Warenlogik.
Die Kritische Theorie konnte und wollte nicht aussprechen, daß der Ausgangspunkt
freier, emanzipativer menschlicher Subjektivität nur die Erkenntnis der
Bedingtheit aller Subjektivität durch die Warenform und damit die theoretische
und praktische Konkretisierung von deren Kritik und Aufhebung sein kann. Indem
sie diese konkrete Zuspitzung der Kritik des Wertverhältnisses verweigerte,
ebenso wie der übrige "westliche Marxismus", und sich an die äußerliche
Unbedingtheit des Subjekts gegenüber dem Wert klammerte, blieb auch die
Kritische Theorie im entscheidenden Punkt flach und unwahr, der bürgerlichen
kulturpessimistischen Tradition des vergehenden Zirkulationssubjekts verpflichtet.
Die neue Linke war nicht der Überwinder, sondern bloß der doppelte
Erbe des Arbeiterbewegungs-Marxismus und der westlichen Subjekttheorie, deren
verschiedene Varianten sie in rascher Folge noch einmal durchlief und dabei
eklektisch amalgamierte. Ihr scheinbar souveränes Umgehen mit den theoretischen
und politischen Hervorbringungen der Vergangenheit, deren einst unversöhnliche
Gegensätze sie durch ihren Eklektizismus relativierte, war bloß ihrer
Hilflosigkeit und ihrem Dasein als ideologischer Wurmfortsatz einer zu Ende
gegangenen Epoche emanzipatorischer Theorie und Praxis geschuldet. Das Hauptkennzeichen
der neuen Linken, besonders in der BRD, war die unheilige Allianz eines wert-
und politiktheoretischen Sozialdemokratismus mit der Frankfurter Subjekttheorie.
Im größeren europäischen und sogar Weltmaßstab reproduzierte
sich diese ideologische Verheiratung zweier neu herausgeputzter Leichen als
das Zusammenfließen der nördlich-reformistischen und der
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südlich-subjektivistischen Tradition, deren Ferment in vieler Hinsicht
die durch ihr historisches Schicksal der Emigration und Zerstreuung weltweit
bekannte Kritische Theorie der Frankfurter Schule bildete.
Der italienische Operaismus etwa, der seinerseits wieder auf die deutsche
Linke maßgeblich zurückwirkte, verband im "Planstaat"-Begriff Negris
u.a. das alte Hilferdingsche sozialdemokratische Theorem von der angeblichen
Aufhebung des "Wertgesetzes" durch äußerliche quantitative Regulationsmechanismen
mit der abstrakten Unbedingtheit des falschen, warenlogisch verblendeten Subjektbegriffs,
um zu einer vermeintlich "wilden" subjektiven Revolte auf dem unbegriffenen
Terrain des qualitativ unangetasteten Wertverhältnisses und gestützt
auf Randgruppen der alten Arbeiterbewegung zu gelangen.
Die revolutionären Wallungen der neuen Linken, die um jenes ominöse
Jahr 1968 herum das vage Gespür eines Teils der Jugend für das Ende
der Nachkriegsepoche und den Beginn eines neuen Krisenzeitalters des Weltkapitals
widerspiegelten und zum Ausdruck brachten, können nicht über die inhaltliche
Leere dieses vorübergehend aufflackernden revolutionären Willens hinwegtäuschen.
Diese Leere wurde mit den zusammengemixten Antworten, Zielsetzungen, Programmen
und Erklärungen der Vergangenheit nur scheinbar gefüllt. Das rasche
und nachdrückliche Scheitern der diversen Ansätze eines dem Wertverhältnis
gegenüber haltlosen revolutionären Willens, von den Operaisten bis
zu den K-Gruppen, bereitete selber den darin schon angelegten reformistischen
Umschlag vor. Die weltweite gesellschaftliche Wende nach rechts, vom sozialliberalen
Keynesianismus zum neokonservativen Monetarismus, wurde begleitet von einer
ebensolchen Rechtswendung der neuen Linken, die ihre hohlen revolutionären
Hoffnungen begrub und größtenteils zu einem flachen Neo-Reformismus
überging.
Besonders unrühmlich tun sich hier die französische und die deutsche
Linke hervor. Während erstere neue Geborgenheit im Westentaschen-Nationalismus
und in einem mit dem Krokodils-Charme des Konvertitentums erneuerten kalten
Krieg gegen die unbegriffene und unaufgearbeitete östliche Resultante der
alten Arbeiterbewegung sucht, inclusive Anbetung der Atombombe, hat sich die
deutsche Linke in ihrer unstillbaren Gier nach unmittelbarer politischer Machbarkeit
zwar ebenfalls der bürgerlichen Republik an den Hals geworfen, ideologisch
ihren warenfetischistischen Finanzierbarkeits-Reformismus aber eher mit irrationalistischen
und naturmystischen Momenten angereichert. Der deutsche Wald ist der Atombombe
in den Farben Frankreichs als Kultobjekt einer Ex-Linken durchaus würdig.
Der Irrationalismus war schon immer nicht das Gegenteil der Aufklärung,
sondern ihre eigene Nachtseite, der finstere Schatten, der von dem unaufgelösten
und blind vorausgesetzten gesellschaftlichen Wertverhältnis geworfen wurde.
Wenn die französische und die deutsche Linke ihrer bürgerlichen Tradition
gemäß wieder in rationalistische und irrationalistische Ideologieträger
auseinanderfallen, dann halten sie sich nur unwissentlich gegenseitig den Spiegel
ihrer Unfähigkeit vor, aus dem bürgerlichen Gefängnis der warenlogischen
Kategorien auszubrechen.
Der akademisch alteingesessene Teil der deutschen neuen Linken ist schon immer
auch
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ihr am meisten sozialdemokratisch kontaminierter gewesen. Dieses Erbübel
mußte gerade in der Krise mit voller Gewalt durchschlagen. Die gelernten
Linkskeynesianer mit einem Schuß Traditions-Marxismus, die theoretisch
vom inzwischen endgültig auf Staatstreue eingeschworenen Frankfurter Subjektrettungs-Projekt
ergänzt werden, tummeln sich heute mit bodenloser politökonomischer
Geschwätzigkeit im Dunstkreis der grün-sozialdemokratischen parlamentarischen
Politik-Spiele, bestenfalls noch pseudo-orthodox durch den ebenso hohlen wie
öden Verweis auf die abstraktjuristische Eigentumsfrage, die in dieser
Form selber ein bürgerlicher Gedanke ist, von den Kategorien des Keynesianismus
äußerlich distanziert.
Die falsche Unmittelbarkeit des Ökologismus, in der die abstrakte Naturbeziehung
(Produktivkraftkritik) für die zerstörerischen Konsequenzen der betriebswirtschaftlichen
Warenlogik in Ost und West verantwortlich gemacht wird, bildet die ideale ideologische
Flankendeckung für die staatstreuen ökonomischen Reformprogramme,
deren Haltlosigkeit sich schon in ihrem jämmerlichen, der fast-food-Reklame
nachempfundenen optimistischen Sprach-Gestus beweist. Die Konzeptionen des "radikalen
Reformismus" (Hirsch) oder der vermeintlichen "Wege ins Paradies" (Gorz) tragen
allesamt das Kainsmal des Warenfetischismus und der immer vorausgesetzten Lohnarbeit
an sich.
Die theoretisch stumpfe und politisch geschwätzige Hilflosigkeit der alten
wie der neuen Linken angesichts der neuen Krise des Weltkapitals erweist sich
gerade darin, daß sie nicht einmal der Fragestellung nach dieses neue
Krisenzeitalter als Schranke des Wertverhältnisses selber zu entziffern
vermag. Aber die ökologische wie die ökonomische Krise drücken
heute, über die früheren Krisenmechanismen des Kapitals weit hinausgehend,
die Destruktionspotenz des Wertverhältnisses selber direkt aus. Erst jetzt
hat sich die "zivilisatorische Mission des Kapitals" (Marx) völlig erschöpft,
erst jetzt tritt die reine, negative Zerstörungspotenz des Werts gegenüber
Mensch und Natur absolut hervor.
Wir sehen daher keinen Sinn darin, einen pseudo-taktischen Bezug zu den politischen
Formen der bisherigen Linken zu entwickeln, die allesamt bewußtlos auf
dem Boden des Wertverhältnisses und damit der Warenproduktion in einer
ihrer möglichen Varianten angesiedelt sind und agieren. Eine Erneuerung
des verlorenen sozialistischen Ziels kann nur in einer fundamentalen Kritik
der Warenproduktion bestehen, die bewußt den Bannkreis des Fetischismus
zunächst auf der theoretischen, dann aber auch auf der programmatischen
und strategischen Ebene durchbricht.
Unsere Absicht ist es, in der Landschaft der sozialen Ideen eine neue Front
aufzurichten mit der zentralen Positionsbestimmung, daß die konkrete theoretische
und praktische Aufhebung des Wertverhältnisses selber heute historisch
auf der Tagesordnung steht und von der Linken bei Strafe des Untergangs nicht
mehr begriffslos auf eine imaginäre ferne Zukunft verschoben werden kann.
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4. Die alte Arbeiterbewegung konnte nur Entwicklungshelfer
kapitalistischer Vergesellschaftung sein
Der verkürzte, instrumentalistische
Theoriebegriff und sein Inhalt, das Steckenbleiben der alten Arbeiterbewegung
bzw. des mit ihr verschmolzenen Marxismus im Wertverhältnis und damit in
der Warenlogik kann erst ganz begriffen werden, wenn die historische gesellschaftliche
Grundlage dieses verkürzten Denkens im Gewande der Marxschen Theorie aufgedeckt
ist. Nicht subjektives Unvermögen war die Ursache, sondern die noch mangelnde
Entfaltung der Wertform selber. Wir halten in schroffem Gegensatz zur grün-alternativen
Produktivkraftkritik daran fest, daß der Kapitalismus trotz aller Greuel
seiner Entwicklungsgeschichte einen ungeheuren Fortschritt aller vorindustriellen
Gesellschaft und deren heute unvorstellbar rohen Formen und Lebensstandards
gegenüber bedeutet hat. Das "automatische Subjekt" des Werts war einmal
bitter nötig, um die Produktivkräfte und die Vergesellschaftung über
die Zustände des Grundeigentums und der Blutsverwandtschaft hinauszuführen,
unter denen die große Masse der Menschen nicht viel besser lebte als Haustiere.
Wenn heute die rein formelle, an die Logik des Werts gekettete Emanzipation
an ihre Grenzen stößt und aufgehoben werden muß, um der freien
Subjektivität des seine Gesellschaftlichkeit bewußt kontrollierenden
"total vergesellschafteten Individuums" (Marx) Platz zu machen, so dürfen
wir doch nie vergessen, daß ohne die Herausbildung und schließliche
Verallgemeinerung der Wertform der Gedanke menschlicher Subjektivität und
Individualität gar nicht existierte. Und solange der Kapitalismus diese
Verallgemeinerung des Werts noch nicht völlig geleistet hatte, solange
er noch nicht real als umfassendes Welt-Produktionsverhältnis hergestellt
war, solange konnte auch nicht konkret über ihn hinausgedacht, geschweige
denn praktisch über ihn hinausgeschritten werden. In einer Gesellschaft
des erst noch werdenden, sozusagen jugendlichen Wertverhältnisses als eigener
Gesellschaftsformation blieb die Marxsche Theorie eine zwar mögliche, aber
doch einzigartige wissenschaftliche Leistung, die von den Zeitgenossen nicht
in ihrer vollen Tragweite begriffen werden konnte. Und auch Marx selbst war
noch nicht imstande, auf diesen unreifen gesellschaftlichen Grundlagen seine
Theorie zu Ende zu führen; so ist es kein Zufall, daß er nur vage
Hinweise für ein konkretes Programm der Aufhebung des Wertverhältnisses
und damit der Warenproduktion als solcher geben konnte. Dies war keineswegs
eine seinem theoretischen Ansatz methodisch immanente Tugend, wie es sich als
Ausrede der in dieser Hinsicht erst recht hilflosen Marxisten seither eingebürgert
hat, sondern vielmehr die Not der praktischen Unmöglichkeit in einer Epoche,
in der sich das Wertverhältnis als Entwicklungsmotor noch nicht historisch
ausgeschöpft hatte.
Der Beginn einer Entwicklung des Kapital- oder Wertverhältnisses auf seinen
eigenen Grundlagen und damit die Industrialisierung in großem Maßstab
reichen kaum hundertfünfzig Jahre zurück. Den größten Teil
dieser Zeit, bis etwa zum Ende des Zweiten Weltkriegs, benö-
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tigte das Kapitalverhältnis, um eine nichtkapitalistische Umgebung zu zersetzen
und aufzusaugen. Von einem reinen Wirken der Gesetzmäßigkeiten des
Kapitals im Allgemeinen kann daher erst in der Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg
gesprochen werden. Je weiter wir zurückgehen in die Geschichte der ersten
Hälfte des 20. und die des 19. Jahrhunderts, desto mehr wird die dem Kapitalverhältnis
immanente Logik (einschließlich seiner Krisenlogik) gefiltert und gebrochen
durch die Existenz großer vorkapitalistischer Sektoren der gesellschaftlichen
Reproduktion sowie traditionelle Verkehrs- und Lebensverhältnisse. Die
Zeit der Weltkriege war weder das letzte noch das höchste Stadium des Kapitalismus,
sondern vielmehr erst dessen blutige Geburtshelfer-Epoche, in der alle vorkapitalistischen
Sektoren und Lebensformen endgültig zerstört wurden und verdampften,
die feudalen ökonomischen und politischen Restbestände ebenso wie
die alte Familienstruktur oder das Kolonialsystem.
Der wirklich als gesellschaftliche Totalität mit sich identische Kapitalismus
ist erst der heutige. Und erst heute wird deswegen auch die wahre Krisenpotenz
des Wertverhältnisses an ihm selber sichtbar, erst von dem historischen
Stadium an, in dem es wirklich umfassend und vollgültig geworden ist. Die
historische Möglichkeit der Revolution, d.h. der Revolution über den
Wert hinaus als reale Abschaffung der Warenproduktion, ist nicht einer Dialektik
der Erinnerung einer Lohnarbeiterklasse an noch greifbare Traditionen handwerklicher
Selbständigkeit geschuldet und damit unwiederbringlich in der Vergangenheit
gescheitert, wie es im Gefolge der versagenden Frankfurter Subjekttheorie behauptet
worden ist (Pohrt, Breuer), sondern im Gegenteil erst objektiv greifbar herangerückt
in einer Epoche, in der die Wertform der kapitalistischen Vollvergesellschaftung
herausgebildet und an sich selber zur Krise geworden ist, gerade weil sie jene
Erinnerungen endgültig ausgelöscht und ihnen jegliche materielle Grundlage
entzogen hat.
Die alte Arbeiterbewegung hat ganz und gar nicht versagt, sondern vielmehr ihre
historisch mögliche Aufgabe geradezu vorbildlich erfüllt. Freilich
konnte diese Aufgabe gar nicht in der Abschaffung des Wertverhältnisses
bestehen, sondern umgekehrt erst in dessen vollständiger Durchsetzung,
die teilweise unter der Maske des "Sozialismus" aufzutreten genötigt war.
Um dies zu begreifen, ist es nötig, die Kategorie des Werts von einem flachen,
eng ökonomisch-definitorischen Verständnis abzulösen und als
gesellschaftliche Totalitätskategorie gerade in ihrer historischen Dimension
wiederherzustellen.
Der Wert ist kein äußerliches Ding und keine reale Eigenschaft der
Dinge an sich, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis, in dem die ABSTRAKTION
der VERGANGENEN GESELLSCHAFTLICHEN ARBEIT den Produzenten NOTWENDIG als ein
solches Ding und eine solche Eigenschaft ERSCHEINT. Als GESELLSCHAFTLICHE Dinge
sind die Produkte FÜR DIE PRODUZENTEN, IN IHREM BEWUSSTSEIN, nicht das,
was sie an sich selber sind, nämlich "ordinär sinnliche Gegenstände"
(Marx), sondern "abstrakte Arbeitsgallerten" (Marx), unsinnliche gesellschaftliche
Gegenstände, deren menschlich-nützliche Konkretheit gerade in
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dieser ihrer gesellschaftlichen Hinsicht AUSGELÖSCHT ist. Nur insofern
sind sie "Waren", als das Dasein abstrakter Gesellschaftlichkeit nämlich,
die sich für die Produzenten, in ihrem Bewußtsein, nicht als ihre
eigene Gesellschaftlichkeit darstellt, sondern als "Werteigenschaft" der DINGE.
In der ausgesonderten Ware des allgemeinen Äquivalents (Geld) inkarniert
sich diese Abstraktion als sinnlicher Gegenstand, obwohl der Gegenstand (Gold
etc.) an sich selber genausowenig "gesellschaftlich" ist wie ein Gesteinsbrocken
von der Rückseite des Mondes. Für die Mitglieder einer warenproduzierenden
Gesellschaft aber kann sich die Gesellschaftlichkeit ihres eigenen Stoffwechselprozesses
mit der Natur nicht anders darstellen als in diesem "verrückten" äußerlichen
Medium, dem bewußtlos-historischen Produkt ihrer eigenen Abstraktion,
das dem Individuum immer schon als zweite Quasi-Natur vorausgesetzt ist.
Aber indem der Warenproduzent als homo öconomicus nur ein indirekt und
deshalb bloß abstrakt gesellschaftlicher Mensch sein kann, für den
sich diese seine Gesellschaftlichkeit nur durch ein äußerliches DING
vermitteln kann, muß er trotzdem in eine Beziehung zu den anderen Gesellschaftsmitgliedern
treten, da die Waren sich nicht selber zu Markte tragen, nicht miteinander verhandeln,
die äußeren Bedingungen der Warenproduktion und des Warentausches
herstellen können usw. Die Form, in der die Menschen auf Basis der Warenproduktion
miteinander selber in Beziehung treten, kann jedoch nicht unmittelbar in der
gemeinsamen Planung und Ausführung der sinnlichkonkreten Funktionen ihrer
Reproduktion bestehen, sondern muß selber eine abstrakte, indirekte Gestalt
annehmen, nämlich die des VERTRAGS. Der Vertrag aber konstituiert als sein
allgemeines gesellschaftliches Medium das RECHT und den warenproduzierenden
Menschen als gesellschaftliches RECHTSSUBJEKT. Die gesellschaftliche Allgemeinheit
dieser Rechtssubjekte ist der STAAT als RECHTSSTAAT. Wie sich die indirekte,
abstrakte Gesellschaftlichkeit des Stoffwechselprozesses mit der Natur im verrückten,
äußeren Dasein der Arbeit als "Wert" und Geld darstellt, als "Ökonomie",
so der gesellschaftliche Verkehr der in diesem Dasein befangenen Menschen als
Recht und Staat, als "Politik" in diesem Medium der abstrakten Rechts-Subjektivität
und Staatsbürgerlichkeit. Wie das Geld die "ökonomische" abstrakte
Allgemeinheit darstellt, so der Staat die "politische" abstrakte Allgemeinheit
der Rechtssubjekte. Der Staat oder Rechtsstaat ist nur die andere Seite des
Geldes, beides sind Momente einer einzigen Totalität, der des Wertverhältnisses.
Diese Momente abstrakter, indirekter Vergesellschaftung aber bilden einen ungeheuren
Fortschritt gegenüber aller vorherigen Gesellschaftlichkeit, die über
Grundeigentum und Blutsverwandtschaft als Produktionsverhältnis noch unmittelbar
naturverhaftet war und in der die physische GEWALT noch als unmittelbare Verkehrsform
der sozialen Beziehungen auftrat. Mit der Warenproduktion wurde die bloß
äußere, gewaltsame Aneignung des Mehrprodukts in seiner unmittelbar
sinnlichen Gebrauchswertgestalt abgelöst von der Aneignung des abstrakten
Reichtums in der Geldform durch abstrakt "freie", GLEICHE Vertragspartner und
Rechtssubjekte. Soweit der Herr oder König usw. als Käufer oder Verkäufer
auftrat,
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soweit mußte er auch mit dem Gegenüber dieser Beziehung ungeachtet
dessen Stand und Person in ein VERHÄLTNIS VON GLEICH ZU GLEICH treten,
ob es sich nun um einen anderen Herrn und König oder bloß um einen
Kaufmann, Bauern usw. handelte. Solange jedoch die Wertform in der gesellschaftlichen
Reproduktion nur ganz marginal und äußerlich war, auf "Nischen und
Poren" (Marx) beschränkt, solange mußte auch diese abstrakte gesellschaftliche
Beziehung "gleicher" Rechtssubjekte marginal und äußerlich bleiben;
solange blieb auch die unmittelbare Gewalt die hauptsächliche gesellschaftliche
Verkehrsform.
Erst der Kapitalismus hat mit der Verwandlung der menschlichen Arbeitskraft
selber in eine Ware die Warenproduktion verallgemeinert und damit aber auch
die abstrakte Rechtsform ("Verrechtlichung") aller gesellschaftlichen Beziehungen.
Die unmittelbaren, persönlichen Gewaltverhältnisse des Feudalismus
wurden abgelöst durch die unpersönliche Rechtsform der abstrakten
Allgemeinheit; die krause und kuriose Vielfalt der lokalen und regionalen "Rechte",
die in Wirklichkeit unmittelbar mit jeweils bestimmten Berufen oder persönlichen
und lokalspezifischen Strukturen verwachsen waren ("das Recht" der Zirkelschmiede,
der Stadt Nürnberg, der Familie von Schreckenstein usw., dies oder jenes
zu tun oder zu unterlassen) und des Charakters der abstrakten Allgemeinheit
entbehrten, mußten vor dieser Logik der Ware verblassen. Vom Standpunkt
der verallgemeinerten Warenproduktion des Kapitalverhältnisses aus ist
das feudale Recht noch kein wirkliches Recht, ebensowenig wie die vorkapitalistischen
Institutionen ein "Staat" im eigentlichen Sinne sind und schon gar nicht ein
"Rechtsstaat".
Den quasi-"natürlichen" Rahmen, den sich diese Warenproduktion als Kapitalverhältnis,
Recht und Staat zunächst nur setzen konnte, bildete die NATION als bestimmte
territoriale bzw. geographische und/oder sprachlich-kulturelle Einheit. Auch
Nationen im modernen Sinne sind ein Produkt erst der kapitalistischen Entwicklung.
Nationen, an sich diffuse und keineswegs eindeutige Zusammenhänge verschiedener
Art, meist aus dem Zusammenwachsen stammesmäßiger (und also letztlich
blutsverwandtschaftlicher) Einheiten zu größeren Sprach- und Kultur-Räumen
etc. entstanden, hatten in vorkapitalistischen Formationen keine wesentliche
Bedeutung; vor allem nicht für die Formen des Interessenkampfes. Noch im
16. Jahrhundert hat Nürnberg gegen Ansbach Krieg geführt. Die Nation
war ein ziemlich vages und kaum "identitätsstiftendes" sozialhistorisches
Gebilde. Dies änderte sich grundlegend mit der Herausbildung der kapitalistischen
Produktionsweise. Die Waren- und Rechtsform benötigte für ihre Entwicklung
den Rahmen einer größeren territorialen, soziokulturellen und politischen
Einheit. Das an sich nur lose und in vieler Hinsicht vage Gebilde des nationalen
Zusammenhangs wurde zur ideologischen und politischen "Identität" des dynamisierten
Werts, die "Nationalisierung der Massen" zur revolutionären Potenz gegen
die Hemmnisse der feudalen Produktionsweise. Gerade weil der bis dahin lose
nationale Zusammenhang ein bereits vorgefundener war und seine Wurzeln bis auf
die Stammesgesellschaft hinab hatte, konnte er zur vermeintlichen "Naturgrundlage"
der sich über die Warenform organisierenden Gesellschaften stilisiert werden.
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Die heraufkommende abstrakte Allgemeinheit nistete sich im Bärenfell des
Nationalismus ein.
Mit der Tendenz des Kapitalismus zur Verallgemeinerung und Totalisierung der
Warenproduktion ging gleichzeitig notwendig einher die Tendenz zur Verwandlung
aller Menschen dieser Gesellschaft in tagtägliche Käufer und Verkäufer
und damit in abstrakt freie und gleiche Rechtssubjekte. Sobald aber dieses gesellschaftliche
Dasein aus der Marginalität heraustrat, mußte es sich auch in eine
allgemeine Ideologie von ungeheurer historischer Durchschlagskraft verwandeln;
die vollständige Herstellung der abstrakten Freiheit und Gleichheit der
Rechtssubjekte fand in der Idee und praktischen Herstellung der DEMOKRATIE ihren
gültigen Ausdruck. Die Nationalisierung der Massen wurde ergänzt und
erweitert durch ihre DEMOKRATISIERUNG, zunächst dem ideologisch-politischen
ANSPRUCH nach, wie ja auch die Nation zunächst erst das Geltendmachen eines
neuen, revolutionären Anspruchs dem Feudalismus gegenüber war. Die
Forderung und Losung der Demokratie mußte zum wichtigsten Bannerträger
der bürgerlichen Epoche werden, weil sie der immanenten Logik der Warenproduktion
als Kapitalverhältnis selber entspringt und von dieser Logik letztlich
erzwungen wird. Diese Logik fordert sukzessive die reale Herausbildung des totalen,
reinen Rechtssubjekts und damit den vollen Rechtsstaat oder die reine Demokratie,
die nichts weiter sein kann als die voll ihrem Begriff entsprechende abstrakte
Allgemeinheit der nahezu total monadisierten abstrakten Geld- und RechtsIndividuen,
die vollständig der Wertform unterworfen sind. Die reine Demokratie ist
daher die letztlich einzig dem mit sich identisch gewordenen Kapitalverhältnis
als Sphäre oder Medium der voll ausgebildeten abstrakten Staatsbürgerlichkeit
entsprechende Staatsform; Wertform, Geld, Lohnarbeit, Rechts-Subjektivität
und Verrechtlichung bzw. Rechtsstaat und Demokratie bilden so eine einzige Totalität
des Wertverhältnisses oder Privateigentums, das nur der juristische Name
dieses gesamtgesellschaftlichen Verhältnisses ist. Der Wert ist nicht etwa
ein "wirtschaftliches Ding", dem Recht, Staat, Nation und Demokratie oder "Politik"
äußerlich wären, sondern im Gegenteil die Totalität dieser
"gesellschaftlichen Sphären", die sich als solche überhaupt erst mit
der Totalisierung des Werts herausgebildet haben.
Diese Totalisierung aber ist selber ein historischer Prozeß und konnte
nicht auf einen Schlag ins Leben treten. Wie sich das Kapitalverhältnis
bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts überhaupt durch vorkapitalistische Sektoren,
Reste und Schlacken hindurchfressen mußte, so auch gerade hinsichtlich
der Rechtsform der abstrakten Privatheit wie Allgemeinheit und der Demokratie.
Die Herausbildung der abstrakt gleichen Rechtssubjekte und der demokratischen
Staatsbürgerlichkeit hinkte sogar um etliches hinter der Ausbreitung von
Lohnarbeit und Warenproduktion her. Auch die Nationen als Rahmen der kapitalistisch
werdenden Staaten gingen der Herstellung voller Demokratie um mehr als ein Jahrhundert
voraus. Damit wurde ein spezifisches historisches Spannungsfeld erzeugt, in
dem wir die alte Arbeiterbewegung und den ihr entsprechenden traditionellen
Marxismus ansiedeln müssen. Der sich entwickelnde
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Kapitalismus war zunächst noch ganz von feudalen Lebens- und Verkehrsformen
durchsetzt; seine sozialen Charaktere traten, im Gegensatz zur Logik der abstrakten
Individualität oder Privatheit und Allgemeinheit, erst selber noch in einer
STÄNDISCHEN Form auf. Die neuen Klassen erschienen als "dritter" bzw. "vierter
Stand" (neben Adel und Geistlichkeit).
Die embryonalen abstrakten Rechtssubjekte und Staatsbürger waren noch eingebettet
in das Gefüge vorkapitalistischer Zusammenhänge und mußten teilweise
selber noch in feudaler Verkleidung agieren. Der Kapitalist, der objektiv und
oft auch subjektiv im Gegensatz zu den feudalen Zwängen und Gewohnheiten
stand, trat seinem Lohnarbeiter gegenüber selber in feudal-patriarchalischer
Weise auf und dieser umgekehrt trug noch in vieler Hinsicht die Züge des
leibeigenen Bauern. Er mußte vor dem "Herrn" die "Mütze ziehen" und
war oft willkürlichen Geld- oder sogar Prügelstrafen ausgesetzt. Auch
hieran läßt sich ermessen, welch ungeheurer Fortschritt zunächst
die Herausbildung der abstrakten Rechtssubjekte und formal gleichen Staatsbürger
war, weil sie unerbittlich solchen Verhältnissen die Grundlage entzog.
Aber deren Überwindung hat sich bis weit ins 20. Jahrhundert hineingezogen;
vor allem die volle staatsbürgerlich-demokratische Gleichstellung der Lohnarbeiter
ließ auf sich warten. Zunächst war die demokratische Gleichheit nur
für die "besitzenden Stände" gedacht, auch ihrer eigenen Ideologie
nach. Nur der linkeste Flügel selbst der französischen Revolution
trat für die volle demokratische Gleichheit ohne jede Ausnahme ein. Bekanntlich
galt in Preußen bis 1918 das Dreiklassenwahlrecht und das Wahlrecht für
Frauen wurde in vielen Staaten erst im 20. Jahrhundert allmählich eingeführt,
in der superdemokratischen Schweiz bis heute nicht.
Der Grund dafür ist leicht zu erraten. Die empirische Bourgeoisie des 19.
und noch des beginnenden 20. Jahrhunderts dachte nicht daran, bruchlos und bedingungslos
der Logik ihrer eigenen Produktionsweise zu folgen. Die schmerbäuchigen
Honoratioren-Bourgeois, wie sie zur Karikatur reizen und noch heute in manchen
Provinzstädten in ihrer ganzen Widerlichkeit frei herumlaufen (Balzac hat
ihnen unsterbliche Denkmale gesetzt), waren selber noch viel zu sehr in den
feudalen Lebensformen befangen, als daß sie nicht die volle Demokratisierung
gefürchtet hätten. Befangen in bestimmten Lebensverhältnissen,
in denen sich die abstrakte Allgemeinheit erst allmählich ausbilden konnte,
und selbstverständlich ohne jeden Begriff von dem, was sie selber objektiv
waren, mußten diese damaligen Repräsentanten des Kapitals der Illusion
erliegen, mit der vollen Demokratie werde quasi automatisch ein Zustand herbeigeführt,
in dem die Lohnarbeiter auf dem Wege "demokratischer Mehrheiten" zur Enteignung
der Kapitalisten schreiten würden. Dahinter steht selbstverständlich
die vulgärpositivistische, juristisch verkürzte bürgerliche Auffassung
vom Privateigentum, das nicht als gesamtgesellschaftliches Verhältnis begriffen
werden kann. Gerade als solches aber wird es, weit davon entfernt, in Gefahr
zu geraten, durch die volle Demokratisierung erst vollgültig und in reiner
Form herausgearbeitet; erst in dieser reinen Form der abstrakten Staatsbürgerlichkeit
hält es auch den Lohnarbeiter als freien Privateigentümer seiner Ware
Arbeitskraft fest und
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produziert ihn in reiner Form als Produzenten des Kapitals selber, der außer
dem "Arbeitsplatz" keine anderen Götter mehr hat.
Der hier skizzierte historische Tatbestand erscheint dann kaum als verwunderlich,
wenn das Wertverhältnis als einmal in Gang gesetzte, den empirischen Individuen
sich aufherrschende Entwicklungslogik (und insofern als "automatisches Subjekt")
begriffen ist. Dann muß nämlich keineswegs "der Kapitalist" oder
"die Kapitalistenklasse" als SUBJEKTIVER SOZIALER WILLENSTRÄGER der kapitalistischen
Entwicklung von vornherein vorausgesetzt werden, wie es der soziologistischen
Willensillusion entspricht. Wie zu einem gegebenen Zeitpunkt der einzelne Kapitalist
in Gegensatz zur gesamtkapitalistischen Entwicklung geraten mag und auf dem
Wege des Bankrotts oder des staatlichen Eingriffs zur Räson kapitalistischer
Logik gebracht werden muß, so kann auch die empirische Bourgeoisie einer
bestimmten Übergangsepoche in ihrer Gesamtheit zum Hemmnis oder Bremsfaktor
einer höheren Entfaltung kapitalistischer Entwicklungslogik werden. Es
mußte keineswegs die verfettete, besonders in Deutschland am Rockzipfel
des Junkertums hängende HonoratiorenBourgeoisie selber als soziales und
politisches Subjekt sein, das dem eigentlichen, mit sich identischen Kapitalismus
des späteren 20. Jahrhunderts den Weg freischaufelte.
Die Rede vom "Verrat des Bürgertums an der Demokratie" enthüllt sofort
das ganze Geheimnis der alten Arbeiterbewegung. Dadurch, daß das empirische
Bürgertum und Spießbürgertum einer bestimmten Epoche vor der
weiteren Entfaltung des Wertverhältnisses zur Totalität haltmachte
und seine schäbigen, noch ständisch befangenen Vorurteile dagegen
geltend machte, konnte es so erscheinen, als wären das "kapitalistische
Interesse" und die volle Demokratie bzw. Rechtsstaatlichkeit keineswegs identisch.
Für ein unmittelbarkeitsfixiertes, schon warenfetischistisch konstituiertes
Bewußtsein, das die empirisch vorgefundenen sozialen Interessenlagen und
Ideologien umstandslos mit dem Produktionsverhältnis und dessen Entwicklungslogik
in eins setzt, mußte es sogar so erscheinen. Die Arbeiterbewegung und
der mit ihr verschmolzene Marxismus übertrugen nur die Willensillusion
des bürgerlichen Individuums auf die sozialen Klassensubjekte und nahmen
daher den mangelnden Willen der unmittelbar vorgefundenen Bourgeoisie zur Demokratie
als Indiz dafür, daß volle oder "reine" Demokratie mit dem Kapitalismus
unvereinbar sei. Sie wiederholten die Illusion der Bourgeoisie selbst, nur mit
umgekehrten Konsequenzen. Dies war natürlich nur möglich, weil die
alte Arbeiterbewegung den Wert selber noch begriffslos voraussetzte und ihr
Interesse nur in dieser Form und auf diesem Boden äußerte. Etwas
anderes konnte sie auch gar nicht tun, weil das Wertverhältnis noch nicht
genügend entfaltet war und alle Interessen, auch die fortgeschrittensten,
noch nicht über die Grenzen dieser Form hinausreichen konnten. Indem die
Arbeiterbewegung ihr wirkliches Interesse auf dem Boden der Wertform geltend
machte, konstituierte sie sich als BÜRGERLICHES Subjekt gegen die empirische
Honoratioren-Bourgeoisie. Nicht besser konnte dies ausgedrückt werden als
in ihrem offiziellen Namen: SOZIALDEMOKRATIE. Arbeiterbewegung und Marxismus
wurden so ironischerweise zu
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Motoren der kapitalistischen Entwicklung selbst; wie der kapitalimmanent bleibende
soziale Interessenkampf der Gewerkschaften, insbesondere die Begrenzung des
Arbeitstages, zur Schubkraft der Produktion des relativen Mehrwerts und der
weiteren kapitalistischen Produktivkraftentwicklung wurde, so der politische
Kampf der Arbeiterparteien zum Motor der Demokratisierung, d.h. der totalen
Herstellung abstrakt freier und gleicher Rechtssubjekte als Voraussetzung einer
Totalisierung der Lohnarbeit. Selbst die Koalitionsfreiheit, unerläßliches
Regulationsmoment eines hochentfalteten gesamtgesellschaftlichen Kapitalverhältnisses,
mußte gegen das empirische Interesse mächtiger Einzelkapitale durchgekämpft
werden.
Die alte Arbeiterbewegung hat die ihr mögliche Aufgabe erfüllt, im
positiven wie im negativen Sinne. Sie mußte zum emphatischen Streiter
für Recht, Staatsbürgerlichkeit und volle Demokratie werden: "Die
das Recht uns verfochten, und Unrecht drum litten! Hoch ewig das Recht - und
die Freiheit durchs Recht! - Die Freiheit durchs Recht!" (Freiligrath). Sie
konnte in ihrer historischen Bedingtheit nicht begreifen, daß abstrakte
Freiheit, Gleichheit, Recht, Staatsbürgerlichkeit und Demokratie allesamt
nur Emanationen der Lohnsklaverei sind und Voraussetzung ihrer Totalisierung,
die dann erst die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bringen sollte. Das
sinnlose und lang nachwirkende Begriffspaar "Sozialismus und Demokratie" (oder
umgekehrt) bürgerte sich ein als Verknüpfung, die es bis zur Gebetsmühlenhaftigkeit
gebracht hat.
In der Verbindung der Wertform mit "nationaler Identität" zeigte sich gleichzeitig
schon der Pferdefuß dieser Ideologie. Wie für die alte Arbeiterbewegung
die Kritik der Warenproduktion nur pseudomarxistisches Lippenbekenntnis blieb,
so der Internationalismus im wesentlichen abstraktes und äußerliches
Ideal, während die reale Immanenz in Lohnarbeit und damit Wertform auch
real "nationale Identität" stiftete. Die Begrenztheit dieser Arbeiterbewegung
und dieses Marxismus zeigte sich schauerlich im freiwillig dargebrachten Blutopfer
des Ersten Weltkriegs, als in vorderster Front die sozialdemokratischen Gewerkschaften
und Parteien zu nationalen Hyänen wurden; sie zeigte sich ebenso in den
Revolutionen am Ende dieses Krieges, als sich die Arbeiter mit der vollen Demokratisierung
auf Basis der Lohnarbeit zufrieden gaben.
Auch die Radikalität des Bolschewismus mußte sich auf den vorgefundenen
nationalen und demokratischen Rahmen der Epoche beschränken. Ungeachtet
seiner viel weitergehenden, aber inhaltlich unbestimmten sozialistischen Zielsetzungen
konnte er letztlich auf den gegebenen gesellschaftlichen Grundlagen nichts weiter
tun, als in einer im modernen Sinne besonders rückständigen Gesellschaft
mit besonders radikalen Mitteln BÜRGERLICHE, der HERAUSBILDUNG (und nicht
etwa der Abschaffung) des Wertverhältnisses günstige Bedingungen zu
schaffen. Nachholende Industrialisierung oder nachholende ursprüngliche
Akkumulation konnte mit Sozialismus nichts zu schaffen haben, andererseits jedoch
aufgrund der extremen Schwäche der empirischen Bourgeoisie nur von Sozialisten
mit einer sozialistischen Ideologie und gestützt auf eine Arbeiter- und
Bauernbewegung durchgesetzt werden.
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Dies ist keineswegs, wie in verschiedenen Varianten behauptet worden ist, ein
russisches Spezifikum. Vielmehr drückte sich in der Oktoberrevolution und
der sowjetischen Entwicklung nur besonders kraß und besonders paradox
das tiefe Dilemma der gesamten alten Arbeiterbewegung aus, als Bewegung von
Lohnarbeitern mit dem vagen, hilflos unbestimmten Ideal der Abschaffung von
Lohnarbeit oder wenigstens ihrer Übel doch real historisch nichts weiter
leisten zu können, als dem Wertverhältnis und damit der Lohnarbeit
selber den Weg zur totalen Entfaltung zu bahnen.
Nachholende Industrialisierung hieß sozial gleichzeitig nachholende und
beschleunigte Verwandlung der unmittelbaren bäuerlichen Produzenten in
unmittelbare Produzenten des Kapitals, also des abstrakten Reichtums und damit
in Lohnarbeiter. Nachholende Industrialisierung hieß im selben Atemzug
Totalisierung der Warenproduktion, Nationalisierung und Demokratisierung der
Gesellschaft im Sinne ihrer "Verrechtlichung", d.h. der Modelung aller Menschen
zu abstrakt vergesellschafteten Rechts-Subjekten und abstrakt freien und gleichen
Staatsbürgern. All dies kostete ungeheure Opfer, brachte jedoch auch für
die russische Gesellschaft einen gewaltigen Fortschritt, AUCH für die großen
Massen der Bevölkerung. Sie bekamen RECHTE (Arbeitsrecht usw.), moderne
Wohnungen mit Bädern, regelmäßiges Einkommen, Alphabetisierung,
Bibliotheken, Telefon, Eisenbahnverbindungen, Schulen und Weiterbildungsmöglichkeiten
usw. Gerade aufgrund der extremen Rückständigkeit der russischen Gesellschaft
konnten alle diese Errungenschaften einer BÜRGERLICHEN Entwicklung mit
"Sozialismus" verwechselt werden und wurden auch als solcher geltend gemacht.
Ein Schlaglicht auf die Verhältnisse wird z.B. geworfen, wenn Tschernyschewski
noch während der Zarenzeit in seinem berühmten Roman "Was tun?" als
sozialistische Utopie etwas beschreibt, das einem heutigen Kantinenessen bei
Siemens oder in der Mensa einer Universität verzweifelt ähnlich sieht.
Wie auch sonst auf der Welt hat die Herausbildung der Lohnsklaverei noch viel
üblere Formen der Ausbeutung und Unterdrückung aus vorkapitalistischer
Zeit abgelöst, die unmittelbaren Produzenten gerade durch die Unterwerfung
unter die Wertform abstrakt zu "Herren" gemacht im Sinne gleicher Rechtssubjekte,
die nicht mehr in der tagtäglichen Praxis mit Stockprügeln bedacht
werden, sondern Arbeitsverträge abschließen etc., während gleichzeitig
ihre BEDÜRFNISSE mit der in der Wertform vorangetriebenen Produktivität
ständig erweitert werden. Das IST "zivilisatorische Mission des Kapitals",
und deswegen gehört es zum permanenten Ablassen eines moralischen Fusels
von demokratischen Schwachköpfen, wenn der sogenannte Stalinismus ständig
als ein einziges großes Verbrechen denunziert wird. Andererseits ist es
genauso unsinnig, diese Gesellschaftsformation als "sozialistisch" zu bezeichnen
und damit auf ihre nur historisch zu begreifende Ideologie hereinzufallen.
Es kann sich bei der sowjetischen Produktionsweise letztlich nur um ein kapitalistisches
PRODUKTIONS-Verhältnis handeln. Trotzdem ist der Ausdruck "Staatskapitalismus"
schief und irreführend, nicht nur deswegen, weil er überhaupt von
der Sache gegenüber begriffslo-
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sen und selber warenfetischistischen Ideologen anarchistischer und maoistischer
(Bettelheim) Provenienz besetzt ist. Denn die vom Westen abweichenden Formen
gesellschaftlicher Reproduktion, wie sie sich im sowjetischen Kapitalverhältnis
historisch herausgebildet haben, sind keineswegs ein bloßer "Schleier",
hinter dem sich doch platt "dieselbe" kapitalistische Reproduktion wie im Westen
verbergen würde. Und schon gar nicht ist simpel die gesamtstaatliche Regulation
das wesentlichste Kennzeichen dieser Formation oder ihr letzter Grund, wie es
ein rechter oder linker Staatsfetischismus (je nachdem positiv oder negativ
wertend) behauptet, der die bürgerliche Willensillusion dem Wertverhältnis
gegenüber auf den Staat projiziert.
Das gesellschaftliche Quasi-Subjekt, d.h. die "hinter dem Rücken" der Akteure
sich vollstreckende Resultante, ist weder der Staat noch die Partei oder irgendeine
Klasse, sondern Partei, Staat und Klassen sind vielmehr selber Resultate und
blinde Akteure der historischen Bewegungsform des Werts, des "automatischen
Subjekts", das nichts weiter ist als eine von der Gesellschaft selber unbeherrschte
Logik ihrer eigenen Entwicklung. Insofern sind auf dieser allgemeinsten Ebene
die kapitalistischen PRODUKTIONS-Verhältnisse in West und Ost identisch,
denn der gesamtstaatliche quantitative Regulationsmechanismus ändert nichts
an der QUALITÄT der grundlegenden produktiven Gesellschaftsbeziehung. Das
bürgerliche Denken der Linken beweist sich auch darin, daß sie einen
qualitativen Unterschied zwischen "Realsozialismus" und Kapitalismus hauptsächlich
an den Erscheinungen der Zirkulationssphäre festmachen will, die eben nur
quantitativer Natur sein können (Allokation von Kapital und Arbeitskraft
durch die Konkurrenz unmittelbar oder durch staatliche Regulierung, jedoch in
derselben historischen Form). Das Unbeherrschte, Blinde aber bleibt gerade das
gesamtgesellschaftliche qualitative Produktionsverhältnis der Menschen
selbst, das nicht dadurch aufgehoben wird, daß der Staat quantitative
DINGLICHE Planvorgaben macht, die sich immer gleichzeitig verräterisch
in der Wertform darstellen müssen.
Im quantitativen Regulationsmechanismus des Werts jedoch muß die sowjetische
Produktionsweise sehr stark vom westlichen Kapitalismus abweichen, und nicht
nur scheinbar. Zwar hat auch im Westen der absolutistische Staat des 18. Jahrhunderts
eine gewisse Rolle bei der Konstituierung des Kapitalverhältnisses gespielt;
diese Rolle mußte sich jedoch in der Formation einer NACHHOLENDEN ursprünglichen
Akkumulation um ein vielfaches verstärken. Der moderne Staatsapparat ist
hier nicht so sehr RESULTAT als vielmehr VORAUSSETZUNG einer kapitalistischen
Entwicklung, jedoch nicht im geringsten etwa als SUBJEKT, sondern vielmehr als
bloße FUNKTION der herauszubildenden Wert-Vergesellschaftung. Sein Vorbild
findet er daher auch nicht im asiatischen Despotismus (Dutschke u.a.), sondern
gerade umgekehrt im staatlichen und großkapitalistischen Management des
Wertverhältnisses im Westen, das in diesem Sinne bereits funktionalistisch
objektiviert ist; nicht von ungefähr gab gerade die deutsche Kriegswirtschaft
des Ersten Weltkriegs ein Muster ab. Dieser funktionale Staatsapparat, von der
bolschewistischen Partei aus dem Boden gestampft, mußte erstens
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die Sowjetunion vom bereits relativ hochentfalteten kapitalistischen Weltmarkt
abschotten, um eine eigenständige nationale Kapitalbasis zu sichern und
nicht weltmarktvermittelt von den höher entwickelten Nationen des Wertverhältnisses
ökonomisch aufgesaugt zu werden; er mußte zweitens im Interesse einer
historisch ungeheuer beschleunigten Akkumulation den Allokationsmechanismus
des "Wertgesetzes" insoweit (und nur insoweit!) modifizieren, als die Investitionsentscheidungen
beim Staat zu zentralisieren waren, um den Fluß der Mehrwertmasse in die
strategisch wesentlichen Sektoren einer nationalen Kapitalentwicklung zu lenken
ohne Rücksicht auf die jeweilige betriebswirtschaftliche Rentabilität.
Schließlich aber mußte der Gesamtprozeß dieser nachholenden
Industrialisierung, der gleichzeitig gefährliche Friktionen mit der eigenen
sozialistischen Ideologie implizierte, mit DIKTATORISCHEN Methoden durchgepeitscht
werden. Die Sowjetunion hatte auf dem Boden des traditionellen Arbeiterbewegungs-Marxismus
keine großen Schwierigkeiten gehabt, die nachholende Industrialisierung
in eine Ideologie "nationaler Identität" einzubinden ("sozialistisches
Vaterland", "großer vaterländischer Krieg", Abschaffung der "Internationale"
als Nationalhymne, was allerdings nur die Abschaffung eines unfreiwillig komischen
Widerspruchs in sich war). Sie hatte jedoch große Schwierigkeiten, die
diktatorischen Maßnahmen der demokratistischen Ideologie gegenüber
zu legitimieren, wie sie sich vor allem in der westlichen Arbeiterbewegung eingebürgert
hatte. Diese Ideologie freilich war (und ist bis heute) mehr auf den süßlich
verkitschten Ideenhimmel der Demokratie bezogen als auf ihre banale Realität.
Vor allem die reale Existenz der Gewalt im System von Recht, Rechtsstaat und
Demokratie paßt nicht zum demokratischen Gartenlaube-Kitsch der Linken.
Die Demokratie kann in ihrem Kern gar nichts anderes sein als ein GEWALTVERHÄLTNIS
zur Garantie des Werts, d.h. der Lohnarbeit. Das Recht hat die Gewalt nicht
etwa AUFGEHOBEN, sondern bloß aus einem Dasein der rohen Unmittelbarkeit
in ein Dasein der vergesellschafteten, durch ein anderes Medium gefilterten
Vermitteltheit gehoben. Die abstrakten Geldsubjekte der verallgemeinerten Warenwelt
tragen den unvermeidlichen Interessenkonflikt, soweit er innerhalb dieser abstrakten
Warenlogik bleibt, nicht mehr direkt gewaltsam aus, sondern als Rechts-Subjekte,
die sich an die Instanzen des Rechtsstaats als Träger der abstrakten Allgemeinheit
wenden. Dieses vermittelte Dasein der Gewalt im Recht erzeugt die demokratische
Illusion, die Gewalt stelle in der Demokratie überhaupt ein verschwindendes
Moment dar oder sei sogar mit demokratischen Gepflogenheiten unvereinbar.
Diese Illusion wird zum einen genährt durch die sublimierte Form der Gewalt,
wie sie sich unmittelbar aus dem Produktionsverhältnis selbst ergibt. Diese
Gewalt ist tatsächlich keine unmittelbare Gewalt einer herrschenden Klasse
mehr, sondern die sublime Gewalt des blinden Vergesellschaftungsprinzips der
Wertform selber. Die Gewalt des Geldes ist der "stumme Zwang der Verhältnisse"
(Marx), der die Massen ganz ohne Knüppel und Bajonett zur Lohnarbeit knutet.
Indem jeder weiß, daß zwischen das kleinste Lebensbedürfnis
und dessen Befriedigung das Geld getreten ist, muß er sich tagtäglich
dem Lohnarbeitsverhältnis
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ausliefern, dessen Inhalt seinen Lebensbedürfnissen völlig fremd ist.
In einem System totalisierter Lohnarbeit MUSS er diese Lohnarbeit sogar SELBER
WOLLEN, ja sich an den "Arbeitsplatz" als einzige Lebensgrundlage in der totalen
GeldGesellschaft klammern und sogar verzweifelt darum kämpfen. Dieses WOLLEN-MÜSSEN
ist der fürchterlichste Zwang.
Der Lohnarbeiter wird durch das unmittelbar vom kapitalistischen Produktionsverhältnis
gesetzte Wollen-Müssen seiner eigenen Knechtschaft unter dem unpersönlichen
Diktat des Geldes zu einem widersprüchlichen, in sich zerrissenen und mit
sich zerfallenen Wesen. Er klammert sich an die Lohnarbeit, außer der
er keine andere Form gesellschaftlicher Arbeit denken kann; er empfindet sogar,
besonders als qualifizierter oder "verantwortlicher" Facharbeiter etc. im ideologischen
Salto mortale STOLZ auf diese seine entfremdete Arbeit, die "alle Werte schafft".
GLEICHZEITIG aber hat der tiefe Haß des Lohnarbeiters gegen die Arbeit
keine einzige Minute in der Geschichte des Kapitals aufgehört zu brennen;
ein Haß freilich, der sich keinen Begriff und keine Richtung von sich
aus zu geben weiß, weil die Unpersönlichkeit des zugrundeliegenden
Verhältnisses nicht identifiziert werden kann. Der Arbeiter ist freies,
gleiches und formales Rechtssubjekt, das nicht mehr von den Schergen des Fabrikherrn
geschlagen werden darf; aber die stumme, unpersönliche Gewalt des auf die
Spitze der Entfremdung getriebenen Arbeitsprozesses selbst ist umso persönlichkeits-zerrüttender
an ihre Stelle getreten.
Indem die "herrschenden Klassen" sich aus der gesellschaftlichen Selbst-Herrlichkeit
naturverhafteter vorkapitalistischer Formationen in bloße FUNKTIONÄRE
der entfesselten Wertform verwandelt haben, werden sie selber zunehmend in die
menschliche Zerrüttung und Deformation direkt einbezogen. Der peitschende
und nicht minder stumme Zwang zum abstrakten, funktionellen, in seinem Inhalt
total gleichgültigen "ERFOLG", der tagtäglich gefährdet ist und
immer neu mit immer rasenderer Anstrengung errungen werden muß, hat auch
die "Herrschenden" aus der Muße eines gesicherten feudalen Renten-Verzehrs
herausgerissen und ihnen den Stempel der funktionalistischen Persönlichkeits-Reduzierung
aufgedrückt. Die Manager, Politiker, Stars usw., für den gewöhnlichen
Lohnarbeiter Gegenstand von Träumen zur Flucht aus der entfremdeten Arbeits-Verdammnis,
stehen in Wahrheit unter demselben Zwang in anderer Form, freilich auch in luxuriöseren
Alltagsverhältnissen. Die funktionalistische Zerstörung der Genußfähigkeit
aber ist eine gesellschaftlich-allgemeine, die alle Menschen ausnahmslos unter
den Bann der Entfremdung stellt.
Im Untergrund der persönlichen Beziehungen der freien und gleichen Rechtssubjekte
in ihrer Gesamtheit tobt die sublimierte Gewalt des Wertverhältnisses weiter
und führt permanent und sukzessive zu wilden irrationalen Ausbrüchen,
zu psychischen gegenseitigen Verletzungen und Erniedrigungen, zur Flucht in
Krankheit, Neurosen und Psychosen, aber auch zu scheinbar sinnlosen und "unbegreiflichen"
Eruptionen mörderischer Gewalt des hilflos in die Enge getriebenen abstrakten
Privatmenschen; auf der höchsten Stufe ihrer Entwicklung setzt die kapitalistische
Zivilisation geradezu eine neue kulturelle Blüte des Amoklaufs frei,
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speziell in Ländern mit kapitalistischer Pionier-Tradition und allgemeinem
Waffenbesitz wie USA oder Australien.
Das Recht regelt so als vermittelte Gewalt nicht bloß den funktionalen
Verkehr der Rechtssubjekte im Gefüge der totalen Warenproduktion, es ist
zugleich selber Ausdruck des tiefen Irrationalismus dieser Produktionsweise,
der mit ihrer Entfaltung hervortritt, und muß die Ausbrüche dieses
Irrationalismus, das hervorbrechende Nicht-Funktionieren im kleinen wie im großen
Maßstab bannen und mit Sanktionen belegen. Hinter dem Recht steht daher
notwendig immer noch die offene und bewaffnete Gewalt, eine Gewalt jedoch, die
auch ihrerseits wieder UNPERSÖNLICH geworden ist. Diese offene, bewaffnete
Staatsgewalt tritt nicht mehr als partikulares Interessensubjekt auf, sondern
als Hüterin der abstrakten Allgemeinheit selber. Sie ist also auch in dieser
manifesten Form nicht mehr unmittelbar an sich selber direkte soziale Klassengewalt
wie noch im Feudalismus, nämlich offene bewaffnete Selbstorganisation einer
herrschenden Klasse, sondern vielmehr indirekte, vermittelte Klassengewalt,
deren Subjekt nicht mehr ein dingfest zu machender sozialer Träger ist.
Der einzelne Polizist, Soldat, Richter und Henker ist selber bloß ein
funktionales Rädchen, selber lohnabhängig und "tut nur seinen Job",
wie er gleichzeitig keinerlei persönlichem Herrn mehr verpflichtet ist,
sondern der abstrakten Unpersönlichkeit des Systems in Gestalt des positiven
Rechts.
Diese organisierte Gewalt, im Unterschied zum bloß "stummen Zwang der
Verhältnisse", steht nicht nur hinter jedem Recht, sie tritt auch hervor,
und zwar ganz alltäglich in jeder demokratischen Gesellschaft. Die phantastischen
Friktionen des Wertverhältnisses werden an seinen Opfern tagtäglich
mit offener Gewalt vollstreckt, und zwar ganz demokratisch und "im Recht". Dafür
sorgt ein keineswegs verschwindendes, sondern im Gegenteil sich immer weiter
verzweigendes Aggregat von Gewalt- und Repressions-Institutionen, die sich als
ein System von Polizeiapparaten, Elendsverwaltung, Kontrollorganen usw. wie
eiserne Reifen um die Gesellschaft legen, um durch alle Aus- und Zusammenbrüche
hindurch die Wert- und Rechtsform über die Individuen hinweg zu vollstrecken
im wahrsten und fürchterlichsten Sinne des Wortes. Jeder hat das Recht,
den Demütigungen der Arbeitsverwaltung und des Sozialhilfeapparats ausgesetzt,
bespitzelt und kontrolliert, von der Polizei verprügelt, in Maßen
gefoltert sowie von der demokratischen Justiz bei etwelchem Nichtfunktionieren
eingekerkert, entmündigt und psychiatrisiert und, wenn das positive Recht
es gerade erlaubt, auch gehenkt oder erschossen zu werden. Das sind alles Grundrechte
und Menschenrechte geradesogut wie das Recht auf Versammlungsfreiheit oder,
noch besser, das "Recht auf Arbeit" (Arbeit macht frei). Wer nur die einen Rechte
erwähnt und die anderen vergißt, oder sogar die einen gegen die anderen
ins Feld führt, ist entweder ein Heuchler oder ein Dummkopf. Das Recht
auf Menschenwürde etc. mag dem Recht auf Verprügeltwerden in besonderen
Situationen widersprechen, aber mit diesem Widerspruch kann die reine Demokratie
leben. Das Nähere regeln die Gesetze und Ausführungsbestimmungen.
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Der Fortschritt des kapitalistischen Rechtsstaats gegenüber den vorkapitalistischen
Verkehrsformen unmittelbarer PERSÖNLICHER Gewalt (des Feudalherrn oder
Sklavenhalters und seiner Bewaffneten) ist also ein sehr bedingter, relativer;
auch wenn die Gewalt unpersönlich geworden ist, erscheint sie trotzdem
umso drückender in Gestalt des "stummen Zwangs", und sie tritt gleichzeitig
in ihrer Unpersönlichkeit auch als offene Gewalt immer dann hervor, wenn
sich die unlösbaren Widersprüche des Wertverhältnisses zum Zerreißen
spannen, im Alltag wie in gesellschaftlichhistorisch zugespitzten Krisensituationen.
Der Knüppel ist hinter die abstrakte Rechtsform zurückgetreten, aber
er ist noch da und schlägt umso härter in der Hand des unpersönlich
agierenden, dem Recht der abstrakten Allgemeinheit verpflichteten Beamten. Die
Schere im Kopf bedarf stets der wirklichen, real schneidenden Schere, sei es
als latente Drohung oder als offene Manifestation. Die Institutionen der Gewalt
gerade in ihrer Unpersönlichkeit "verschwinden" so wenig, daß sie
sich sogar im Gegenteil mit der Entfesselung der Krisenpotenz des Wertverhältnisses
immer weiter ausdehnen. Kein Häuptling und selbst kein absoluter Fürst
hätte sich in seinen kühnsten Träumen einen derart umfassenden
Gewalt-, Repressions- und Kontrollapparat erhoffen können, wie ihn die
Demokratie hervorgebracht hat. Und auch innerhalb der kapitalistischen Geschichte
ist die Stufenfolge dieser Aufrüstung der Gewalt in der Rechtsform zu beobachten.
Der wilhelminische Gewalt- und Kontrollapparat mußte vor dem Schergen-System
der plebiszitären faschistischen Massendemokratie verblassen; das parlamentarisch-demokratische
System der individualisierten, jeder Massenmobilisierung abholden moderneren
und funktionalistischeren Massendemokratie der BRD seinerseits hat in seinem
umfassenden Kontroll- und Repressions-System, das mit allen Mitteln moderner
Organisationstechnik, Erfassungs- und Sozialtechnologie arbeitet, den Apparat
des faschistischen Staates in seiner Effizienz bereits übergipfelt. Mit
der Totalisierung des "stummen Zwangs" wird der manifeste Zwang kein verschwindendes
Moment, sondern er totalisiert sich vielmehr gleichfalls, und zwar umso durchschlagender,
je mehr auch ihm die Kälte und quasi funktionalistische Unschuld der Unpersönlichkeit
anhaftet.
In seinem ebenso unpersönlichen wie überwältigend umfassenden
Dasein muß der Gewaltapparat aber die Massen nicht mehr äußerlich
in die abstrakte Rechtsform hineinprügeln, in der sie schon sind, und kann
daher POLITISCH auch durch seine Latenz wirken. Während die Gewalt aus
der äußerlichen politischen Manifestation in die bloße Latenz
des (stets möglichen) Ausnahmezustands zurückgenommen ist, während
oppositionelle Manifestationen bis zu einem gewissen Grade "erlaubt" sind, schlägt
sie aber umso härter und gesellschaftlich geräuschloser zu in der
Mikroorganisation des Alltags, der massenhaftes Nicht-Funktionieren und "Herausfallen"
produziert.
Das demokratische Bewußtsein überhaupt und speziell das Bewußtsein
der demokratischen Linken muß gerade als theoretisches die Logik und den
Charakter der reinen Demokratie völlig verbiegen und entstellen, um mit
sich im reinen bleiben zu können. Die Gewalt des
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"stummen Zwangs" des Geldes wird teils weggelogen, teils bemäntelt, dem
hilflosen Individuum als SEIN Problem zugeschoben (etwa in Gestalt moderner
Therapie- und "Erfolgs"-Kurse für "positives Denken", die sich schon wieder
zu einer eigenen Bewußtseins-Industrie gemausert haben) oder einer schwächlichen
"Reformierbarkeit" für zugänglich gehalten in den Grenzen der Lohnarbeit
und des Wertverhältnisses ("Humanisierung der Arbeitswelt", "kommunale
Kultur", Lebensreform- und "Alternativ"-Bewegung usw.). Die manifeste Staatsgewalt
andererseits wird teils angebetet als Garantie der "Ordnung" und des "zivilisierten
Zusammenlebens" ("Staat tut not", weiß inzwischen der zurückbekehrte
Exterrorist Mahler), teils absurderweise angeprangert als "willkürlich"
und "undemokratisch", wo sie sich als Vollstreckungsgewalt gegen diese Linke
selbst richtet. So sinnlos und hoffnungslos das ständige Anprangern der
manifest werdenden demokratischen Staatsgewalt der abstrakten Allgemeinheit
als angeblich "undemokratisch" auch ist, die Linke zelebriert dieses begriffslose
Ritual ihres eigenen ideologischen, fetischistischen Demokratismus stets aufs
neue.
Wie für das kapitalistische Alltagsbewußtsein ist auch für diese
demokratische Linke die unpersönliche Gewalt in ihren offenen wie in ihren
latenten, sublimen und "stummen" Formen nicht mehr dingfest zu machen, ebensowenig
für den damit verbundenen soziologistisch verhunzten Marxismus, der sich
aufreibt in dem armseligen Versuch, als Drahtzieher etwa der modernsten Staatsgewalt
irgendein bösartiges Kapitalistenkomplott als unmittelbares Subjekt ausfindig
zu machen, statt in der Existenz von Wert, Staat und Demokratie selbst schon
das Gewaltverhältnis zu erkennen.
Auch bei der Rechten wuchern diesem unbegriffenen Verhältnis gegenüber
die Verschwörungs- und Elitetheorien, gleichzeitig reale Verschwörungen,
die jedoch nie wirklich Subjekt des Prozesses werden können, dessen Marionetten
sie trotz aller geltend gemachten Subjektivität doch ebenso bleiben. Vor
der Unpersönlichkeit solcher Instanzen des Wertverhältnisses wie der
"Nation", der Demokratie usw. kann sich die darauf bezogene und davon ausgehende
Gewalt stets im Recht fühlen, auch die eines beliebigen Putschgenerals
in einer südamerikanischen Bananenrepublik. Diktatorische Maßnahmen
sind nichts der reinen Demokratie Fremdes, sondern geradezu ihr Bestandteil,
sei es als latente Drohung (Notstandsgesetze) oder akut. Das kommt nur auf die
jeweilige Situation an. Für die reale Existenz der reinen Demokratie genügt
es, daß die Wertform verallgemeinert ist und sich demzufolge alle Menschen
in abstrakte Rechtssubjekte verwandelt haben, daß alle Maßnahmen
und Entscheidungen überhaupt in dieser RECHTSFORM vor sich gehen müssen,
auch die Gewalt, daß sie UNPERSÖNLICH sein müssen, also sich
auf abstrakt freie und gleiche Staatsbürger zu beziehen haben, deren Freiheit
immer gleichzeitig durch die Rechtsform begrenzt und geregelt wird, die nichts
anderes zum Inhalt hat als die Lohnsklaverei des stolzen Besitzers der Ware
Arbeitskraft. Alles weitere sind Modalitäten und graduelle Unterschiede,
die in der empirischen Situation jeweils taktisch bedeutsam sein mögen,
jedoch keinen qualitativen Unterschied ausmachen. Wer das nicht begreift, hat
die Demokratie nicht begriffen.
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Die diktatorische Gewalt in der sowjetischen Gesellschaft war also nichts ihrer
Demokratisierung Äußerliches oder Fremdes, sondern nur der permanenten
Ausnahmesituation einer bewußt vollzogenen, historisch beschleunigten
ursprünglichen Akkumulation geschuldet. In allen seinen Momenten war das
gesellschaftliche Wertverhältnis aus dem Boden zu stampfen; die dabei notwendig
auftretenden Deformationen machen in ökonomischer wie politischer Hinsicht
den ganzen Unterschied der Sowjetunion zum Westen aus. Es ist eine "Übergangsgesellschaft",
aber nicht zum Sozialismus, sondern zum Kapitalismus. Gegenwärtig ist sie
dabei, krisengeschüttelt und völlig ohne Bewußtsein von sich
selbst in ihre historische Zielzone einzutreten. Herzlich willkommen in der
kapitalistischen Weltwirtschaftskrise, Herr Gorbatschow!
Die ideologischen Legitimationsschwierigkeiten der sowjetischen Gesellschaft
hinsichtlich ihrer Demokratisierung blieben allerdings immer ein Problem, und
zwar unfreiwillig ironisch auf eine höchst doppelbödige Weise. Denn
zum einen mußte sie ihrem SOZIALISTISCHEN Anspruch gegenüber die
Herausbildung des demokratischen Gewaltverhältnisses und der abstrakten
Verstaatsbürgerlichung rechtfertigen; sie tat dies erstens durch naive
"Umbenennungen" vermittels des unschuldigen Adjektivs "sozialistisch": "sozialistische"
Staatsgewalt, Justiz, Demokratie, Polizei usw. bis hin zu den "sozialistischen"
Zuchthäusern, Konzentrationslagern und Folterknechten; die Existenz solcher
grandiosen "sozialistischen" Wesenheiten kann dort nicht überraschen, wo
es einen "sozialistischen" Wert und eine "sozialistische" Warenproduktion samt
Betriebswirtschaft und allen Schikanen gibt. Zweitens aber wurden gerade die
diktatorischen Momente der sowjetischen Industrialisierung und Demokratisierung
als besondere SOZIALISTISCHE Maßnahmen gegen die "Bourgeoisie" im nationalen
wie internationalen Maßstab hingestellt; Väterchen Stalin sah den
Staat bei Annäherung an den Sozialismus immer mehr anwachsen - Marx mußte
sich "getäuscht" haben. Daran sieht man, wie undogmatisch der Genosse Stalin
sein konnte und welche Freude der Erz-Sozialdemokrat Lassalle theoretisch an
ihm gehabt hätte.
Zum andern aber mußte die Sowjetunion ihrem aus der alten Arbeiterbewegung
ererbten DEMOKRATISCHEN Anspruch gegenüber eben jene im Interesse der ursprünglichen
Akkumulation, die fatalerweise auf den falschen Namen "Sozialismus" getauft
war, nötigen diktatorischen Maßnahmen und Eingriffe rechtfertigen.
Sie tat dies in Form einer Flucht nach vorn, indem sie jede größere
oder kleinere Abweichung in der Verstaatsbürgerlichung der Menschen, so
etwa die Sowjets selber, als "tausendmal demokratischer" (Lenin) im Vergleich
zur westlichen Demokratie herausstellte. Es konnte nun ein höchst eigenartiges
historisches Versteck- und Verwirrspiel der demokratischen Ideologie ausgefochten
werden. Beide Gesellschaftsformationen sind sowohl ihrem Selbstverständnis
als auch ihrer wertförmigen Grundlage nach, die Lohnarbeit zum Inhalt hat
und deren Konsequenz die abstrakte Rechtsform ist, durchaus demokratisch. Beide
stellen im Kern ein unpersönlich gewordenes Gewaltverhältnis dar.
Die historisch erklärbaren Unterschiede in den Modalitäten aber werden
beiderseits für die Pflege
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von Feindbildern der Machtblocks ausgemalt. Klagt der amerikanische Präsident
das Menschenrecht auf Freizügigkeit und Pressefreiheit etc. in der Sowjetunion
ein, so kontert der russische Parteichef unfehlbar mit dem Recht auf Arbeit
und Menschenwürde der Obdachlosen in New York und der Masse der Arbeitslosen
in der westlichen Welt, mit dem Verbot der KPD oder der Diktatur in Chile. In
der Tat: beide Varianten der Demokratie sind einander wert.
Freilich hatte und hat die Sowjetunion als historischer Nachzügler im Prozeß
kapitalistischer Vergesellschaftung und im Welt-Machtkampf auf der Basis des
kapitalistischen Welt-Wertverhältnisses die schlechteren Karten, und zwar
sowohl ökonomisch als auch politisch. Die staatliche Planvorgabe und Zirkulations-Regulierung,
notwendig für die strategische nationale Basis-Akkumulation, mußte
historisch erodieren und zu kontraproduktiven Formen der betriebswirtschaftlichen
Konkurrenz führen; und übrigens zum glatten Gegenteil von "Gebrauchswertproduktion",
denn die sowjetischen Tauschwerte sind oft fast keine Gebrauchswerte von der
Qualität her oder nur mit Einschränkung. Diese Pseudo-Planung auf
der Basis der gesellschaftlichen abstrakten Wertform ist unfähig, von der
extensiven zur intensiven Industrialisierung überzugehen und fällt
daher im Prozeß der Verwissenschaftlichung gesellschaftlicher Reproduktion
historisch wieder zurück; sie ist also nicht in der Lage, von der Produktion
des absoluten zu der des relativen Mehrwerts als Hauptmotor weiterer kapitalistischer
Entwicklung überzugehen - und nur deshalb kennt sie keine oder nur geringe
Arbeitslosigkeit. Gleichzeitig werden die rohen, einem permanenten Ausnahmezustand
entsprechenden Formen der Verrechtlichung und Verstaatsbürgerlichung dysfunktional
und müssen ebenso wie die bürokratische ökonomische Regulation
des Mehrwerts durch modernere Formen abgelöst werden.
Erst recht gilt dies für die Länder der westlichen Peripherie des
sowjetischen Machtbereichs, für die das sowjetische "Modell" aufgrund ihrer
größtenteils schon höheren kapitalistischen Vergesellschaftungsstufe
von vornherein eher ein historischer RÜCKSCHRITT war, ein gewaltsam und
äußerlich aufgepfropftes System, das daher auch nur um den Preis
stets neuer Aufstandsbewegungen (DDR, Ungarn, Polen, CSSR) zu halten war. Der
"freie" westliche Kapitalismus befand sich hier meist in einer vorteilhaften
ideologischen Legitimations-Position, weil er die sowjetische Gesellschaft nicht
als eine historisch nachziehende, noch rückständige Abart seiner selbst
zu identifizieren brauchte, sondern die unvermeidlichen Formen dieser Rückständigkeit
als ihm äußerliches Feindbild für seine eigene Legitimation
ausschlachten konnte.
Da es in diesen Konflikten des demokratischen, d.h. warenfetischistischen Bewußtseins
immer nur um relative, graduelle Unterschiede ein- und derselben Qualität,
nämlich des Wertverhältnisses, in jeweils verschiedenen historischen
oder akuten politisch-ökonomischen Zuständen und Verlaufsformen geht,
kann die gegenwärtige Reformpolitik Gorbatschows von diesem fetischistischen
Bewußtsein angegafft werden wie ein Weltwunder. Der absolut
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theorielose Generalsekretär, dessen erbarmungswürdig moralisch-demokratische
Ergüsse von hohlen Phrasen der übelsten Art nur so strotzen, drückt
nur völlig bewußtlos den seit langem anstehenden notwendigen Übergang
des sowjetischen Wertverhältnisses zu moderneren Formen des Kapitals aus.
Die Sowjetunion wird dadurch nicht "demokratischer", weil ein solcher Komparativ
ein reiner Unsinn ist (genausowenig kann eine Birne "birniger" oder ein Wasser
"wässriger" werden), sondern sie paßt nur Rechtsstaat und Demokratie
als Momente des Wertverhältnisses dem erreichten Entwicklungsstand an,
gerade weil dieser auch ÖKONOMISCH ein stärkeres "Loslassen des Marktes"
erzwingt.
Daraus ergeben sich natürlich neue Legitimationsprobleme dem "sozialistischen"
Selbstverständnis gegenüber. Für die marxistische Variante des
fetischistischen Bewußtseins war mit der "Planwirtschaft" in der Wertform
der "ökonomische" Sozialismus erreicht; soweit sich dieser Fetischismus
kritisch gab, mußte er natürlich ausgerechnet die vermeintlich noch
fehlende oder unzureichende "Demokratie" einklagen, ohne von den wirklichen
Zusammenhängen auch nur das geringste zu verstehen. Eine "sozialistische
Demokratie" ist genausogut eine contradictio in adjecto wie eine "sozialistische
Warenproduktion". Besäße dieser fetischistische Vulgärmarxismus
auch nur einige Konsistenz, müßte er es sich zum Problem machen,
daß nunmehr die "Demokratisierung" nicht etwa zur famosen "Planwirtschaft"
als das hinzutritt, was zum sozialistischen Glück noch gefehlt hat, sondern
gerade umgekehrt mit der vermeintlichen Zunahme der Demokratie im selben Maße
die vermeintliche Planwirtschaft ABNIMMT: zunächst marginale "Privatisierungen"
(meist ausgehend vom Dienstleistungssektor), "Eigenfinanzierung der Betriebe",
ganzer oder teilweiser Zusammenbruch des Außenhandelsmonopols, Diskussionen
über das "Zulassen" solcher Segnungen der Menschheit wie Bankrott und Arbeitslosigkeit
usw. zeigen überdeutlich, in welche Richtung die Reise geht. Dieser Prozeß
(in Ungarn und China weit fortgeschrittener als in der Sowjetunion selbst) ist
unaufhaltsam, weil von der Logik des Werts und seinem Dasein als Weltverhältnis
erzwungen; die Eigendynamik partikularer Interessen des bürokratischen
Apparats kann ihn bestenfalls bremsen, vielleicht (etwa durch einen Sturz Gorbatschows)
zeitweise rückläufig machen, aber zu einem immer höheren Preis
bis hin zu schweren inneren Erschütterungen. Die warenförmige Planwirtschaft
ist historisch am Ende, und nicht im Traum denkt irgendeines dieser "sozialistischen"
Länder daran, auch nur einen Millimeter in eine Richtung zu gehen, deren
Ziel etwa MEHR Planung wäre (auch ein unsinniger Komparativ, der auf die
wertförmige Grundlage hinweist).
Nur hoffnungslos vertrottelte Altsozialisten bzw. Altkommunisten können
sich über die Natur dieses Prozesses etwas vormachen, etwa durch Beschönigung
und "Umdeutung" oder bewährte "Umbenennung" der harten Tatsachen. Für
den Großteil der gegenwärtigen Linken allerdings ist das mit dem
Wandel der Sowjetunion auftauchende Legitimationsproblem bereits ausgestanden,
weil sie ohnehin mit der "Planwirtschaft" nichts mehr am Hut und sich theoretisch
endgültig dem Politizismus und Soziologismus hingegeben hat, wie sie praktisch
Robert Kurz. Manifest,
April/November 1988
[Vorbemerkung: Die Seitentrennung bezieht sich auf die Original-Ausgabe]
41
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zum Liebhaber "dieser Republik" geworden ist. Freilich geht der linke Fetischismus
des demokratischen Bewußtseins weit über die offen staatstreu gewordenen
Neo-Reformisten hinaus. Weil die verschiedenen Daseins-FORMEN des Wertverhältnisses:
Warenproduktion, Lohnarbeit, Recht, Staat, Nation und Demokratie nicht als notwendige
Momente ein und desselben Verhältnisses begriffen werden, gibt ihre Existenz
den Anlaß für ebensoviele Mißverständnisse reformerischer
oder scheinradikaler Praxis, die ein Moment des Werts gegen das andere ins Feld
führen, ohne etwas von ihrer gesellschaftlichen Identität zu ahnen.
Schon der Faschismus konnte mit dem begrifflichen Instrumentarium dieses fetischistischen
Marxismus nicht mehr verstanden werden. Die hilflosesten Antifaschisten sind
die warenfetischistisch verblendeten Marxologen vom Schlage eines W.F. Haug
etc. selber. Die demokratische Ideologie der alten wie der neuen Linken kann
niemals zugeben, daß der Faschismus international eine Übergangserscheinung
oder ein Entwicklungsstadium der Demokratie selber war, eine Etappe auf dem
Weg zur modernen funktionalistischen Massendemokratie, wie sie sich erst nach
dem Zweiten Weltkrieg voll herausgebildet hat. Führerkult, populistische
Massenbewegungen mit scheinrevolutionärem Anstrich und irrationale Gewaltausbrüche
sind weltweit trotz unterschiedlichster Ideologeme, sozialer Träger, politischer
Formen usw. überall Erscheinungen des Übergangs zur reinen Demokratie
gewesen oder sind es sogar noch heute (übrigens einschließlich der
"sozialistischen" Länder).
Das Spezifische des deutschen Faschismus, der Holocaust, war vor allem der Gewaltausbruch
des historisch am meisten in Deutschland zusammengeballten bürgerlichen
Irrationalismus, der Nachtseite der Aufklärung selber, d.h. der für
das warenfetischistische Bewußtsein einzig mögliche Weg einer verzerrten
Kritik seiner selbst als VERNICHTUNGSWUNSCH gegen das in den Juden personifizierte
unpersönliche Wertverhältnis. Schon seit dem späteren Mittelalter
drückt der Antisemitismus den begriffslosen Haß gegen die abstrakte
Logik des Geldes aus, ohne doch diese ebenso unpersönliche wie unerbittliche
Macht wirklich aufheben zu können oder auch nur zu wollen. Mit den wenigen
Ansätzen einer solchen Erklärung des Holocaust (M. Postone) konnte
die demokratische Linke nichts anfangen, weil sie selber durch und durch fetischistisch
denkt und eben deshalb auch demokratisch. Der hauptsächlich ökonomistisch
verstandene Kapitalismus wurde als fortwirkende Identität des "dritten
Reiches" und der BRD identifiziert ("Kapitalismus führt zum Faschismus"),
nicht aber die Demokratie selbst, weil "Warenproduktion überhaupt", Demokratie
und Kapital als einander äußerlich gesehen werden statt als Identität.
Die Erkenntnis der Kritischen Theorie, daß die Aufklärung selber
zum Holocaust führt, blieb zugespitztes Paradox ohne Folgen für Theorie
und Praxis der Linken, weil diese Erkenntnis nicht mit der radikalen Kritik
des Werts und damit der Demokratie selber vermittelt war, es sich im Gegenteil
die Väter dieser Theorie als Ehrenbürger im "demokratischen Deutschland"
bequem machten.
Dieselbe Befangenheit im Demokratismus zeigte sich bei den Parteien der 3. Internationale,
als die ursprünglich TAKTISCH gemeinte "antifaschistischdemokratische"
Wende sich unter
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der Hand zur STRATEGIE der unsäglichen "antimonopolistischen Demokratie"
wandelte. Das demokratische Bewußtsein der Linken knallt an das Kapitalverhältnis
wie eine Fliege an eine Glaswand, immer und immer wieder, ohne jemals zu begreifen,
daß eine "antifaschistisch-demokratische" Ideologie genauso ein Widerspruch
in sich ist wie eine "sozialistische Warenproduktion". Wie in der fetischistischen
Ideologie überhaupt werden auch in den Praxis-Begriffen der Linken alle
Bestimmungen verkehrt herum vorgenommen, die Theorie aus dem Programm, das Programm
aus der Strategie und die Strategie aus der Taktik abgeleitet. Natürlich
macht es in taktischer Hinsicht einen Unterschied, ob man mehr oder weniger
unbehelligt demonstrieren kann oder ob ein permanenter Ausnahmezustand herrscht,
ob linke Organisationen legal oder illegal arbeiten müssen usw. Diese Fragen
sind jedoch einzig und allein auf der taktischen Ebene angesiedelt. Im praktischen
Tageskampf kann auch eine ihrer Zielsetzung nach gegen das Wertverhältnis
selbst gerichtete revolutionäre Bewegung die Forderung erheben, daß
dieses Gesetz abgeschafft oder jenes erlassen wird, genausogut wie sie eine
Lohnforderung usw. erheben kann. Aber sie bräuchte dazu keinerlei DEMOKRATISCHE
IDEOLOGIE, nachdem sie einmal die Demokratie als Erscheinungsform des Werts
selber durchschaut hat.
Der linke Demokratismus verweist sich mit öder Regelmäßigkeit
selber immer wieder zurück an die Logik des Werts, der er nicht entfliehen
kann. Stupide werden "Rechte" eingeklagt, ohne daß die Rechtsform selber
jemals in Frage gestellt würde, und der Kampf so immer nur um graduelle
Unterschiede im Gehäuse von Wertform, Rechtsform und Demokratie geführt.
Wie die Linke niemals kapiert, daß der Appell an die "unmittelbaren Interessen"
immer nur GELD-Interessen und also KAPITALISTISCH KONSTITUIERTE Interessen meinen
kann, genau wie der idiotische "Betroffenheits"-Fetischismus, ebensowenig ist
ihr klar, daß die ewige "Demokratisierungs"-Gebetsmühle schon längst
ein einziger sinnloser Leerlauf geworden ist. Die vermeintliche Identität
von ("wahrem") Sozialismus und Demokratie ist ein Irrtum, den man Rosa Luxemburg
zu ihrer Zeit natürlich verzeihen muß, der aber heute unverzeihlich
wird. An dieser Losung ist heute nichts Revolutionäres, Vorwärtstreibendes
mehr. Die Kritik des Sowjetmarxismus als Legitimationsideologie, da nicht vermittelt
mit einer Kritik von Wertform und Demokratie, hat sich so heute selber zur Legitimationsideologie
"westlicher Freiheit" gemausert, sodaß ihr nichts Dümmeres mehr einfällt,
als dem "Realsozialismus" gegenüber zusammen mit dem Papst und dem US-Präsidenten
die "Menschenrechte" einzuklagen (O. Negt u.Co.). Weil die Wertform als abzuschaffende
historisch beschränkte Qualität nicht einmal mehr bewußt wahrgenommen
wird, erscheinen alle gesellschaftlichen Probleme und Krisenphänomene in
West und Ost durch die soziologistisch-politizistische Brille auch des "marxistischen"
Fetischismus als einer Lösung durch den FORMALEN VOLKSWILLEN zugänglich,
wobei höchstens noch um die Chancen und Gefahren plebiszitärer oder
parlamentarischer Formen gestritten wird.
Die bloß äußere Form von Abstimmungen, Minderheiten und Mehrheiten
etc. ist jedoch
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für das Demokratieproblem völlig unerheblich. Ein solch äußerlicher
Formalismus verkennt das Wesen der Demokratie vollständig. Natürlich
würde auch in einem Sozialismus, der die Wertform wirklich überwunden
hat, über dies oder jenes abgestimmt, es würde in vieler Hinsicht
Mehrheiten und Minderheiten, einen Streit um gesellschaftliche Fragen etc. geben.
Die Frage ist jedoch, WER eigentlich WORÜBER Mehrheitsentscheidungen in
"freier" Willensbildung trifft. In der Demokratie stimmen NIEMALS die Menschen
als unmittelbar gesellschaftliche Subjekte ab, sondern immer als abstrakte,
formale Rechts-Subjekte. Demzufolge wird auch NIEMALS über die wirkliche
gesellschaftliche Reproduktion entschieden. Es gibt KEINERLEI freien und offenen
Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß darüber, WAS eigentlich
produziert wird und ob dies nützlich ist oder nicht, ob und welche Maßnahmen
von vornherein hinsichtlich der natürlichen und gesellschaftlichen Folgen
dieser Produktion zu treffen sind, wieviel der zur Verfügung stehenden
Arbeitskraft die Gesellschaft überhaupt und wofür verwenden soll usw.
Alle diese Fragen der wirklichen, sinnlichen, stofflichen Reproduktion bleiben
völlig außerhalb des Zugriffs einer demokratischen Prozedur, weil
diese von vornherein der blinden Eigengesetzlichkeit des Wertverhältnisses
als "Sachzwang" folgt und dies für "natürlich" gehalten wird. Willensbildungs-
und Entscheidungsprozesse finden als demokratische immer nur statt darüber,
in welcher Verlaufsform diesen Sachzwängen jeweils Rechnung zu tragen ist,
wobei bereits alle "Sachfragen" sich in VERWANDELTER FORM darstellen, nämlich
nicht mehr unmittelbar als sie selber, sondern in den Formen des RECHTS und
der POLITIK auf der Basis von blind vorausgesetzten, durch das Wertverhältnis
konstituierten (und insofern eben niemals "unmittelbaren") GELDINTERESSEN. Diese
(notwendig gegensätzlich werdenden) Interessen am abstrakten, seines wirklichen
sinnlichen Inhalts entleerten Reichtum sind keine an sich menschlich-gesellschaftlichen
BEDÜRFNISINTERESSEN aus sich heraus, sondern werden von der blinden Logik
des Wertverhältnisses diktiert. Diese in die Rechtsform gekleideten Geldinteressen,
deren allgemeinste Verlaufsform die "Politik" ist, kleiden sich auf dieser Ebene
in historisch weiterwuchernde IDEOLOGIEN ein, in denen sich die abstrakte, indirekte
Gesellschaftlichkeit ein IRRATIONALES BEZUGSSYSTEM auf die sachlichen Inhalte
der gesellschaftlichen Reproduktion schafft und die abstrakten, partikularen
Geldinteressen sich um einen falschen Verallgemeinerungs-Anspruch auf dem Boden
der Demokratie bemühen; Ausdruck dieser historisch herausgebildeten vermittelten
Formen des Wertverhältnisses sind die PARTEIEN: Sozial-Demokraten, National-Demokraten,
Liberal-Demokraten, Christ-Demokraten usw., die allesamt ein und derselben qualitativen
Denkform angehören und in dieser ihre "relativen" Gegensätze äußern.
Es wird so erst begreifbar, wie der historische Marxismus zu einem integralen
Bestandteil des BÜRGERLICHEN Denkens wurde.
Wenn die Linke von "Demokratie und Sozialismus" faselt, dann hat sie also nicht
bloß einen falschen Namen, sie meint auch die falsche Sache; sie meint
immer eine wertförmige gesellschaftliche Reproduktion und deren Modalitäten,
weil ihr fetischistisches Bewußtsein
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darüber nicht hinauskommt. Solange der Wert seinen historischen Spielraum
noch nicht ausgeschöpft hatte, besaßen die ideologischen, politischen
und fraktionellen Kämpfe der verschiedenen historisch bekannten Strömungen
der Linken auf diesem Boden noch ihren Sinn. Nachdem dieser Sinn heute aber
verlorengeht oder schon verschwunden ist, werden diese alten Gegensätze
weitgehend gegenstandslos und die Gesamtlinke entpuppt sich als im Kern sozial-demokratisch,
blind auf die Wert- und Rechtsform bezogen, auch wenn sie sich "Kommunistischer
Bund" (KB) oder DKP oder "Anarchistische Föderation" usw. nennt. Die linken
Fetischisten wetteifern mit den bürgerlichen um die Palme im edlen Wettstreit,
wer am "demokratischsten" ist. Indem so die Linke letztlich in denselben bürgerlichen
Denk- und Bewußtseinsformen befangen ist wie ihr äußerlicher
Gegner, bleibt sie diesem gegenüber hilflos und scheint sich bloß
moralisch-willensillusionär gegen die "Sachzwänge" zu stemmen, über
die sie doch selber nicht hinausdenken kann.
Die mörderische Begriffslosigkeit der heutigen RAF, die logisch konsequent
bei der Genickschußpolitik gelandet ist und dem völlig unverstandenen
gesellschaftlichunpersönlichen Wertverhältnis durch die "Hinrichtung"
einzelner Personen zuleibe rücken will, stellt so gesehen nur den Amoklauf
des durchgeknallten Sozialdemokratismus dar; nicht nur und nicht so sehr von
der dennoch aufschlußreichen politischen Sozialisation ihrer Protagonisten
her, als vielmehr von der Logik ihrer Ideologie her. Die Terroristen sind allesamt
nichts als enttäuschte, verbitterte, moralisch durchgedrehte Sozial- und
Radikaldemokraten, die ihre Hilflosigkeit den Verhältnissen gegenüber
wenigstens in blinden Haß transformiert haben statt in milde säuselnde
Staatsbürgerei wie die Ex-Kollegen im Geiste. Der gleichzeitig selbstmörderische
Existentialismus der Terroristen, ihr zuerst heroisches, dann bloß noch
mörderisches Aufbäumen, wäre dann nicht umsonst gewesen, wenn
dieser Sachverhalt offengelegt würde. Aber das heuchlerische und denunziatorische
Unverständnis des übrigen gesamtlinken Sozialdemokratismus läßt
den Blick in diesen Spiegel bei Strafe der Selbsterkenntnis nicht zu; so muß
den Terroristen noch die letzte Selbstachtung geraubt und ihr Tun als bloß
"sinnlos" und "schädlich" hingestellt werden, damit die rückgratlosen
und begriffs-pazifistischen Neo-Reformisten aus dieser Hundsgemeinheit ihre
eigene Selbstachtung saugen und ihre herablassende Ent-Legitimisierung des politischen
Bewußtseins der Gefangenen auch noch als humanistische Wohltätigkeit
verkaufen können.
Wie schon die alten Sozialdemokraten und ihre feindlichen Brüder, die Komintern-Parteien,
gleichzeitig in verschiedenen historischen Zusammenhängen auch national-demokratisch
waren und die "Nation" für sich zu reklamieren suchten, so sind auch heute
wieder einige (Ex-)Linke verwirrt genug, aus der "Krise des Marxismus" ausgerechnet
in "nationale Identität" abzustürzen. Der vermeintliche Bruch mit
einem linken Tabu klammert sich aber nur an eine besonders obsolet gewordene
Form der vom Wertverhältnis historisch herausgebildeten Fetischgestalten
und führt seine Protagonisten unvermeidlich in die Nähe biologistischer
Umdeutungen der kapitalistischen Interessenskategorien, wie sie schon Bestandteil
der Nazi-
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Ideologie und des Denkens einer "konservativen Revolution" (Jünger, Mohler)
gewesen waren. Andererseits bleibt der dagegen geltend gemachte linke Internationalismus
ein hilfloser, solange er im "antifaschistisch-demokratischen" Gewande bloß
eine Gestalt in der Stufenfolge des Warenfetischs gegen die andere ausspielt.
Aber auch eine Kritik der Demokratie, wie sie etwa von der "Marxistischen Gruppe"
(MG) als Kritik an den "Kosten der Freiheit" betrieben wird, bleibt unvermittelt
und oberflächlich dem Wertverhältnis gegenüber, also letztlich
selber auf dem Boden der kapitalistisch gesetzten Interessenskategorien und
damit innerhalb des Begriffshorizonts der Lohnarbeit. Weil der Wert in typischer
"Schulungs"-Manier bloß unhistorisch-definitorisch abgehandelter Vorspann
bleibt, spielt sich der Hauptfilm der MG-Argumentation selber in warenfetischistischen
Formen ab. Die Demokratie, statt als objektive Realkategorie in der historischen
Stufenfolge der vom Wertverhältnis herausgesetzten gesellschaftlichen Fetisch-Gestalten
begriffen zu werden, erscheint als bloße ideologische Verkleidung und
Verschleierung von Profit- und Macht-Interessen der "Kapitalisten" bzw. des
kapitalistischen Staates (dem ebenso wie bei der übrigen Linken und vielleicht
noch mehr eine souveräne Handlungskompetenz der objektiven Eigenlogik und
Eigendynamik des Werts gegenüber untergeschoben und angedichtet wird),
gegen die von der Lohnarbeiterklasse die eigenen Geldinteressen erhoben werden
sollen in möglichst kompromißloser Form. In quasi syndikalistischer
Manier soll die bloß äußerliche "Radikalität" und Militanz
des eigenen Lebensinteresses in der FORM des Lohn- und Geldinteresses als der
vorausgesetzten und einzig denkbaren sich äußern, wobei Rechtsformen
und Ideologie, Politik usw. bloß als überflüssiger Ballast oder
als bloße Verschleierung erscheinen. Weil die MG keine konkrete Kritik
und demzufolge kein Programm für die Aufhebung des Wertverhältnisses
ausarbeiten kann (dazu fehlen ihr die theoretischen Voraussetzungen), kann sie
auch nicht erklären, daß und warum die wirklichen Lebensinteressen
im GEGENSATZ ZUR GELDFORM ÜBERHAUPT stehen, insofern diese nur Ausdruck
der Wertform ist. Voraussetzung wie Folge des falschen theoretischen Bewußtseins
und Konstrukts der MG-Ideologie ist das bewußtlos aus der 68-er Bewegung
ererbte positivistisch-instrumentalistische Theorieverständnis, das dem
theoretischen Kampf keinen eigenen Stellenwert zugestehen kann; immer an der
Stelle, an der die eigentliche theoretische Aufgabenstellung erst herausgearbeitet
werden müßte, stürzt so die Theorie unvermittelt in seichte
AGITATION ab und "macht sich ein Problem", nämlich das ewig störrische
Alltagsbewußtsein des abstrakten Geldmenschen mit der Forderung nach einem
"konsequenten Interessensstandpunkt" zu traktieren, die sich doch immer an der
objektiven Logik der Form selber brechen muß, in der sie erhoben wird.
Wie das Wertverhältnis so nicht als historischer Entwicklungsprozeß
mit einer objektiven, absoluten Schranke begriffen werden kann, sondern bloß
als "Wiederkehr des Gleichen" in wechselnden Verkleidungen, so auch nicht die
Vermitteltheit des abstrakt freien Willens, an den die MG mit der Ausdauer eines
Sisyphos appelliert, ohne ihm doch je den transzendentalen Willen zur Aufhebung
des Verhältnisses selbst begreiflich machen zu
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können, das die Form seines Interesses erst konstituiert. Gut bürgerlich
löst sich die Logik des "automatischen Subjekts" auf in ein bloßes
Kräfteparallelogramm der individuellen und sozialen Willenshandlungen;
wenn irgendjemand die positivistische Willensillusion des abstrakten bürgerlichen
Subjekts perfekt auf scheinorthodox-marxistisch nachäfft, dann ist es die
MG.
Die bodenlose Geschäftigkeit der gesamtlinken Willensillusionisten, die
ein der Wertform äußerliches Subjekt zusammenbasteln wollen, ohne
doch diese Wertform selber direkt anzugreifen und also den Pelz immer waschen
wollen, ohne ihn naß zu machen, bricht sich aber an der heute sichtbar
werdenden objektiven, absoluten Schranke dieses Wertverhältnisses selber.
Indem der Wert sein historisches Potential ausgeschöpft hat, beginnt er
selber krisenhaft obsolet zu werden bis hin zum totalen Zusammenbruch der gesellschaftlichen
Reproduktion. Diese Einsicht darf nicht verwechselt werden mit einer kruden
Zusammenbruchstheorie in der Art, daß ein simpler Automatismus des gesellschaftlichen
Übergangs zum Sozialismus darin eingeschlossen wäre; ein Vorwurf,
der allerdings schon die (notwendig verkürzten) historischen Zusammenbruchstheorien
(Luxemburg, Grossmann) nicht treffen kann, sondern als Popanz ihrer bürgerlich-subjektivistischen
"marxistischen" Gegner identifiziert werden muß. Was zusammenbricht, und
zwar in der Tat als immanente Determiniertheit, ist die weitere stofflich-sinnliche
gesellschaftliche Reproduktion in der Wertform. Was aber NICHT zusammenbricht
und auch niemals "automatisch" zusammenbrechen kann, ist die allgemeine menschliche
VERKEHRSFORM, wie sie vom Wertverhältnis historisch herausgesetzt wurde;
diese Verkehrsform konstituiert sich tagtäglich durch die praktischen Handlungen
und das diese anleitende gesellschaftlich vermittelte Denken (inclusive den
Willen) der Individuen hindurch. Wenn der Zusammenbruch der Reproduktion des
Lebens aller menschlichen Gesellschaft nicht zur bewußten (und also natürlich
auch von einem gesellschaftlichen Willen getragenen) Aufhebung der wertförmigen
Verkehrsformen (Geld, Recht, Staat etc.) führt, dann kann das Resultat
nur Selbstvernichtung der Menschheit oder eine Barbarei sein, deren Elemente
sich schon heute unter unseren Augen herausbilden. Kritik der Willensillusion
heißt ja nicht etwa Negation des Willens oder der Subjektivität überhaupt,
sondern Einsicht in die Determiniertheit alles bloß empirisch vorgefundenen
Willens durch die untergehende Wertform, die gesprengt werden muß, und
Kritik eines Bewußtseins, das von Subjektivität faselt, ohne diesen
Stier bei den Hörnern zu packen. Wenn die Menschen die Krise des Werts
mit den Mitteln des Werts, die Krise des Geldes mit den Mitteln des Geldes und
die Krise der Demokratie mit den Mitteln der Demokratie beheben wollen, wenn
sie wie Lemminge in der Verkehrsform sich gewaltsam festhalten wollen, deren
objektive Grundlage doch unaufhaltsam zerbricht, werden sie nur im totalen Krieg
aller gegen alle enden und in einem keineswegs atomaren, sondern innergesellschaftlichen
irrationalen Holocaust, der den des Faschismus noch übergipfeln muß.
Das Obsoletwerden des Werts als Zusammenbruch der gesellschaftlichen Reproduktion
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des menschlichen Lebens ist bereits jetzt in mehrfacher Hinsicht mit Händen
zu greifen. Die betriebswirtschaftliche Entwicklungslogik des Wertverhältnisses
zerstört ihre eigene Grundlage, die Naturgrundlage überhaupt wie auch
die ökonomische Reproduktion der Lohnarbeit. Ökologische und ökonomische
Krise, von der gesamt-sozialdemokratischen Linken nur durch die Brille der Vergangenheit
wahrgenommen, markieren in Wirklichkeit eine bisher nicht erreichte WeltkrisenQualität,
deren zerstörerische Wucht aus eben jener Dynamik kapitalistischer Welt-Vergesellschaftung
herrührt, deren vermeintlich goldenes Zeitalter für einen bloßen
historischen Augenblick in Gestalt des Nachkriegsbooms fordistischer Akkumulation
existierte.
Der herzige Einfall, daß einmal saubere Atemluft in Dosen verkauft werden
könnte, von den unsäglichen "Markt-Ökologen" womöglich begrüßt
als Herstellung eines "sparsamen Umgangs" mit der "knappen Ressource" Atemluft,
von der MG vielleicht als Beispiel einer unbegrenzten Reproduktionsfähigkeit
des Kapitals aus sich heraus genommen, ist in Wahrheit schon ein Indiz für
den Zusammenbruch selber. Wo das unmittelbare Verrecken durch Luft und Wasser
angesagt ist, kann letztlich keine Produktion mehr vollzogen werden, weder eine
kapitalistische noch eine andere.
Gleichzeitig werden ökonomisch die Konturen der zweiten Weltwirtschaftskrise
sichtbar, die durch den gigantischen defizitären Sog der "Reaganomics"
und deren Rüstungsboom um einige Jahre verzögert, gerade dadurch aber
explosiv kumuliert wurde. Daß die fordistische Überakkumulationskrise
in das imaginäre "Akkumulationsmodell" einer neuen langen Welle münden
werde, ist nichts als der allzu fromme Wunsch einiger gesettleter akademischer
Linkssozialisten und anderer notorischer Reformschwätzer, die sich politisch
wie die Gewerkschaftsbonzen schon gut altreformistisch in die Hosen scheißen,
bevor ihnen noch die brutale Reaktion der Krise selbst wirklich das Genick gebrochen
hat. Die neue Stufe der Verwissenschaftlichung und Technologie in Gestalt vor
allem der Mikroelektronik ist weit davon entfernt, eine neue stoffliche Basis
für die massenhafte Reproduktion der Lohnsklaverei zu liefern, deren qualitative
Weiterexistenz den Hirsch, Altvater u. Co. so am Herzen zu liegen scheint, sondern
zerstört vielmehr über die Konkurrenzvermittlung flächendeckend
quer durch alle Reproduktionszweige hindurch jede weitere langfristige Existenzmöglichkeit
des Wertverhältnisses.
Wie diese Tendenzen schon überhaupt seit Jahren ihren Schatten vorauswerfen,
so kann auch die geheiligte Demokratie davon nicht unberührt bleiben. Die
mafiose Seifenoper mediokrer und karrieristischer Figuren minderer Intelligenz,
als die sich Demokratie heute weltweit darstellt (wiederum den "Realsozialismus"
eingeschlossen), ist kein Fehler und keine Abweichung von ihrem vermeintlichen
"wahren Wesen", sondern vielmehr eben dessen notwendige Entpuppung, das logische
Endstadium der Demokratie an ihr selbst. Das Gegenteil von Demokratie, die historische
Alternative, wäre nicht irgendeine Form von Diktatur, die vielmehr in ihrer
modernen Gestalt im Begriff der Demokratie selbst eingeschlossen ist, son-
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dern die Aufhebung des bloß abstrakt gesellschaftlichen Menschen überhaupt,
die Konstituierung des unmittelbar gesellschaftlichen Individuums.
Wir müssen der gesamten Linken vorwerfen, daß sie in soziologistischen
und politischen Kategorien der Vergangenheit denkt, die einmal ihre relative
Berechtigung hatten, heute aber vollkommen erschöpft sind. Die alte Arbeiterbewegung
in ALLEN ihren Erscheinungsformen hatte ihren Kulminationspunkt bereits am Ende
des Ersten Weltkriegs; heute haben wir es nur noch mit ihren schwächlichen
Nachwehen zu tun, die den Bannkreis des Fetischismus erst recht nicht von sich
aus durchbrechen können. Ein Herumirren auf diesem bröckelnden ideologischen
Boden muß die Linke ganz zugrunderichten, soweit dies nicht ohnehin schon
geschehen ist. Wir betrachten dagegen die alte Arbeiterbewegung im wesentlichen
als Geschichte; gerade deshalb sehen wir einen neuen Zugang zum verschütteten
Kern der Marxschen Theorie: der fundamentalen Kritik des Wertverhältnisses
selber, weil diese Kritik erst heute mit der realen gesellschaftlichen Entwicklung
und der Entfesselung der Krisenpotenz des Werts im Einklang steht. Ohne wenn
und aber: Zusammen mit dem Basis-Fetisch des Werts selber müssen alle Fetisch-Gestalten
wertförmiger, kapitalistischer Vergesellschaftung überhaupt aufgehoben
werden, und zwar als historisch aktuelle, nicht mehr zu umgehende und zu verschiebende
Forderung; das Geld ebenso wie das Recht, der Staat, die "Nation" und die Demokratie.
Diese Aufgabe müssen wir zur aktuellen erklären, wenn die Menschheit
überleben und die blinden Mächte ihrer eigenen Gesellschaftlichkeit
unter Kontrolle bekommen soll. Alle Konzepte unterhalb dieses Anspruchs sind
nur noch ideologischer Abfall einer nie wiederkehrenden Vergangenheit.
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5. Die wahren Totengräber des Kapitalismus werden erst
heute geboren
In der soziologistischen
Lesart des traditionellen Marxismus stellt sich die "Klassenfrage" derart krud
dar, daß sie als dem Wertverhältnis gegenüber unabhängig
und voraussetzungslos als der "letzte Grund" gesellschaftlicher Verhältnisse
wie als direkter Ausgangspunkt aller Theorie erscheint. Die Marxsche Theorie
ist daher großen Teilen der Linken vor allem deshalb obsolet geworden,
weil sie empirisch an ihrem eigenen Mythos der "Arbeiterklasse" irre geworden
ist. "Die Arbeiterklasse", jenes unbekannte Wesen, bewegt sich nicht oder jedenfalls
nicht in die erwünschte oder erwartete Richtung; "also" wird das gleichermaßen
subjekttheoretisch und positivistisch verkürzte Bewußtsein unsicher
und beginnt, sich nach anderen empirischen Subjekten sozialer Emanzipation umzuschauen,
als könne man sich solche "sozialen Träger" aussuchen und billig erstehen
wie beim Winterschlußverkauf. Bei ihrem hastigen Wühlen auf den Ramschtischen
der Bewegungs- und Ideen-Konjunkturen ist die Linke dann auch fündig geworden;
"neue soziale Bewegungen" heißt der neue Mythos und das neue unbekannte
Wesen, denn was die eilfertige Begriffsbildung eigentlich bedeuten soll, bleibt
reichlich im Dunkeln. Hauptsache, das Hinterteil, das man anbetet, bewegt sich.
So hat die Linke außer einem hilflosen Gestammel oder sogar halbseidener
Übereinstimmung nicht mehr viel zu sagen, wenn bürgerliche Theoretiker
die törichte Frage stellen, "ob es noch ein Proletariat gibt". Die Fragestellung
allein ist eine logische Kuriosität, wie sie typisch ist für den Soziologismus,
weil in Wirklichkeit die Arbeiterklasse selber das Kapital IST, nämlich
sein lebendiges reproduktives Dasein, die Arbeiterklasse also nicht ohne das
Kapital selber "verschwinden" könnte. In solch absurden Fragestellungen,
die modifiziert auch bei der Linken herumspuken, zeigt sich mit aller Deutlichkeit
die soziologistische Verplattung, die Kapital und Arbeiterklasse nicht als vermittelte
Identität, als soziales Dasein eines gesamtgesellschaftlichen Verhältnisses
begreift, sondern als das einander äußerliche Dasein zweier sozialer
Subjekte und Kategorien, die durchaus auch jeweils für sich existieren
könnten.
Dieselbe Begriffslosigkeit wie in dem Gerede vom "Verschwinden" der Arbeiterklasse
finden wir umgekehrt im Selbstverständnis des "Realsozialismus", wo nach
der "Enteignung" und dem vermeintlichen "Absterben" der Bourgeoisie dieselbe
famose Arbeiterklasse allein übriggeblieben sein soll, garniert höchstens
noch durch ebenso famose "Bündnispartner" wie "Bauern" und "Intelligenz".
Dieser unglaublich plumpe Soziologismus hat mit der Marxschen Theorie ungefähr
soviel zu tun wie das "Kapital" mit "Winnetou I". Beiderseits schreit die Aufblähung
eines partikularen gesellschaftlichen Moments zur falschen Totalität geradezu
zum Himmel. Wie bei einem "Verschwinden" der Arbeiterklasse sich im selben Maße
"das Kapital" verdünnisieren müßte, so hätte selbstverständlich
bei einem "Verschwinden" der Bourgeoisie auch das Proletariat Anstalten zu treffen,
als solches von der sozialen Bühne abzutreten.
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Freilich ist auf dieser Ebene des Begriffs das Proletariat zunächst nichts
als eine logische Kategorie, die jedoch eine Realkategorie kapitalistischer
Vergesellschaftung darstellt und ohne die überhaupt nichts begriffen werden
kann. Diese logische Kategorie muß indes näher bestimmt werden, durchaus
auch empirisch. Diese Forderung führt sofort zu einem anderen geläufigen
Kurzschluß des linken theoretischen Denkens. Wenn die Arbeiterklasse das
lebendige Dasein des Kapitals selber ist, dann kann sie auch keine feststehende,
ein für allemal definierbare Größe sein, sondern muß sich
mit dem historischen Totalisierungsprozeß des Wertverhältnisses selber
verwandeln und mit ihrem eigenen empirischen Dasein aus einer vergehenden Epoche
dieses Prozesses in Widerspruch geraten, wie schon die empirische Bourgeoisie
des alten, unentwickelten Kapitalismus mit der höheren Stufe kapitalistischer
Vergesellschaftung in Widerspruch geraten war. Der linke Mythos der Arbeiterklasse
ist, da nicht von ihrem logischen Begriff her bestimmt und daher auch nicht
offen der Empirie gegenüber, an eine bestimmte historische Erscheinungsform
der sozialen Empirie des variablen Kapitals gebunden; nicht zufällig ist
es die bloß historische Erscheinungsform, die gleichzeitig Träger
jener alten Arbeiterbewegung mit noch notwendig kapitalimmanenten demokratischen
Zielen war, die für eine selber aus dieser Geschichte heraus demokratistisch
beschränkte Linke mit dem Begriff der Arbeiterklasse überhaupt unmittelbar
zusammenfällt. Der ererbte Sozial-Demokratismus der Gesamtlinken krallt
sich entweder an der vergehenden historischen Erscheinungsform fest, in der
er den adäquaten sozialen Träger seiner fetischistischen Ideologie
fühlt, oder er sucht diesen Träger irgendwie zu substituieren, um
bei seinen demokratischen Leisten bleiben zu können.
Es wäre also, um zu den Voraussetzungen einer empirischen Neubestimmung
der Arbeiterklasse zu gelangen, nach den realen Erscheinungen des sozialen Umwälzungsprozesses
zu fragen, die den soziologistischen Wahrnehmungsapparat derart in Verwirrung
gestürzt haben. Die traditionelle Arbeiterklasse im Sinne des bisherigen
Marxismus und seines sozialen Bezugssystems hat tatsächlich zu "verschwinden"
begonnen, und zwar in mehrfacher, widersprüchlicher Hinsicht.
Erstens "verschwindet" die Arbeiterklasse paradoxerweise gerade dadurch, daß
sie sich VERALLGEMEINERT im Sinne einer Totalisierung der Lohnarbeit, die einhergeht
mit der gesellschaftlichen Totalisierung des Wertverhältnisses. Die alte
Arbeiterklasse bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war leicht auszumachen und
abzugrenzen, da sie sich von den sozialen Kategorien der Nicht-Lohnarbeit augenfällig
abhob. Insofern neben dem Kapitalverhältnis zahlreiche Schattierungen vorkapitalistischer
Produktionsverhältnisse weiterexistierten und das Kapital selber eben deswegen
noch nicht zu seiner vollen Identität herangereift war, ergaben sich scheinbar
fixe und klare "Klassenverhältnisse", die doch nur Ausdruck einer bestimmten
Entwicklungsstufe des Wertverhältnisses waren. Der Lohnarbeiter war größtenteils
identisch mit dem Fabrik-Handarbeiter; der Kapitalist stand ihm gegenüber
als der persönliche Eigentümer und Aneigner. Gleichzeitig existierte
außerhalb dieses Verhältnisses
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das grundbesitzende Junkertum als Rest der feudalen Klassen weiter; ebenso hatte
sich das Kleinbürgertum einer vorkapitalistischen Stufe des Wertverhältnisses
in zahlreichen Sektoren erhalten, so die Bauern (noch bis ins 20. Jahrhundert
hinein in vielen kapitalistischen Ländern die MEHRHEIT der Bevölkerung!),
Handwerker und Kleinhändler etc. Auch die Staatsbeamten des ebenfalls noch
in vieler Hinsicht feudal gefärbten Staatsapparats konnten als eigene Klasse
gerechnet werden.
In diesem Klassengefüge mußte sich notwendig eine bestimmte latente
politische Konstellation herausbilden: der noch äußerlich zu verstehende
soziale Gegensatz von Arbeitern und Kapitalisten war schon zum gesellschaftlichen
Hauptkonflikt avanciert, aber beiderseits mit Selbsttäuschungen über
den historischen Inhalt dieses Konflikts. Die Bourgeoisie neigte dazu, "die
Demokratie zu verraten" und zu "Bündnissen" mit dem Junkertum und den feudalen
Komponenten im Staatsapparat, am deutlichsten zu beobachten natürlich in
Deutschland, dem kapitalistischen Nachzügler des 19. Jahrhunderts. Auf
der anderen Seite konnte sich die Arbeiterklasse, indem sie das von der Bourgeoisie
fallengelassene Banner der "vollen Demokratie", "Demokratisierung" etc. aufnahm,
mit den kleinbürgerlichen Klassen zu "verbünden" suchen im Sinne der
Erfüllung eben dieser demokratischen Aufgaben, während diesem Bündnis
gleichzeitig die aus seinen vorkapitalistischen Reproduktionsformen aufsteigende
reaktionäre Ideologie des Kleinbürgertums entgegenstand. Dieses "schwankte"
also zwischen den demokratischen Interessen, die sich in einzelnen Fragen aus
seinem eigenen Gegensatz zum Kapital ableiten ließen, und andererseits
der Furcht vor dem Ganzen der "vollen Demokratie", hinter der es nicht zu Unrecht
gleichzeitig auch seinen eigenen Untergang witterte.
In diesem politischen Kraftfeld bewegte sich das Denken des traditionellen Marxismus.
Der interne fraktionelle Streit ging nur darum, mit welchen mehr oder weniger
radikalen MITTELN die "Demokratisierung" erreicht werden sollte und bis zu welchem
Grade man begierig war, diese Radikalität der MITTEL in der Herstellung
voller BÜRGERLICHER Verhältnisse mit "Sozialismus" zu verwechseln.
Je nach Land und Reifegrad des Kapitalverhältnisses wurde diese Frage verschieden
beantwortet; im Sinne der demokratischen Aufgaben war in Rußland der Bolschewismus
"realistischer", im Westen die reformistische Sozialdemokratie. Der historisch
weitgehend identische Charakter des wirklichen INHALTS wurde verdeckt durch
die zu politisch-ideologischen Systemen ausgebauten Gegensätze der politischen
FORM.
In dem Maße aber, wie die Demokratie (in ihrem nicht emphatischen, sondern
logischen Sinne) zusammen mit der Totalisierung des Wertverhältnisses wirklich
durchgesetzt wurde, löste sich notwendig auch die Sozialstruktur des Übergangs
und mit ihr auch das entsprechende politische Kraftfeld und Bezugssystem auf.
Das Junkertum verschwand als soziale Klasse bis auf bizarre Reste bzw. wurde
vom Kapitalverhältnis assimiliert; jedoch auch die Bourgeoisie begann zu
"verschwinden" in ihrem alten Dasein als persönliche Eigentümer und
Aneigner, sie spaltete sich (von Marx bereits begrifflich abgeleitet) real in
eine kleine Kaste von ökonomisch und politisch einflußlosen Rentnern
und in ein weitverzweigtes, der Form nach selber
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"lohnabhängiges" Management. Die Linke hatte den unpersönlichen Charakter
des Wertverhältnisses so wenig begriffen, daß sie teilweise diese
Erscheinungen als ein "Verschwinden des Kapitals" im Sinne einer sozialen Klasse
zu interpretieren genötigt war. Ebenso "verschwand" das alte Kleinbürgertum
sukzessive, d.h. es schrumpfte bis zur Bedeutungslosigkeit: in den voll durchkapitalisierten
Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg liegt der Anteil der Lohnabhängigkeit
annähernd zwischen 70 und 90 Prozent.
Damit aber war auch die exklusive Verbindung von Fabrikproletariat und Lohnabhängigkeit
aufgehoben; der kapitalistische Prozeß der Verwissenschaftlichung gesellschaftlicher
Produktion in der Wertform setzte auf immer höherer Stufenleiter immer
neue Kategorien von Lohnarbeit aus sich heraus. Die alte Arbeiterklasse "verschwand"
also in demselben Sinne, wie der als abgegrenztes Gebiet bestimmte "Wald" verschwindet,
wenn die ganze Welt mit Bäumen bedeckt ist. Wie die Linke aber begriffslos
und konservativ an den alten "demokratischen" Aufgaben festhält und insofern
reaktionär einer bereits vergangenen historischen Konstellation hinterherdenkt,
so hält sie auch an der alten empirischen Form des proletarischen Klassenbegriffs
fest, entweder positiv als dogmatische Verbiestertheit oder negativ als bürgerliche
Negation der Arbeiterklasse überhaupt.
Zweitens aber "verschwindet" die Arbeiterklasse in dem Sinne, daß innerhalb
der totalisierten Lohnarbeit der "produktive Arbeiter", d.h. der kapitalproduktive
unmittelbare Produzent, der unmittelbar das Kapital selber und also den Mehrwert
produziert, im Verhältnis zur Masse der verschiedenen Kategorien von Lohnarbeitern
relativ abnimmt und schließlich ABSOLUT zu schrumpfen beginnt. Bis in
den fordistischen Nachkriegsboom hinein wuchs die kapitalproduktive Arbeiterklasse
noch absolut an, während ihr Anteil schon relativ zurückging; der
Kulminationspunkt dieses Anwachsens ist aber inzwischen schon überschritten
und der auch absolute Schrumpfungsprozeß hat eingesetzt, der sich mit
der Computerisierung und Automatisierung der Produktion noch verstärken
wird.
Die das Wertverhältnis blind voraussetzende Linke starrte in ihrer Untersuchung
der sozialen Kategorien der Lohnarbeit immer nur soziologistisch auf das mögliche
oder vermeintliche soziale Subjekt, das es politisch wachzuküssen gelte;
der Streit um "produktive und unproduktive Arbeit" ging hauptsächlich darum,
wo denn nun genau der "wahre" soziale Träger gesellschaftlicher Veränderung
und Umwälzung zu suchen sei. Soweit er streng an der "produktiven Arbeit"
im Sinne der gesellschaftlichen Mehrwertproduktion festgemacht worden war, schienen
mit seiner relativen und schließlich absoluten Abnahme auch die revolutionären
Felle davonzuschwimmen. Die verschiedenen daraus gezogenen Schlußfolgerungen
blieben allesamt innerhalb des soziologistisch beschränkten Horizonts.
Bürgerliche und reformistische Theoretiker sahen mit dem "Verschwinden"
der "eigentlichen" Arbeiterklasse auch jede revolutionäre Option dahinsinken;
andererseits wurde die formal revolutionäre Position dadurch schwächlich
verteidigt, daß auch die Masse der nicht-kapitalproduktiven Lohnarbeit
zum "revolutionären Subjekt" im platt soziologistischen Sinne erklärt
wurde.
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Eine konsequente Theorie, die den relativen und absoluten Schrumpfungsprozeß
der kapitalproduktiven Lohnarbeit auf die objektive, hinter dem Rücken
der sozialen Akteure sich vollziehende Reproduktion des Wertverhältnisses
hin untersucht hätte, existierte nicht. Auch der traditionelle und akademische
Marxismus war längst in seiner theoretischen Produktion, hierin dem positivistischen
bürgerlichen Theorieverständnis folgend, in "Ökonomen" und "Soziologen"
auseinandergefallen; eine Aufspaltung, die nichts weiter ausdrückt, als
daß die Totalität des Wertverhältnisses überhaupt nicht
mehr wahrgenommen wird. Während die "Ökonomen" (Altvater ist Professor
FÜR, nicht GEGEN "politische Ökonomie") auf der Basis des Werts überhaupt
als unreflektierter Voraussetzung bestenfalls den Regulationsmechanismus des
Mehrwerts formal untersuchen, ganz genauso wie übrigens die DDR- und Sowjet-Ökonomen
(die ja sowieso nicht über die monströse "sozialistische Warenproduktion"
hinausdenken "dürfen"), befassen sich die "Soziologen" mit den empirischen
Daseinsformen der sozialen Kategorien auf allen Ebenen, ohne daß die "Gesetztheit"
dieser Kategorien durch das Wertverhältnis und dessen objektive Bewegung
überhaupt ins Blickfeld gerät. Diese "Wissenschaft" betrachtet die
Gesellschaft ungefähr so, wie ein Hund den Kauf einer Wurst empirisch wahrnimmt,
ohne daß das Problem der Markthandlung selbst auch nur in einer einzigen
Zelle seines Gehirns aufscheinen würde.
Der einzige Strang theoretischer Diskussion, der wenigstens indirekt auf die
Beziehung von kapitalproduktiver Arbeiterklasse und Wertverhältnis einging,
bezog sich auf die Kategorie des (kapital-) "produktiven Gesamtarbeiters", jedoch
ebenfalls unter soziologistisch verkürztem Blickwinkel. Mit politisch wiederum
entgegengesetzten Schlußfolgerungen (Habermas, Krahl) wurde behauptet,
daß die wissenschaftliche Arbeit und ihre Apparate (einschließlich
der universitären und subuniversitären Ausbildungs-Institutionen)
im Unterschied zu der Situation, wie sie noch Marx vor Augen gehabt habe, heute
direkt in die Mehrwertproduktion einbezogen seien. Diese Argumentation beruht
auf einem Mißverständnis über die Natur des Werts, die als solche
weder von der alten noch von der neuen Linken kritisch diskutiert worden war,
sondern immer bloß vorgeschaltete abstrakte Definition blieb; dieses geringe
Interesse für die begriffliche Durchdringung des Werts selber erklärt
sich aus dem instrumentalistischen Charakter des Theoriebildungsprozesses, der
direkt und unvermittelt auf das Subjekt, den "Überbau" und die politische
Sphäre zielte.
Als "Wert" kann sich jedoch nur diejenige Arbeit "darstellen" in der gesellschaftlichen
Praxis, die auch am Produkt "wiedererscheint". Damit dieses "Wiedererscheinen"
aber wirksam wird, muß sich die entsprechende Arbeit tagtäglich in
der Produktion selber und direkt oder indirekt "am Produkt" reproduzieren. Dies
tut die wissenschaftliche und qualifikatorische (bzw. die infrastrukturelle
Arbeit überhaupt) jedoch nicht, und zwar in zweifacher Hinsicht. Zum einen
ist die allgemein-qualifikatorische und infrastrukturelle ebenso wie ein Großteil
der wissenschaftlichen Arbeit WEDER direkt NOCH indirekt produkt- und also wertspezifisch,
sondern UNMITTELBAR GESAMTGESELLSCHAFTLICH. Sie geht unspezifisch in alle
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Produkte gleichermaßen und daher eben gerade NICHT in die TAUSCHVERHÄLTNISSE
ein; die unmittelbar gesamtgesellschaftliche Arbeit kann sich nicht als "Wert"
eines spezifischen Produkts anderen solchen Produkten gegenüber "darstellen"
und insofern auch nicht als "Tauschwert" erscheinen. Die Ausdehnung der allgemein-qualifikatorischen,
allgemein-wissenschaftlichen und allgemein-infrastrukturellen gesellschaftlichen
Arbeit und ihre zunehmende Bedeutung für die STOFFLICHE PRODUKTIVITÄT
fällt also aus dem Wertverhältnis überhaupt heraus. Zum andern
aber ist auch die direkt oder indirekt produkt-spezifische wissenschaftliche
Arbeit keine, die sich fortpflanzend im Produktionsprozeß weiter re-produziert.
Mit der Entdeckung und Konstruktion eines neuen Verfahrens etc. ERLISCHT diese
Arbeit; ihre Steigerung der jeweils spezifischen stofflichen Produktivität
eines bestimmten Arbeitsprozesses steht in keinem Verhältnis zu ihrem "Wiedererscheinen"
als gesellschaftliche Wert-Abstraktion an den Millionen und Milliarden von Produkten,
das praktisch gleich Null ist.
Der "produktive Gesamtarbeiter" innerhalb der Sphäre der tagtäglich
sich reproduzierenden Arbeit, die sich als Wert und Mehrwert "darstellen" kann,
wäre also zu unterscheiden vom "gesellschaftlichen Gesamtarbeiter" der
hinter und über der eigentlichen Produktion herausgebildeten riesigen Logistik
des Verwissenschaftlichungsprozesses, die als solche nicht kapital-produktiv
ist. Darin allerdings drückt sich der tiefe innere Widerspruch des Wertverhältnisses
und seine eigene historische Schranke aus. Der soziologistisch-politizistischen
Diskussion der Linken über die Frage der "produktiven Arbeit" und das "Verschwinden"
der alten Arbeiterklasse ist nahezu völlig die KRISENTHEORETISCHE Dimension
dieses Problems entgangen. Das Heraussetzen immer neuer Kategorien von nicht-kapitalproduktiver
Lohnarbeit durch den kapitalistischen Verwissenschaftlichungsprozeß selber
heißt nichts anderes, als daß die stofflich-sinnliche Reproduktion
der Gesellschaft über die Grenzen des Wertverhältnisses hinauszuwachsen
beginnt und diese Hülle durchbrechen muß. Die immer fortgetriebene
Verwissenschaftlichung, weit entfernt davon, das Kapitalverhältnis letztlich
zu einem in sich geschlossenen, verewigten Regelkreis zu machen, treibt es vielmehr
mit beschleunigter Dynamik auf seine absolute Schranke zu. In demselben Maße,
wie die kapitalproduktive Arbeiterklasse "verschwindet", d.h. relativ und schließlich
absolut zu schrumpfen beginnt, muß die kapitalistische Produktionsweise
in eine nicht mehr aufhebbare Krise eintreten, in deren Prozeß wir uns
gegenwärtig bereits befinden. Das "Verschwinden" der kapitalproduktiven
Lohnarbeits-Kategorien ist logischerweise identisch mit dem "Verschwinden" der
"WERTSUBSTANZ" und muß eine immer stärkere Spannung zur wertförmigen
gesellschaftlichen Verkehrsform erzeugen, bis hin zur Zerreißprobe. Gerade
WEIL immer weniger (direkte und indirekte) Produktionsarbeit immer größere
Menschenmassen im stofflichen Sinne ernähren und reproduzieren kann, ist
diese Reproduktion nicht mehr als wertförmige möglich. Die Schranke
dieser Form zeigt sich an der Oberfläche auch in der immer höher angehäuften
Staatsschuld, deren Krise die Überakkumulationskrise in bisher nicht bekanntem
Maße verschärfen muß. War die Staatsschuld in der Vergangenheit
auf einen spezifischen Staatskonsum außerhalb der gesell-
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schaftlichen Reproduktion oder über diese hinaus bezogen (absolutistische
Hofhaltung, Kriegführung vor allem), so würde ohne den auf ständig
gesteigerter Schuld beruhenden Staatskonsum heute die gesellschaftliche Reproduktion
selber zusammenbrechen. Keynesianismus und Monetarismus verkennen gleichermaßen
die Natur der nicht mehr zurückführbaren Staatsschuld, die nur monetär
die historische Tauschwert-Dämmerung selber ausdrückt.
Die Krise ist unter diesen Bedingungen keine vorübergehende mehr im Zusammenhang
eines bloß zyklischen Ausdehnungsprozesses des Kapitals, dessen historische
Schranke jetzt erst erreicht wird. Gerade deswegen aber ist die Krise auch kein
bloßer Einschnitt, Einbruch oder relativ kurzzeitiger "Donnerschlag" mehr,
sondern selber historischer Prozeß geworden mit empirisch nicht zu errechnender
Ausdehnung. Der Zyklus besteht weiter, aber jetzt INNERHALB des übergreifenden
Krisen-Prozesses selbst. Im Verlauf dieses Prozesses kehren nicht nur offenkundig
und heute bereits sichtbar Momente der ABSOLUTEN VERELENDUNG in die kapitalistischen
Kernländer selbst zurück; eine Verelendung freilich, die jetzt nicht
mehr in erster Linie dem unmittelbaren Arbeitsprozeß selbst entstammt
wie noch im 19. Jahrhundert, sondern vielmehr Ausdruck der Schranke wertförmiger
Reproduktion als solcher ist.
Die sozialen Kategorien der Lohnarbeit werden gleichzeitig insgesamt völlig
umgewälzt. Die Arbeiterklasse im alten Sinne "verschwindet" noch auf eine
dritte, neuartige Weise. Die Lohnarbeit totalisiert sich nicht nur und sie entwickelt
sich auch nicht nur in Richtung eines Schrumpfungsprozesses ihrer kapitalproduktiven
Sektoren, sie ENTKOPPELT gleichzeitig die SOZIALEN KATEGORIEN der Tendenz nach
von den empirischen INDIVIDUEN. Die erreichte Höhe des kapitalistischen
Vergesellschaftungsprozesses zeigt sich auch darin, daß die bisher scheinbar
fest und organisch mit bestimmten Personengruppen verwachsenen sozialen Kategorien
sich von diesen zu lösen beginnen und sich zunehmend als bloße gesellschaftliche
FUNKTIONS-KATEGORIEN herausstellen, zwischen denen die empirischen Individuen
frei flottieren.
In negativer Form scheint ein Moment des Kommunismus auf, die Aufhebung des
starren Arbeitsteilungs- und Sozialsystems. Die traditionelle Arbeiterklasse
"verschwindet" also auch in dem Sinne, daß eine Person innerhalb des totalisierten
Systems der gesellschaftlichen Lohnarbeit immer weniger lebenslang einer bestimmten,
fixierten Kategorie zuzurechnen ist. Die Kapitalproduktive Lohnarbeit besteht,
wenn auch auf abnehmender Stufenleiter, noch immer weiter, aber es gibt der
TENDENZ nach keine Lohnarbeiter mehr, die als Individuen ausschließlich
und lebenslang in kapitalproduktiven Funktionen tätig sind. Der Wechsel
aus dem "produzierenden Gewerbe" in den "Dienstleistungssektor" und umgekehrt
wird mit der Zunahme erzwungener Mobilität immer häufiger. Dasselbe
gilt für alle anderen Momente des gesellschaftlichen Arbeitsteilungs- und
Sozialsystems. Schon heute kann jemand im Laufe seines Lebens zwischen Sozialkategorien
wie Fabrikarbeiter, Akademiker, Sozialhilfeempfänger, Dienstleistungs-
bzw. Reproduktionsarbeiter, Künstler usw. wechseln oder sogar gleichzeitig
in verschiedenen Kategorien sein empirisches Dasein haben. Studenten und Akademiker
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mit Halb- oder Viertelstellen arbeiten gleichzeitig auf Dauer in Büros
und Fabriken auf unqualifizierter Ebene, umgekehrt durchlaufen immer mehr Büro-
und Fabrikarbeiter sekundäre und unspezifische Qualifikationsprozesse,
die keineswegs einen Wechsel der Sozialkategorie im alten Sinne von "Aufstieg"
etc. garantieren. Der feste "Beruf" wird zum absterbenden Moment. Über
die unmittelbare Reproduktion in der gesellschaftlichen Arbeit greift dieser
Wandel auf alle anderen "Lebensbereiche" über, auf Geschlechtsrollen, Sexualität,
Familie usw. ebenso wie auf die Alltagskultur und das ideologische "Wertesystem",
die psychischen Sozialcharaktere, den Habitus etc.
Aber der Beginn dieses Wandels liegt erst relativ kurze Zeit zurück; die
alten fixierten Kategorien und Charaktere bestehen gleichzeitig noch in großem
Maßstab auf absehbare Zeit weiter. Die ja auch offiziell geforderte und
umstrittene "Mobilität" und "Flexibilisierung", obwohl sie weit hinausgeht
über den bloß gewerkschaftlichen Streit um das "Normalarbeitsverhältnis"
und die soziale Besitzstandwahrung der traditionellen Kernarbeiterschaft, hat
noch nicht nach der POSITIVEN Seite hin zur BEWUSSTEN IDENTITÄTSBILDUNG
einer "neuen Arbeiterklasse" geführt, die "neu" ist auch im Sinne eines
politisch-identifikatorischen WIDERSPRUCHS zur traditionellen Arbeiterklasse
und deren gesellschaftlich institutionalisierten Ausdrucksformen; eine solche
"neue Arbeiterklasse" hat allerdings auch nichts gemein mit der bisherigen Besetzung
dieses Begriffs, wie er in der soziologistisch verkürzten Theoriebildung
bereits eingeführt ist (Mallet u.a.), die selber noch in starren Kategorien
denkt und sich daher bloß auf die quantitative Erweiterung des traditionell-berufsständischen
Status der Naturwissenschaftler, Ingenieure und Techniker zur "Klasse" bezieht,
ohne den sozialökonomischen Umwälzungs- und Krisenprozeß als
Ganzes im Auge zu haben. Es wird nicht einfach der "Mittelbau" der gesellschaftlichen
Arbeit erweitert und etwa der traditionellen Arbeiterklasse einverleibt, sondern
die Individuen werden überhaupt von den starren Kategorien eines in seiner
stofflich-inhaltlichen Struktur fixierten Arbeitsteilungs-Systems "entkoppelt"
in demselben Maße, wie dieses System sich in eine total "vernetzte" Struktur
von prozeßgesteuerter Reproduktion verwandelt und die menschliche Arbeitskraft
diesem Gesamtsystem "flexibel" gegenübersteht. Erst in dieser Umwälzung
verdampfen die letzten Reste eines immer noch quasi-"ständischen" Bewußtseins,
während die Wertform gleichzeitig in ihr letztes und absolutes Krisenstadium
eintritt.
Deswegen ist der Schrott-Tanker SPD auch historisch glücklicherweise nicht
mehr flott zu machen. Die "neuen sozialen Bewegungen" stellen so gesehen nichts
weiter dar als die bloße ÜBERGANGSERSCHEINUNG eines noch unausgegorenen
IDENTITÄTSWANDELS der gesellschaftlichen Arbeiterklasse, dessen REVOLUTIONÄRE
KONSEQUENZEN noch im Dunkeln liegen. Die Herausbildung der GRÜNEN hat noch
auf der alten Seite des Ufers stattgefunden, wie ihre ordinäre Verstaatsbürgerlichung
und Parlamentarisierung, die Dominanz der "Realos" und überhaupt ihr Dasein
als bloß modifiziertes Abziehbild des alten Sozialdemokratismus zeigen.
Der grün-sozialdemokratische Neo-Reformismus wird gegenwärtig von
Menschen und
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Bewegungen getragen, deren wirkliche soziale und identifikatorische Zukunft
innerhalb des sterbenden Wertverhältnisses in Wahrheit völlig unvereinbar
ist mit diesen vulgär bürgerlich-fetischistischen, noch der Vergangenheit
angehörenden politischen Ausdrucksformen.
Idealtypisch können die alten und die neuen Sozialkategorien der Lohnarbeit
bereits klar gegenübergestellt werden. Die Menschen der alten Arbeiterklasse
sind in jeder Hinsicht starr und "fixiert" in ihrem sozialen Dasein; sie sind
"berufsorientiert" im Sinne einer engen und lebenslang beibehaltenen Qualifikation,
Handfertigkeit oder sonstwie ihnen "zugehörigen" Tätigkeit, die demzufolge
auch an der spezifischen unmittelbaren Arbeitspraxis orientiert bleibt (Präzision,
Geübtheit, Spezialwissen); sie sind ebenso an starre Geschlechtsrollen
und Familienbindungen gefesselt samt Heirat und lebenslanger Zwangspartnerschaft;
über alle diese Fixierungen sind sie eingebunden in Formen einer spezifischen
Klassen- und Nationalkultur sowie in organisatorische und politische Verpflichtungen,
die diesem starren Gefüge entsprechen (klassen- und schichtspezifisch geprägte
Vereinskultur, Gewerkschaften, Parteien wie SPD oder KPD mit ebenfalls fester
traditioneller Zuordnung und Treuebindung).
Vom Standpunkt der neuen "flexibilisierten" Lohnarbeiterklasse aus handelt es
sich bei dieser sozialen Formation um ein antiquiertes proletarisches Spießbürgertum,
dessen Dasein und Wertesystem mehr als fragwürdig geworden ist. Die Menschen
der neuen Arbeiterklasse sind inhaltlich mobil, berufs-unspezifisch orientiert
und einem ständigen wie wechselnden Qualifikations- und (von der "Verkäuflichkeit"
her) Dequalifikationsprozeß unterworfen, der auf gesellschaftlich-allgemeinen,
vermittelten Wissensinhalten beruht, die nicht mehr oder jedenfalls zunehmend
weniger an unmittelbarer Arbeitspraxis orientiert sein können, weil der
Verwissenschaftlichungs-Prozeß jedes bloß praktische Wissen, bloße
Präzision und "Geschicklichkeit" in immer schnellerem Tempo "entwertet".
Mit dieser sozialökonomischen Flexibilisierung einher geht die Auflösung
fester, zwanghafter Geschlechtsrollen und Familienbindungen; Zerfall des starren
Ehe-Systems, Ausbreitung von "Singles" und freien Partnerschaften, Emanzipationswille
der Frauen und Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Sexualbeziehungen sind unvermeidliche
Konsequenzen des allgemeinen Wandels zur gesellschaftlichen Flexibilität
überhaupt. Gleichzeitig lösen sich die starren habituellen und politischen
Kulturen auf; die neuen flexiblen Individuen müssen sich ihre kulturelle
und politische Identifikation bewußt selbst erobern und finden sie nicht
mehr schon immer festgefügt vor wie ein Karnickel seinen Stall.
Es wäre natürlich verkehrt, diese idealtypische Gegenüberstellung
schon für eine verallgemeinerte unmittelbare Realität zu halten. Es
sind damit aber die wesentlichen gesellschaftlichen TENDENZEN aufgedeckt, wie
sie sich bis jetzt noch hinter dem Rücken der Individuen vollziehen, in
deren empirischem Dasein sich heute die beiden Kategorien-Systeme sozialökonomischer
Reproduktion noch auf die vielfältigste Weise vermischen. Eben deshalb
ist auch der umfassende revolutionäre Identifikations- und Selbstfindungsprozeß
der neuen "flexibilisierten" Arbeiterklasse noch in einem erst vagen, embryonalen
Gärungszustand begriffen.
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Die neuen Daseins- und Bewußtseinsformen, gerade weil sie noch unausgegoren
sind und doch schon schmerzhaft mit der alten sozialen Welt und der daraus entstandenen
"Welt-Anschauung" zusammenstoßen, werden zunächst vor allem in ihrer
bloß NEGATIVEN Herausbildung wahrgenommen und lösen daher vielfältig
Angst, Abwehr, Verlorenheit und regressive Reaktionen aus, was sich z.B. ideologisch
im Rückgriff auf vormarxistische Emanzipationsideologien, lebensreformerische
Experimente, Naturmystik, Produktivkraftkritik usw. äußert.
Mit am übelsten muß diese Regression gegenwärtig bei einigen
feministischen Strömungen aufstoßen, die der spezifischen Unterdrückung
der Frau in Wirklichkeit völlig begriffslos gegenüberstehen. Die verschiedenen,
oft mythologisch angehauchten "Patriarchats"-Theorien verdunkeln das Problem
eher, statt es aufzulösen. Frauenunterdrückung wie Frauenemanzipation
(letztere nicht als vollzogene Realität, sondern als sozialhistorisch konstituierter
Wille und Bewegung) sind in der modernen Welt gleichermaßen Resultat der
Entfaltung des Wertverhältnisses wie dessen in sich widersprüchlicher
Vermittlung mit dem traditionellen Blutsverwandtschaftssystem. EINERSEITS zersetzt
die Entfesselung des Werts auf stets wachsender Stufenleiter den Blutsverwandtschafts-Zusammenhang
ALS ORGANISATIONSFORM DER GESELLSCHAFTLICHEN REPRODUKTION, löst diese Form
immer umfassender ab durch die abstrakt vergesellschaftende Wertform und setzt
dadurch auch die Energien und Widerspruchsebenen für einen Emanzipationswillen
der Frauen frei; denn es gehört zu den Mythologien und falschen Interpretationen
vorkapitalistischer Verhältnisse, daß in diesen jemals Elemente einer
Freiheit der Frau existiert hätten. ANDERERSEITS aber hebt das Wertverhältnis
den Blutsverwandtschafts-Zusammenhang keineswegs auf, sondern zwingt ihn vielmehr
selber in die Form der erst kapitalistisch konstituierten ABSTRAKTEN PRIVATHEIT,
die ihr zusammenfassendes Prinzip wiederum in der ABSTRAKTEN ALLGEMEINHEIT des
modernen STAATES hat. Die Familie als Sphäre der (abstrakten) Privatheit,
getrennt von der Sphäre der Produktion und der gesellschaftlichen Institutionen,
ist erst das Produkt der historischen WertformDynamik.
Die idealtypische Form der abstrakten Privatheit wäre das absolut einsame
Individuum, die absolute gesellschaftliche Monade. Die Dynamik des entfesselten
Werts drängt auch auf diesen Zustand hin, wie sich heute sogar zunehmend
empirisch belegen läßt. Aber die Wertform kann ihrer Natur nach nicht
alle lebensnotwendigen Momente der menschlichen Reproduktion gleichermaßen
in sich aufnehmen; dies ist weder bei den keineswegs total vergesellschaftungsfähigen
Resten der Hausarbeit möglich noch vor allem bei der Kinder-Aufzucht. Der
BlutsverwandtschaftsZusammenhang kann also von der Wertform gar nicht total
aufgehoben werden, sondern muß die Rolle eines "Scharniers", einer vielfältigen
Vermittlungs- und AuffangInstanz der zahllosen Friktionen des Wertverhältnisses
spielen und die Hauptlast der nicht total wertförmig erfaßbaren Reproduktionssektoren
tragen. Der Blutsverwandtschafts-Zusammenhang spielt diese Rolle jedoch nicht
mehr unmittelbar als solcher, sondern in der historisch erst von der entfalteten
Wertform konstituierten Hülle oder im Gehäuse
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der abstrakten Privatheit. Innerhalb dieses Gehäuses aber wird spezifisch
die Frau unterdrückt, denn sie ist es, die tatsächlich die Hauptlast
der weiterhin auf das Blutsverwandtschaftsverhältnis abgewälzten Reproduktionsarbeit
trägt, die jetzt in dieses Gehäuse der abstrakten Privatheit eingebannt
ist. Dies gilt auch dann, wenn in diesem Verhältnis gar kein Mann mehr
unmittelbar anwesend ist, etwa bei "alleinerziehenden Müttern" (umgekehrt
natürlich auch als Ausnahme bei ebensolchen Vätern). Gerade in seiner
vollständigen Reduktion in der Hülle der abstrakten Privatheit, getrennt
von allen anderen Sphären der sozialökonomischen Reproduktion, nimmt
das Blutsverwandtschafts-Verhältnis erstmals historisch reine Form an als
reines Mutter- (bzw. Eltern-) Kind-Verhältnis oder als reines Geschlechtsverhältnis
von Frau und Mann, reproduziert auch in gleichgeschlechtlichen Beziehungen.
In dieser reinen Form werden die weitergeschleppten und historisch dem Blutsverwandtschaftsverhältnis
entsprungenen Geschlechtsrollen absurd und obsolet bis zur Unerträglichkeit,
eine Spannung, die sich weiterhin in erster Linie zu Lasten der Frau entlädt.
Die abstrakte Privatheit des Wertverhältnisses, äußerlich verklammert
durch die abstrakte Allgemeinheit des Staates, reproduziert sich also - in ihrer
gesellschaftlichen Arbeit vermittelt durch die abstrakte Geldform - gleichzeitig
in Gestalt der Familie als reduziertem und eben dadurch erst reinem Blutsverwandtschaftsverhältnis,
das seinerseits fortlaufend weiter zersetzt wird durch die totale "Monadisierungs"-Dynamik
der Wertvergesellschaftung und insofern wiederum das permanente Eingreifen der
abstrakten Staats-Allgemeinheit herausfordert.
Es zeigt sich so, daß über die Familie als Form der abstrakten Privatheit
Wertverhältnis und Blutsverwandtschaftsverhältnis zu Lasten der Frau
MITEINANDER VERSCHRÄNKT sind und die Krise der Familie als Teilmoment der
Krise des Wertverhältnisses selber begriffen werden muß. Wertverhältnis
und Blutsverwandtschaftsverhältnis sind in der modernen Welt nicht zwei
einander äußerliche und parallele "Prinzipien", von denen das eine
als "Patriarchat" das bloß ältere und tieferliegende wäre, sondern
sie bilden in ihrer Verschränktheit eine erst kapitalistisch konstituierte
Identität, die daher auch nur als solche und als Ganzes aufgehoben werden
kann.
Man ermesse daran den gefährlichen Unsinn feministischer Strömungen,
die diese wirkliche Logik der Verhältnisse direkt auf den Kopf stellen.
In geradezu hysterischer Weise wird die positive Besetzung des "Werte"-Schaffens
durch die alte Arbeiterbewegung, statt sie zu kritisieren, nun auch noch für
die Hausfrauen eingeklagt (C. Werlhof u. Co.)! Statt die Negativität und
zerstörerische Potenz des Wertverhältnisses zu erkennen, fällt
dieser scheinradikale Feminismus prompt auf die Fetischismen des vermeintlich
kritisierten traditionellen Marxismus herein und möchte den gesellschaftlichen
Fetisch des Werts nun auch dort noch in Kraft setzen, wo er seiner Logik nach
überhaupt nicht als Realverhältnis existieren kann. Umgekehrt wird
dann die Blutsverwandtschaft und die darin zur Rolle geronnene biologische Funktion
der Frau, statt sie in ihrem repressiven, widersprüchlichen Vermittlungszusammenhang
und in ihrer Verschränkung mit dem Wertverhältnis aufzudecken und
zu kritisieren, selber zum
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positiven, mystifizierten Bezugssystem einer falschen, regressiven Identität
der Frau gegenüber den unbegriffenen Friktionen des gesellschaftlichen
Wertverhältnisses gemacht. Der Feminismus, einst ausgezogen, um die Frauen
von der Repression der biologischen Mutterschafts-Rolle des Blutsverwandtschaftsverhältnisses
zu befreien, ist so wieder zur dumpfen Mütterlichkeit regrediert und zum
Einfallstor reaktionärer und irrationalistischer Tendenzen in die gesellschaftliche
Oppositionsbewegung geworden.
Aber das neue soziale Dasein der "flexibilisierten" Lohnarbeit muß trotz
alledem zu einer POSITIVEN, d.h. aber revolutionären Selbst-Identifikation
gelangen und kann weder auf Dauer in regressiven Ideologien verharren noch sich
sozial den Interpretationsmustern der alten Institutionen ausliefern. So ist
etwa die "Flexibilisierungs"-Diskussion auf der unmittelbarsten sozial- und
tarifpolitischen Ebene bis jetzt hauptsächlich durch die Abwehrhaltung
der Gewerkschaften geprägt, die sich nicht einmal entblöden, den sonntäglichen
Kirchgang als Argument ins Feld zu führen. Tatsächlich existieren
aber real schon Millionen von Menschen, denen die "Heiligung des Sonntags" genauso
scheißegal ist wie das sterbenslangweilige Ritual eines feiertäglichen
"Familienlebens". Teilzeitarbeit und andere Formen einer Reduktion des "Normalarbeitsverhältnisses",
logisch wie praktisch nur möglich durch eine Negation des familiären
Blutsverwandtschaftsverhältnisses als Form der abstrakten Privatheit, werden
millionenfach bereits im Kern POSITIV besetzt, während sie den traditionellen
Gewerkschaften noch größtenteils an sich suspekt oder ein Greuel
sind. Gerade deswegen aber ist die Flexibilisierung der gesellschaftlichen Arbeit
gegenwärtig noch ganz in eine kapitalistische Strategie der versuchten
Überwindung der Akkumulationskrise eingebunden, deren Zielsetzung u.a.
"ungeschützte" Arbeitsverhältnisse sind. Ein Moment im Selbstfindungsprozeß
der neuen Lohnarbeiterklasse muß deshalb zweifellos zukünftig die
soziale Mobilisierung INNERHALB der eigenständig und KONTRÄR zum Kapital-Standpunkt
positiv besetzten Flexibilisierung sein, um zu neuen Formen des Klassenkampfes
zu gelangen. Der offizielle und durchschnittliche Gewerkschaftsstandpunkt gegen
Flexibilisierung, Teilzeitarbeit usw. überhaupt ist dagegen reaktionär,
eine subtilere Wiederholung der Maschinenstürmerei auf höherer Vergesellschaftungs-Ebene.
Die neue und höhere, gegen das Wertverhältnis selber gerichtete Form
des Klassenkampfes wird nicht machbar sein mit den alten verrosteten Institutionen
der alten Arbeiterklasse, zu deren unbeweglichsten und rückständigsten
Ausdrucksformen eben die Gewerkschaften gehören. Es wird dieser neue Kampf
überhaupt nur gegen die Trägheit der alten Institutionen zu entfesseln
sein. Das ganze verrottete Organisations- und Denksystem der alten Arbeiterbewegung
muß letztlich über den Jordan geschickt werden, die berufsständischen
Orientierungen ebenso wie das Familiensystem, Staatsbürgerlichkeit und
fetischistischer Demokratismus ebenso wie nationale Identitäten, Fixierung
auf die Rechtsform usw.
Zu diesen reaktionär werdenden Resten einer absterbenden Vergangenheit
gehört auch die institutionelle Trennung von "Partei" und "Gewerkschaft",
die nichts anderes ist als das institutionelle Dasein des Warenfetischismus
in einer demokratisch in die Lohnarbeit eingebundenen
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Arbeiterbewegung. Im Krisenprozeß des Wertverhältnisses und der sozialen
"Umwertung der Werte" macht die Trennung von "Ökonomie" und "Politik" keinen
Sinn mehr; darin scheint bereits die reale Aufhebung des fetischistischen Zerfalls
der Gesellschaftlichkeit in getrennte "Bereiche" auf, die durch die kommunistische
Revolution vollstreckt werden muß. Indem die neue, flexibilisierte Lohnarbeiterklasse
zu ihrer positiven Selbst-Identifikation findet, wird sie nicht nur die Beschränktheit
der Institutionen der alten Arbeiterbewegung überwinden, sondern auch die
Beschränktheit von deren rechtsfetischistischen Kampfformen. Der selber
"flexible" Massen- und Generalstreik ohne die schwachsinnig gewordene gewerkschaftliche
Branchen-Beschränktheit wird ebenso zum alltäglichen Mittel gemacht
werden müssen wie andere Formen der Lahmlegung des öffentlichen Lebens
kapitalistischer Reproduktion (Sabotage, Boykott), aggressive Massendemonstrationen
usw.
Aber die radikale Aktionsform steht keineswegs am Anfang einer radikalen Bewegung,
wie es sich der krude Aktionismus der Autonomen etc. heute wohl einbildet. Die
Idee wird nicht aus der Aktion heraus geboren, sondern umgekehrt. Der revolutionäre
Zugriff auf die gesellschaftliche Reproduktion ist zuerst ein PROGRAMMATISCHER,
vermittlungsfähiger, von einer konkretisierten revolutionären Theorie
getragener; in dieser Hinsicht existiert bis heute keine Radikalität in
der BRD und in den entwickelten kapitalistischen Ländern überhaupt.
Der theoretisch-programmatische Selbstfindungsprozeß der neuen flexibilisierten
Lohnarbeiterklasse als entscheidendes, transformierendes Moment des Krisenprozesses
der Gesellschaft geht einher mit ihrer Herausbildung selber; die wahren Totengräber
des Kapitalismus werden erst heute geboren.
In diesem ganzen eskalierenden Krisenprozeß und während der Geburt
der neuen sozialen Vollstrecker einer wirklichen Aufhebung kapitalistischer
Reproduktion besteht die alte Arbeiterklasse fort, wenn auch auf abnehmender
Stufenleiter als vergehendes historisches Moment. Aus sich heraus kann diese
veraltende Gestalt des sozialen Klassenkörpers keinerlei Weg mehr aus der
Krise finden; in halb verzweifelten, halb resignierten Defensivkämpfen
wird sie sich immer nur an die Verteidigung des Lohnarbeiter-Daseins klammern,
wie die isolierten Branchen- und Regional-Kämpfe der Kohle-, Stahl- und
Werftarbeiter in verschiedenen Teilen Europas mit aller Deutlichkeit gezeigt
haben. Diese Kämpfe mögen in einigen Regionen "militant" geführt
werden, wie etwa Scargills Truppen aus den hochorganisierten nordenglischen
Zechen oder die lothringischen Stahlarbeiter es vorgeführt haben, aber
INHALT und PROGRAMM dieser Bewegungen war und ist hoffnungslos borniert. In
diese rein defensiven, kapitalistisch immanenten Bewegungen kann keine kommunistische
Idee direkt hineingetragen werden (die man ja erst einmal haben müßte!),
wie es sich ein Teil der selber historisch bornierten linken Traditionalisten
(DKP etc.) vielleicht erhofft, deren "Kommunismus"-
Verständnis selber genauso historische Makulatur ist wie die Aktions- und
Bewußtseinsformen des alten Gewerkschaftlertums. Unter den gestickten
Traditionsfahnen mit dem edlen Kitsch des 19. Jahrhunderts wird das erste und
letzte Wort der Gewerkschaften ein hundeelendes Arbeitsplatzgewinsel bleiben,
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fixiert auf Korporatismus, Nation und Überlebensfähigkeit auf dem
Weltmarkt, der in seiner bisherigen Gestalt sowieso nicht weiterbestehen kann.
Vokabeln wie "Sozialverträglichkeit" signalisieren eine Sklavensprache,
die bis zuletzt das eigene Idiom der ehemaligen proletarischen Pfeffersäcke
des Fordismus bleiben wird.
Trotzdem können auch längerfristig die sozialen Defensivkämpfe
der untergehenden alten Arbeiterklasse einen strategischen Stellenwert gewinnen,
aber nicht aus sich heraus, sondern höchstens in einer revolutionären
Schlachtordnung der neuen, zum Selbstbewußtsein gekommenen und zur aktiven,
organisierten gesellschaftlichen Kraft herangereiften flexibilisierten Lohnarbeiterklasse.
In deren erweitertem Horizont können die defensiven Bewegungen des alten
Klassenkörpers vielleicht zukünftig eine von "Bündnissen" flankierte
Funktion erhalten wie für die alte Arbeiterbewegung selber die Bauern-
und Kleinbürgerbewegungen der Vergangenheit. Zu mehr als Bauern auf dem
Schachbrett eines künftigen neuen Klassenkriegs jenseits der fetischistischen
Wertimmanenz können es die verspießbürgerten Kleinhändler
der Ware Arbeitskraft kaum mehr bringen.
Cum grano salis gilt dies letztlich auch für die Arbeiterbewegungen im
"Realsozialismus". Die Formation einer nachholenden ursprünglichen Akkumulation,
die äußerlich und gewaltsam auf die westliche Peripherie der Sowjetunion
übertragen worden war, hat in ihrer Stagnationskrise weder die umwälzende
Dynamik des Wertverhältnisses noch die einer sozialistischen, wert-aufhebenden
Reproduktion entfesseln können; mit den veralteten Industriestrukturen
zusammen wurde auch der alte soziale Klassenkörper konserviert. In der
rohen Form des rückständigen, äußerlich-bürokratisch
regulierten Wertverhältnisses hat sich ironischerweise die traditionelle
Arbeiterklasse, weit entfernt von einer Selbstaufhebung, in einer geradezu musealen
Form erhalten und reproduziert immer noch ungebrochen jene starren Lebens- und
Denkstrukturen, die sich unter dem Diktat des fortgeschrittenen Verwissenschaftlichungs-Prozesses
im Westen bereits aufzulösen beginnen. Die Arbeiterbewegungen des Ostens
sind bis ins Mark von diesem Zustand geprägt und tragen daher vergleichsweise
ultrakonservative, traditionell demokratistische und gewerkschaftliche Züge.
Man braucht sich bloß diesen Lech Walesa mit seiner Fußballmannschaft
katholisch gezeugter Kinder anzuschauen. Diese großväterlichen Arbeiterbewegungen
können vielleicht im Osten noch einmal den alten kapitalistischen Modernisierungs-
und Demokratisierungs-Part der im Westen schon untergehenden alten Arbeiterbewegung
spielen, wenn auch natürlich nicht ungebrochen. Eine gesamteuropäische
Einbindung in eine heraufkommende revolutionäre Bewegung der neuen, flexibilisierten
Lohnarbeiterklasse des Westens wäre nur möglich in dem Maße,
wie durch die gelingende Freisetzung des Verwissenschaftlichungsprozesses auf
höherer Stufenleiter auch im Osten die Sozialstrukturen aufgebrochen werden
und die vom Westen bereits kulturell beeinflußte Jugend auch im Osten
in einem ganz neuen Sinne die revolutionäre Führung übernimmt.
Die Zeit der Revolutionen gehört nicht der Vergangenheit an, sondern der
Zukunft. Mit dem Erlöschen des sozialhistorischen "Paradigmas" der alten
Arbeiterbewegung sind auch die
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Zugkraft der Oktoberrevolution und der Dritte-Welt-Revolutionen für immer
erloschen; die Weltrevolution mußte notwendig in eine Latenzphase zurücktreten,
bis mit einer neuen Stufe kapitalistischer Vergesellschaftung und deren Krise
auch ein neuer sozialer Träger der Lohnarbeiterklasse und eine neue Gestalt
revolutionärer Theorie und Programmatik heranreifen. Das alte Europa kann
vielleicht noch einmal zur Speerspitze des Fortschritts werden, die mit der
französischen Revolution begonnene transitorische Emanzipationsbewegung
vollenden und gleichzeitig seine kolonialistische "Schuld" endlich begleichen,
wenn es ihm gelingt, die bisher unerhörte Revolution über das Wertverhältnis
hinaus in seinem Schoß auszubrüten.
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6. Revolutionäre Intelligenz kann sich nur außerhalb
des Wissenschaftsbetriebs entwickeln
Die objektive Bestimmung
des sozialhistorischen Trägers revolutionärer Subjektivität muß
konkret geleistet werden, statt das bloß logische Abstraktum "Arbeiterklasse"
(das in seiner Logik noch nicht einmal begriffen ist) ebenso gebetsmühlenhaft
zu bemühen wie den Demokratismus. Die Linke in ihren verschiedenen Spielarten
hat die seit 1968 wiederholt selbstgestellte Aufgabe einer "Klassenanalyse"
nicht gelöst und auch gar nicht lösen können, da ihre Theoriebildung
in warenlogisch bedingte Ökonomie und positivistischen Soziologismus auseinandergefallen
und somit fetischistisch verblendet blieb. Statt den sozialen, politischen und
ideell-programmatischen Selbstfindungsprozeß einer bestimmten historischen
Formation der Arbeiterklasse herauszuarbeiten, verfiel die Linke entweder dem
abstrakten MYTHOS der Arbeiterklasse, deren ikonenhaftes Bild einem schon vergehenden,
schon zersetzten und "unwahr" werdenden Zustand der Vergangenheit entsprach,
oder sie ging völlig unvermittelt auf das abstrakte spätkapitalistische
Interessens-Individuum los, das "vom Kapitalismus nichts hat" (wie es bis heute
die Agitations-Sekte MG vorführt).
Der ideologische Drang nach unmittelbarer Praxis, wie er vor allem aus der westlichen
Subjekttheorie von der Neuen Linken kurzschlüssig abgeleitet worden war,
ließ jene Problemstellung als konkrete gar nicht erst aufkommen, die in
der vorhergehenden, noch nicht einmal als beendet verstandenen Epoche als die
Aufgabe einer "Verschmelzung von wissenschaftlichem Sozialismus und Arbeiterbewegung"
benannt worden war. Die unmittelbare Identität dieser beiden Pole eines
historischen Bewußtwerdungsprozesses konnte noch nie platt vorausgesetzt
werden, weder als die Unmittelbarkeit einer quasi mystischen historischen Identität
noch als die krude Unmittelbarkeit des Interesses. Schon immer mußten
die beiden Pole von gesellschaftlich sich konkretisierender Theoriebildung einerseits
und sozialer bzw. politischer Bewegung andererseits sich in einem langwierigen,
spannungsgeladenen Prozeß miteinander vermitteln. Auf einer noch unreifen
gesellschaftlichen Grundlage war diese Vermittlung oder "Verschmelzung" in den
Gestalten des traditionellen Marxismus und der alten Arbeiterbewegung schon
einmal relativ gelungen, wobei die Linke immer schon die fertigen historischen
Formen dieser Vermittlung (Parteien und Gewerkschaften) vor Augen hatte, die
heute nichts mehr weiter sind als die institutionell erstarrte Lava eines längst
erloschenen Vulkans, statt den vorhergehenden und als theoretisches Problem
verschollenen Vermittlungsprozeß selbst zu begreifen und für die
eigene Situation in neuer Weise auf einer höheren Vergesellschaftungsstufe
fruchtbar zu machen.
Tatsächlich hat es natürlich immer auf beiden Seiten dieser zu vermittelnden
Polarität bestimmte Akteure gegeben, deren Subjektivität den ganzen
Prozeß trug und die sich nicht übereinander hinwegsetzen konnten.
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung in der neuen bürgerlichen Gesellschaft
um ihr eigenes Wesen, ihre Logik und ihre weitere Entwicklung
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brachte den Marxismus als Strömung des theoretischen Denkens hervor; die
Protagonisten dieser Strömung waren also auch wirklich in erster Linie
Theoretiker und nicht etwa Agitatoren - ebensowenig konnten sie sich platt positiv-instrumentalistisch
auf vorgegebene gesellschaftliche Praxis-Formen als "wissenschaftliche Hilfskräfte"
beziehen. Sie mußten vielmehr gerade umgekehrt in ihrer Theoriebildung
alle vorgefundenen Formen radikal kritisieren und "gegen den Strom" schwimmen
auf der Ebene der Theorie selber. Umgekehrt brachten auch die "Bewegungen" selber
ihre eigenen Protagonisten und Aktivisten hervor, die sich aus ihrer praktischen
Erfahrung heraus zunehmend weniger mit der falschen Unmittelbarkeit des bloß
empirischen Interesses begnügen konnten, sondern mit der sich immer stärker
aufherrschenden Frage nach dem Wesen und der Entwicklung dieser Gesellschaft
sowie nach Weg und Ziel ihrer eigenen Bewegung auf die Sphäre der Theorie
verwiesen wurden, auf die theoretische Erklärung und theoretische Auseinandersetzung.
Weder die Aktion noch das empirische Interesse aus sich heraus schufen die historische
Identität der Bewegung; vielmehr mußte der "Blitz der Idee" einschlagen
in Gestalt einer konkretisierten revolutionären Theorie auf der Höhe
der Zeit, die programmatisch vermittlungsfähig war und die "Verhältnisse
zum Tanzen" bringen konnte durch das "Vorspielen" von deren eigener Melodie.
Weil es sich auf den beiden Polen dieser "Verschmelzung" um verschiedene Personen
und soziale Träger handelte, versuchte der platt soziologistische bürgerliche
Verstand bis weit in die Linke hinein immer wieder, das "Zünden" der theoretischen
Idee als eine den Bewegungen fremde und äußerliche Machenschaft von
fanatischen, dogmatischen usw. "Intellektuellen" zu denunzieren, statt den Gesamtprozeß
als den notwendig widersprüchlichen Selbstfindungs- und Bewußtwerdungsprozeß
einer bestimmten sozialhistorischen Formation zu begreifen.
Die neue Linke hat in Gestalt der kurzgeschlossenen Sekten den notwendigen Vermittlungsprozeß
von Theorie und sozialer Bewegung statt als zu erringendes Resultat bereits
als (organisatorisch verkürzte) VORAUSSETZUNG genommen, andererseits in
der scheinradikal übernommenen bürgerlichen Intellektuellen-Denunziation
an die falsche Unmittelbarkeit des Bewegungs-Bewußtseins im direkten Gegensatz
zur wissenschaftlichen Theoriebildung appelliert (SPONTANEISMUS in zahlreichen
Spielarten), oder sich schließlich aus dem universitären Milieu heraus
als jene "wissenschaftliche Hilfskraft" den Bewegungen in ihren JEWEILIGEN Konjunkturen
offeriert (Linkssozialisten). Die eigentliche Aufgabe der Theorie konnte in
solchen Konstellationen überhaupt nicht begriffen werden, und nicht umsonst
ist das allgemeine Resultat die ordinäre Verstaatsbürgerlichung dieser
Linken, in der sie sich gemeinsam wiedergefunden haben: die Sektenführer
vom Typus Schmierer ebenso wie die "Spontis" à la Schmid oder Fischer,
die Ex-Terroristen wie Mahler u.a. ebenso wie die professoralen Reformisten
vom Schlage der Altvater, Hirsch, Negt, Offe usw. Die Grünen und ihr parlamentarisch-kretinistisches
Koalitions- und "Tolerierungs"-Gekungel mit der Sozialdemokratie sind nicht
der endlich gelungene "Parteibildungsprozeß", sondern ganz im Gegenteil
der direkte Ausdruck von dessen endgültigem Scheitern auf den ideologischen
Grundlagen der neuen Linken.
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Ihre stupide Begriffslosigkeit der kapitalistischen Entwicklungslogik und deren
Krisenhaftigkeit gegenüber unterscheidet sich außer in moralistischen,
hilflosen Floskeln in nichts von der allgemein-bürgerlichen.
Mit dem kläglichen Scheitern der neuen Linken aber ist die objektiv gestellte
Aufgabe nicht verschwunden, ganz im Gegenteil. Diese Aufgabe, die in der alten,
absterbenden Formation als "Verschmelzung von wissenschaftlichem Sozialismus
und Arbeiterbewegung" benannt war, stellt sich auf neuer historischer Stufenleiter
und auf dem Boden einer viel höher entwickelten Gesellschaft auch in neuer
Form. In dem Maße, wie die alten Arbeiterbewegungen ihre Aufgabe der "Demokratisierung"
des Wertverhältnisses, d.h. der Totalisierung der Lohnarbeit, wirklich
erreicht und die Arbeiter sich endlich in die abstrakten Individuen bürgerlicher
Geld-Subjektivität, in abstrakt freie und gleiche Rechts-Subjekte verwandelt
hatten, mußte diese Bewegung als solche zum Stillstand kommen und den
für sie gegenstandslos gewordenen Marxismus im Zuge ihrer offenen bürgerlichen
Institutionalisierung wieder abschütteln. Dieser historische Entkoppelungsprozeß
war genauso widersprüchlich, spannungsgeladen und in einzelnen Ländern
unterschiedlich gefärbt wie der frühere Verschmelzungsprozeß;
er ist heute weitgehend abgeschlossen, auch wenn die marxistische Nomenklatur
noch sozusagen seufzend durch das politischgewerkschaftliche Vokabular geistert
als der Nachhall einer unbegriffenen Geschichte. Der überlieferte Marxismus
mußte so im BÜRGERLICHEN WISSENSCHAFTSBETRIEB stranden und dort auf
dem Trockenen langsam ausbleichen, sei es in Gestalt der Frankfurter Subjekttheorie
und ihrer Verfallsformen oder in Gestalt des reformistischen akademischen Linkssozialismus,
der sich in gräßlichen Verrenkungen abmüht, der steinalten und
völlig verbrauchten Sozialdemokratie noch einmal in den abwehrend zugekniffenen
Arsch zu kriechen. Als THEORIE ist dieser schon entseelte Marxismus mausetot
und bereits fast vollständig in das alte Wechselspiel bürgerlicher
Theorieproduktion zwischen irrationalem Subjektivismus und positivistischer
Waren-Rationalität integriert.
Um die neue Form der alten Vermittlungsaufgabe herauszufinden, kann ein Blick
auf ihre früheren Formen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nützlich
sein. Als die direkten Träger jener alten "Verschmelzung von wissenschaftlichem
Sozialismus und Arbeiterbewegung" wären eine zunächst auf den bürgerlichen
Universitäts- und Theoriebetrieb bezogene "revolutionäre Intelligenz"
einerseits und eine aus der Bewegung hervorgehende "Arbeiteravantgarde" oder
"Arbeiterintelligenz" andererseits zu bestimmen. Das offizielle wissenschaftliche
Leben der Gesellschaft war in jener Zeit viel weniger entfaltet, andererseits
nahmen an den Universitäten die Geisteswissenschaften einen relativ größeren
Raum ein. Die Angehörigen der "revolutionären Intelligenz" waren im
wesentlichen EINZELNE und kleine Gruppen, die sich keineswegs bloß immanent,
sondern in radikaler kritischer Auseinandersetzung mit der offiziellen Wissenschaft
herausgebildet hatten. Diese Menschen hatten sich in einem kritischen Bezug
auf den Wissenschaftsbetrieb abgearbeitet, aber sie waren selten auch gleichzeitig
Teil desselben. Marx, Engels, Kautsky, Lenin, Trotzki usw. waren aus gutem Grunde
allesamt
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nicht akademisch in Amt und Würden; nicht nur, weil der Staat für
die revolutionäre Intelligenz schon immer Berufsverbote und Repressalien
bereithielt, sondern vor allem deswegen, weil der Fortgang revolutionärer
Theorie im Klima und unter dem Druck des bürgerlichen Wissenschaftsbetriebs
nicht gedeihen konnte. Die revolutionäre Intelligenz schuf sich in kleinen
organisierten Gruppen eine eigene Basis außerhalb des Universitätsbetriebs
und übersetzte den radikal kritischen Bezug auf die Universitätswissenschaft
in eine ebenso radikale Kritik der jeweils vorherrschenden verkürzt utopischen,
liberalen und reformistischen Ideologeme in den Bewegungen selbst; exemplarisch
wären die Auseinandersetzung von Marx und Engels mit dem linken Flügel
der Paulskirche und mit den grassierenden vulgärsozialistischen Ideologien
zu nennen, ebenso die Auseinandersetzung der russischen Marxisten mit den Volkstümlern.
Der primäre Adressat und Rezipient dieser theoretischen Polemik war weder
"die Klasse" unmittelbar noch "die Bewegung" als Ganzes, sondern vielmehr zunächst
das fortgeschrittenste, beweglichste, intellektuelle Element in den Bewegungen,
ihre aktiven Kader, die aus ihrer eigenen Praxis heraus auf die Sphäre
der theoretischen Klärung und programmatischen Formierung verwiesen wurden.
Auf dem noch gering entwickelten Terrain der damaligen kapitalistischen Vergesellschaftung
rekrutierten sich diese Kader aus den "bessergestellten", fachlich qualifizierten
Arbeitern, in den Anfängen vor allem aus der schon alten, auf eine lange
Geschichte zurückblickenden Druckindustrie. Im Dasein dieser frühen
Kader der Arbeiterbewegung zeigte sich schon die ganze Spannung und Widersprüchlichkeit
ihrer "gelingenden" Vermittlung mit der revolutionären Theorie des Marxismus.
Denn einerseits waren sie das fortgeschrittenste, intellektuelle Bewegungs-Element
und insofern erster Träger der Theorie-Rezeption, andererseits aber gleichzeitig
Träger eines beschränkt "zünftlerischen", korporativen Interesses
mit eigentlich bloß reformistischer, immanenter Zielsetzung. Die Ungleichzeitigkeit
des kapitalistischen Vergesellschaftungsprozesses, vor allem die nachhinkende
"Demokratisierung" des Wertverhältnisses und das Zurückweichen der
empirischen Honoratioren-Bourgeoisie vor dieser Aufgabe, zwang dieser Arbeiter-Avantgarde
die Rezeption radikaler Theorie auf, freilich gleichzeitig durch und durch gefärbt
von ihrem starren sozialen Dasein innerhalb des historisch noch lange nicht
ausgeschöpften Wertverhältnisses.
In dieser Spannung zwischen theoretischer Vermittlung und dem wirklichen sozialhistorischen
Horizont lag schon der Keim einer viel späteren WiederEntkoppelung vom
Marxismus begründet; zunächst jedoch wurde die Marxsche Theorie von
dieser "Verschmelzung" selber überwältigt und entsprechend verkürzt.
Marx und Engels bekämpften wohl mit beißender Ironie dieses wuchernde
verkürzte "Marxismus"-
Verständnis, aber sie logen sich doch selber gleichzeitig systematisch
einen "eigentlich" revolutionären Charakter dieser Arbeiterbewegung in
die Tasche. Insofern konnten natürlich auch sie nicht über den Schatten
ihrer Epoche springen; und es wäre ja auch zu schön gewesen.
Vor dem Hintergrund dieses längst vergangenen Vermittlungsprozesses von
revolutionärer
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Theorie und alter Arbeiterbewegung kann das Bild unserer heutigen Aufgabenstellung
erst plastisch werden. Klar muß sein, daß der primäre Adressat
und Rezipient einer neuen revolutionären Theoriebildung auf keinen Fall
auf dem Boden der institutionalisierten alten Arbeiterbewegung in ihrem hoffnungslos
gewordenen bürgerlichen Dasein als variables Kapital gesucht werden kann,
also vor allem nicht im Dunstkreis des formalisiert-bürokratischen, inhaltlich
längst leblosen und ausgetrockneten, verspießbürgerten Gewerkschaftertums
(die oft proletkulthafte Züge annehmende "Gewerkschaftstümelei" ist
unter den Dummheiten der Linken nicht an letzter Stelle zu nennen), erst recht
nicht auf der "betrieblichen" oder "betriebskämpferischen" Ebene.
Der einzelkapitalistische Betrieb als AUSGANGSPUNKT der alten Arbeiterbewegung
verrät viel über ihren Charakter, über ihre letztlich selber
BETRIEBSWIRTSCHAFTLICHE, korporativ verkürzte Interessen-Logik, die grundsätzlich
warenlogisch eingebunden bleibt und gar nicht fähig ist zur Programmatik
einer Aufhebung des Wertverhältnisses und damit der "Betriebswirtschaft"
überhaupt. Auch die revolutionäre Räte-Idee kam nicht über
diese Beschränktheit hinaus, da der KERN des Räte-Systems eben von
BETRIEBS-Räten gebildet werden sollte. Die gewerkschaftliche Koalition
ist insofern ebenfalls nie über branchenmäßige oder andere sektorale
Zusammenschlüsse hinausgekommen; die GESAMTGESELLSCHAFTLICHE Orientierung
konnte sich daher die gesamte alte Arbeiterbewegung selber nur wieder in den
BÜRGERLICHEN fetischistischen Formen denken und organisieren, im abstraktallgemeinen
Bezug der POLITISCHEN PARTEI und des (als "sozialistische Zukunft" programmatisch
gefaßten) STAATES als der institutionellen Inkarnation der warenlogischen
abstrakten Allgemeinheit. Auch der Syndikalismus konnte die unbegriffene "Politik"
als bürgerliche Sphäre nur äußerlich negieren, um desto
schlimmer bei der betrieblichen, "ökonomischen" Bornierung des Interesses
in der unaufgehobenen Wertform zu landen.
Der revolutionäre Zugriff einer neuen flexibilisierten Arbeiterklasse,
wie sie sich herauszubilden beginnt, ist von vornherein nicht mehr von einem
"betrieblichen" Ausgangspunkt her zu fassen. Einmal schon nicht von ihrem wirklichen
sozialen Dasein aus, das in zunehmendem Maße weder "Berufs"- noch "Betriebs"-Treue
mehr kennt, sondern vielmehr einer ständigen Fluktuation zwischen den verschiedensten
gesellschaftlichen Reproduktionsbereichen, Sphären und "Einkommensquellen"
ausgesetzt ist. Zum andern aber kann sich auch der eigene programmatische und
real umwälzende Zugriff auf die gesellschaftliche Reproduktion überhaupt
nicht mehr auf eine "betriebliche" Reproduktion konzentrieren, weil der wirkliche
Lebensprozeß der Gesellschaft längst hochgradig "vernetzt" ist auf
allen Ebenen. Wo die kommunale Abfallbeseitigung genauso lebenswichtig geworden
ist wie die Produktion selbst, wo die unmittelbar gesamtgesellschaftliche Logistik
der Reproduktion wie Wissenschaft, Ausbildung und Qualifikation, Gesundheitswesen,
Kultur usw. als Infrastruktur die unmittelbare Produktion an Bedeutung schon
weit übertrifft, wo diese unmittelbare Produktion endlich selber weit über
die bloß noch formalen "betrieblichen" Grenzen hinaus vielfältig
verzahnt und gegliedert
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ist auf stets höherem Niveau - dort wird eine "betriebliche" Basis revolutionärer
Organisation völlig sinnlos. Eine gebrauchswertorientierte, vom Wertverhältnis
und seiner betriebswirtschaftlichen Logik endlich entkoppelte Gesellschaft,
die ihren totalen Reproduktionsprozeß wirklich unter ihrer eigenen Kontrolle
hat, kann sich überhaupt nur unmittelbar gesamtgesellschaftlich und innerhalb
dieses Bezugs kommunal-territorial organisieren. Niemand kann dann mehr ausschließlicher
"Betriebsarbeiter" sein, weil jede "betriebliche" Produktion gleichzeitig direkt
auf das gesamtgesellschaftliche Input- und Output-System hin organisiert werden
muß, von der in sie eingehenden Infrastruktur bis hin zur Bewältigung
des Abfalls usw. Die verschiedenen stofflich-sinnlich, von ihrem wirklich SACHLICHEN
Charakter her längst vernetzten und zu einem Gesamtsystem verwobenen Sphären
oder "Bereiche" der Reproduktion wie Produktionsstätten, Wissenschafts-,
Technologie- und AusbildungsInstitutionen, Gesundheitswesen, kommunale Dienste
usw. können dann nicht mehr in ihrer MENSCHLICHEN Verkehrsform bloß
abstrakt, formal, quantitativ durch die zu liquidierende ZIRKULATIONSSPHÄRE
(d.h. über die abstrakte Geldvermittlung) äußerlich und zunehmend
gebrauchswertschädlich oder katastrophisch miteinander verbunden sein,
sondern DIREKT, ohne Dazwischenkunft der verrückt gewordenen Zirkulation
- und daher auch nicht mehr in der Rechtsform, die aus dieser gespenstischen,
äußerlichen Beziehung der Menschen auf die wirklichen sachlichen
Inhalte ihrer eigenen Reproduktion entspringt.
Eine solche kommunal-territoriale Organisation INNERHALB eines unmittelbar gesamtgesellschaftlichen
Bezugs hätte nichts mehr zu tun mit den Organisationsformen der alten Arbeiterbewegung.
Die organisationspolitische Auseinandersetzung zwischen der kommunistischen
"Betriebszellen"-Organisation, wie sie innerhalb der KPD in der Weimarer Republik
kampagnenmäßig durchgesetzt werden sollte, und der alten sozialdemokratischen,
auf den PARLAMENTARISMUS hin ausgerichteten GebietsOrganisation ist historisch
gegenstandslos geworden. Ein radikaler gesellschaftlicher Zugriff ist von einer
betrieblichen Organisation her nicht mehr möglich, andererseits hätte
eine direkt gesamtgesellschaftlich bezogene kommunalterritoriale Organisationsform
nicht das geringste mehr zu tun mit einem bürgerlichen WAHL-Verein, insofern
ihr Inhalt sich bewußt gegen das vom Warenfetisch herausgebildete Auseinanderfallen
der Gesellschaftlichkeit in getrennte, abstrakte "Bereiche" richtet und sie
ihre Radikalität gerade in dieser praktischen Kritik fetischistischer Gesellschaftlichkeit
weiß.
TAKTISCH stünden einer solchen Organisationsform je nach der Situation
alle Mittel und Möglichkeiten offen, weil ihr fundamentaler Gegensatz zu
aller vorgefundenen fetischistischen Gesellschaftlichkeit (Geld, Recht, Staat,
Nation, Demokratie usw.) die Hypostasierung bloß taktischer Mittel und
Bewegungsformen wie Teilnahme an Wahlen oder deren Boykott, "friedliche" oder
gewaltsame Aktionsformen usw. von vornherein ausschließt, eine solche
Organisation also auch den Mitteln und Kampfformen gegenüber souverän
wäre, statt sich in ihrem wesentlichen inhaltlichen Bezug von der Auseinandersetzung
darüber beherrschen zu lassen - in der alten Arbeiterbewegung wie in der
neuen Linken ein starkes Indiz dafür, daß sich diese
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Auseinandersetzung noch im unbegriffenen Gehäuse der Wertform und damit
des Fetischismus bewegt.
Eine solche Organisation wäre auch gar nicht mehr Partei im herkömmlichen,
letztlich STAATSBÜRGERLICHEN Sinne, sondern vielmehr von ihrem ganzen gesellschaftlichen
Bezug her grundsätzlich eine Anti-Partei oder eine gesellschaftliche Organisierung
permanenter Staats- und Wertform-"Belagerung", die ALLE Erscheinungen der manifest
gewordenen Zerstörungspotenz des Werts auf ALLEN Ebenen aufgreift und gegen
die fetischistisch verfaßte Vergesellschaftung selbst richtet, von der
Arbeitsorganisation bis zur Elendsverwaltung, von der Umweltzerstörung
bis zur sogenannten (Innen- bzw. Außen-) Politik usw. Diese Organisierung
wäre gleichzeitig der Keim einer direkten Gebrauchswert-Vergesellschaftung,
indem sie die wirklichen sachlichen Inhalte und Verkettungszusammenhänge
der tatsächlichen sinnlichstofflichen Reproduktion aufdeckt, die Deformationen
und Zerstörungspotentiale der entfremdeten Wert- und Rechtsform öffentlich
zeigt und bekämpft, in denen sich dieser sachliche Inhalt der Reproduktion
irrational verwandelt zeigen muß.
Die Grünen mußten von der vermeintlichen Anti-Partei sofort zum sozialdemokratischen
Wahlverein degenerieren, weil sie von vornherein bloß Ausdruck der jüngsten
Kapitulation der Linken vor den warenfetischistischen gesellschaftlichen Verkehrsformen
waren und sich ihre "Politik" von vornherein bloß in der blinden Wert,
Geld- und Rechtsform artikulierte, zusammengeschlossen in der platt reformistischen
parlamentarischen Verstaatsbürgerlichung, in der die unbegriffenen Erscheinungen
der gegensätzlichen und auseinanderfallenden Vergesellschaftung des Wertverhältnisses
in ihrer Katastrophenträchtigkeit bloß moralisch bejammert und schließlich
in ihrer blinden Verlaufsform MITVERWALTET werden.
Die wirkliche Anti-Partei muß erst noch kommen. Sozialer Träger des
grünsozialdemokratischen Neo-Reformismus sind im Kern diejenigen Teile
der in der fordistischen Spätphase herausgebildeten infrastrukturellen
Lohnarbeiterklasse (Wissenschaftler, auch Naturwissenschaftler in bisher ungekannter
Quantität, Ingenieure, Lehrer, Ärzte, Sozialarbeiter im weitesten
Sinne: Elendsverwalter, sozialpädagogische Reparaturkolonnen des Wertverhältnisses
usw.), die sich noch in der alten, starren, "beruflich" und sozial fixierten
Gestalt befinden bis hin zur Verbeamtung, und die demzufolge auch noch einen
korporativen und entsprechend ideologisierten Interessen-Standpunkt einnehmen;
von daher auch die Affinitäten zu den verstaatsbürgerlichten Institutionen
und rechtsfetischistischen Interessenkämpfen der alten Arbeiterbewegung.
Sozialer Träger einer neo-revolutionären, gegen den Waren- und Rechtsfetisch
selbst gerichteten AntiPartei könnte umgekehrt nur die sich herausbildende
flexibilisierte Arbeiterklasse sein, die von jedem starren, partikular fixierten
sozialen Dasein entkoppelt ist. Soweit sich diese Tendenz überhaupt schon
gesellschaftlich manifestiert hat, kann jedoch noch nicht von einem Ansatz zur
Selbstfindung und Bewußtwerdung dieser neuen Klasse gesprochen werden.
Die oft noch regressiven ideologischen Reaktionsbildungen deuten eher darauf
hin, daß das neue Dasein noch gar nicht positiv angenommen, sondern vielmehr
noch die
71
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Illusion wirksam ist, es könne eine Rückkehr in ein gesichertes, gesettletes,
korporativ eingebundenes Dasein in den alten Berufs- und Sozial-Strukturen geben.
Die flexibilisierten Lohnarbeiter betrachten sich individuell eher noch als
Versager oder Außenseiter, statt sich als neue aufsteigende und souveräne,
zum bisherigen starren sozialen Dasein überlegen distanzierte Kraft selbst
produktiv zu begreifen. Daher auch das oppositionelle Mitschwimmen im grün-sozialdemokratischen
Strom als bloße Wähler oder selbst als Aktivisten, obwohl das wirkliche
eigene soziale Dasein letztlich völlig unvereinbar ist mit dem ideologisierten
Interessen-Standpunkt der grünen Neo-Spießbürger und ihrer alt-sozialdemokratischen
Artgenossen.
Ansätze einer Bewußtwerdung der neuen flexibilisierten Lohnarbeiterklasse
könnten sich am ehesten noch in den am wenigsten ideologisch regredierten
Teilen der "neuen sozialen" und Einpunkt-Bewegungen entwickeln, soweit sie auch
bereits dem grünen Wahlverein mißtrauisch odersogar feindselig gegenüberstehen;
immerhin ist es bezeichnend, daß dem grünen staatsbürgerlichen
Parteiapparat keinerlei personelle und organisatorische Verankerung in den Bewegungen
gelungen ist - er hängt sogar mehr noch als die anderen bürgerlichen
Parteien am Tropf staatsbürgerlich-parlamentarischer Wahlgelder und unterliegt
einer zunehmend abgehobenen "Professionalisierung" einer finanziell abhängigen
und entsprechend widerlich intriganten, geldgeilen und karrieristischen Personage.
Aber eine neue Bewußtwerdung kann nur über das "Zünden der Ideen-Bombe"
entfesselt werden, d.h. über die radikale Kritik der vorherrschenden Ideologien
auch in den Bewegungen selbst, indem gleichzeitig Elemente eines positiven,
umwälzenden, revolutionären Programms entwickelt und in den Bewegungen
wirksam gemacht werden. Das Resultat wäre die revolutionäre AUFHEBUNG
dieser Bewegungen selbst als begriffslose Einpunkt- und "Betroffenheits"-Bewegungen,
das Wiedergewinnen des Totalitäts-Gesichtspunkts der gesellschaftlichen
Opposition durch das Aufbrechen des fetischistischen Denkens, das zwar nach
"Ganzheit" schreit, diese aber in den vorgefundenen Bewußtseinsformen
nicht erlangen kann, schon gar nicht in den ausgelutschten Ideologien des alten
bürgerlichen Irrationalismus.
Das theoretische Programm einer fundamentalen Kritik des Wertverhältnisses
und der von diesem hervorgetriebenen Fetischgestalten der Gesellschaftlichkeit
kann sich freilich zunächst weder unmittelbar an die noch diffusen sozialen
Daseinsformen der flexibilisierten Lohnarbeit in ihrer ganzen Breite noch unmittelbar
an die vorgefundene Oppositionsbewegung als Ganzes wenden. Die revolutionäre
Theoriebildung muß sich zuerst selbst auf ihrem eigenen Boden formieren
und organisieren; dabei ist aber auch der primäre Resonanzträger in
Gestalt der "revolutionären Intelligenz" selber näher zu bestimmen.
In einem wesentlichen Punkt hat sich gegenüber der alten Ausgangssituation
im vorigen Jahrhundert nichts geändert: die Theorie muß als solche
wissenschaftlich erarbeitet werden in ihrem Inhalt, der natürlich mit einem
wie immer gearteten sozialen Dasein einer revolutionären oder potentiell
revolutionären Intelligenz sich nicht von selbst ergibt. Insofern können
auch heute die "Theoriebildner" zunächst
72
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nur Einzelne und kleine Gruppen sein. Aber der weitere Fortgang einer Erarbeitung
und Verbreitung revolutionärer Theorie trifft heute auf völlig veränderte,
viel höher entwickelte Bedingungen. Die Verwissenschaftlichung des gesamten
gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses ist so weit fortgeschritten, daß
die gesellschaftliche Intelligenz nicht mehr auf einen kleinen und genau umrissenen
Sektor eingegrenzt ist. Das weitverzweigte gesellschaftliche Qualifikations-
und Wissenschafts-System ist heute in nahezu allen "Bereichen" der Reproduktion
direkt oder indirekt anwesend, somit die gesellschaftliche Intellektualität
auch in einem viel größeren Maßstab entwickelt. Daß das
kapitalistische System in seiner nicht mehr bewältigbaren Überentwicklung
gleichzeitig regrediert und Momente von Barbarisierung und "sekundärem
Analphabetentum" hervortreibt, darf nicht darüber hinwegtäuschen,
daß die andere Seite dieser Regression ja der Verwissenschaftlichungsprozeß
selbst ist, der die allgemeine gesellschaftliche Intellektualität auf eine
nie dagewesene Stufe gehoben hat; allerdings eben in den widersprüchlichen,
negativen Formen des Wertverhältnisses auf seiner historisch bereits absteigenden
Linie.
Die ungeheuer angewachsene gesellschaftliche Intelligenz, mit noch einmal einem
gewaltigen Entwicklungsschub in der fordistischen Spätphase der 70er Jahre,
wird damit auch voll von der kapitalistischen Reproduktionskrise mitgetroffen
und dabei gleichzeitig umgewälzt, nämlich selber "flexibilisiert".
Die revolutionäre Theoriebildung trifft also hinsichtlich ihrer möglichen
ersten Resonanzträger auf eine gegenüber dem letzten Jahrhundert in
doppelter Weise veränderte Situation: Zum einen produziert das gesellschaftliche
Qualifikations- und Wissenschafts-System eine stets anwachsende Masse von in
ihrem sozialen Dasein selber "ENTKOPPELTEN" Intellektuellen, die sich nicht
mehr bloß durch ideelle revolutionäre Theoriebildung vom offiziellen
Wissenschaftsbetrieb abtrennen, sondern von diesem selber schon noch inhalts-
und richtungslos als abgetrennte, entkoppelte Intellektualität produziert
und ausgespuckt werden. Insofern sind es tatsächlich keineswegs mehr bloß
Einzelne, die zumindest potentiell zum Resonanzträger revolutionärer
Theoriebildung IN DER SPHÄRE DER THEORIE SELBER werden können.
Zum anderen trifft dieser Theoriebildungsprozeß auch nicht mehr auf eine
"Arbeiterintelligenz" alten Stils, die noch mit "zünftlerischen", korporativen
und quasi berufsständischen Interessen-Momenten behaftet wäre. An
die Stelle der alten Drucker und Setzer als Potential einer Theorie-Rezeption
sind auch außerhalb des eigentlichen und engeren Bereichs akademischer
Intelligenz, d.h. innerhalb der breiter gefaßten Lohnarbeiterklassen,
in den Oppositionsbewegungen als Aktivisten neue soziale Träger getreten,
die bereits der flexibilisierten Lohnarbeiterklasse angehören und nicht
mehr eindeutig beruflich-sozial fixiert werden können. Wie sich überhaupt
auch die "Arbeiterintelligenz" insgesamt mehr auf allgemeine qualifikatorische
Inhalte hin verlagert, so kann sie in ihrem Zugang zu "Bildungsinhalten", in
ihrem Habitus usw. kaum noch von der Masse der akademischen und semi-akademischen
Intelligenz unterschieden werden. Der Krisenprozeß verschmilzt akademische
und Arbeiter-Intelligenz
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noch weiter, indem er einerseits das von der Verwissenschaftlichung selbst entfesselte
Potential akademischer Intelligenz nicht mehr "beruflich" integrieren kann,
andererseits auch die reibungslose Absorbtion von Arbeiterintelligenz über
die berufliche Aufstiegs-Kanalisierung nicht mehr gelingt.
Gleichzeitig werden durch die spezifische Form kapitalistischer Verwissenschaftlichung
und über die verschärfte Weltmarkt-Konkurrenz, verbunden mit einem
stets gesteigerten Kostendruck auf den wissenschaftlichen Apparat, die Geistes
und Sozialwissenschaften entweder funktionalistisch verkrüppelt oder überhaupt
aus den Universitäten vertrieben. Der kapitalistische Vergesellschaftungsprozeß
liquidiert so seine eigenen "SINNGEBUNGS"-Instanzen, ein alarmierendes Zeichen
für das Heranrücken seines katastrophischen Untergangs sogar in den
luftigsten Höhen des "Überbaus". Hinter dem Rücken der führenden
Akteure und Hüter des Kapitalverhältnisses wurden so bereits die Elemente
eines gewaltigen gesellschaftlichen Sprengsatzes negativer, transzendierender,
revolutionärer Subjektivität gebildet, die eigentlich nur noch kontaktiert
werden müssen, um eine bisher unerhörte Explosion zu erzeugen, eine
ideelle zunächst, dann aber schließlich auch die praktisch-revolutionäre
"Kritik der Waffen", in die sich die neue "Waffe der Kritik" natürlich
letzten Endes verwandeln muß. Diese Elemente können bestimmt werden
als das in immer größerem Maßstab blind herausgesetzte Dasein
einer gewaltigen Masse "ENTKOPPELTER" GESELLSCHAFTLICHER INTELLEKTUALITÄT
in vielfältigsten Formen einerseits und das Verschwinden der "Sinngebungs"-Instanzen
aus dem offiziellen Wissenschaftsbetrieb andererseits, die sich damit zwangsläufig
außerhalb jeder offiziellen Gesellschaftlichkeit neu formieren müssen.
Die quälende "Sinnfrage" kann revolutionär gelöst und beantwortet
werden, aber nur durch radikale wissenschaftliche Kritik, die einen ideellen
Flächenbrand entfachen wird, wenn sie sich vermittelt mit dem realen Krisenprozeß
zu neuen Antworten konkretisiert, die der warenfetischistisch verkürzte
traditionelle Marxismus schon lange nicht mehr adäquat zu geben vermag.
Die Kontaktierung der Elemente des gesellschaftlichen Sprengsatzes kann nur
gelingen, wenn die verzweifelte "Beliebigkeit" der gesuchten oppositionellen
"Sinngebung" aufgehoben wird durch die konkret werdende wissenschaftliche Kritik
des Wertverhältnisses und aller seiner fetischistischen Emanationen.
Gegenwärtig kann die flexibilisierte Lohnarbeiterklasse, soweit sie sich
schon herausgebildet hat, vor allem deswegen noch nicht zum Bewußtsein
ihrer selbst gelangen, weil die ihr entsprechende "entkoppelte" gesellschaftliche
Intellektualität diesem neuen sozialen Dasein noch keinen eigenständigen
theoretischen und vermittelbaren Ausdruck verliehen hat. Die außerhalb
des offiziellen Wissenschaftsbetriebs in großem Maßstab objektiv
herausgebildete Intelligenz, selber bereits unmittelbar Teil der flexibilisierten
Lohnarbeit, folgt noch weitgehend der inhaltlichen Beliebigkeit der zerfallenden
spätfordistischen "Wende"-Kultur oder sie verarbeitet ihr eigenes Dasein
negativ in quasi-existentialistischen Ideologien und in offener Theorie- und
Wissenschaftsfeindlichkeit (so etwa in Gestalt der Autonomen). Der
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ideell impotente akademische Linkssozialismus als integraler Bestandteil des
bürgerlichen Wissenschaftsbetriebs hat so innerhalb der Linken, von wenigen
und großenteils regressiven Theorieansätzen der Autonomen ("Autonomia")
oder des auf kleine Reste zusammengeschmolzenen linken Flügels der Kritischen
Theorie (z.B. ISF Freiburg) abgesehen, bis heute ein faktisches THEORIEMONOPOL
behalten, ohne auch nur den Funken einer sozialistischen Perspektive, einer
revolutionären "Sinngebung" hervorbringen zu können. Trotz ihres hohlen
und staatsbürgerlichen Reformismus können die Linkssozialisten des
universitären Milieus auf Kongressen und in zahlreichen anderen Zusammenhängen
immer noch als die einzige "theoretische Instanz" auftreten, weil die vom Praxis-Fetisch
ideell hoffnungslos zersetzte und heruntergekommene scheinradikale Linke ihnen
theoretisch nichts entgegenzusetzen hat. Mit dem akademischen Apparat, staatlichen
Geldern und Hilfsmitteln als Logistik und gesettlet in akademischen Positionen,
die einst nicht zuletzt mit Hilfe der 68-er Bewegung erworben wurden, bildet
dieser akademische linkssozialdemokratische Reformismus so eine eigene abgeschottete
Szene, die sich über ein ebenfalls von der früheren Bewegung ererbtes
Verlags- und Publikationswesen (VSA, Argument, Prokla, Rotbuch usw.) gegenseitig
aufeinander und nach außen auf die Bewegungen bezieht: ein veritables
ideologisches Schmiermittel der linken Neo-Staatsbürgerlichkeit. Denn in
nichts sind sich diese Portiers und Verwalter der marxistischen Ruinen einer
vergehenden Epoche so einig wie darin, daß die Zeit der Revolutionen endgültig
und glücklicherweise vorbei sei und die Linke sich immer schon positiv
auf die bloß immanente "Beeinflussung" der Verlaufsformen des Wertverhältnisses
und seiner Krise beziehen müsse.
Die Aufgabenstellung, die sich für uns aus dieser Situation ergibt und
die analytisch bestätigt wird durch die Bestimmung des Vermittlungsprozesses
der Marxschen Theorie mit der alten Arbeiterbewegung im letzten Jahrhundert,
ist klar: dieses Theoriemonopol des universitären Linkssozialdemokratismus
muß gebrochen werden. Nötig ist heute für die radikale Linke
nicht eine quasi-existentialistische, pseudo-radikale und militärisch blödsinnige
Militanz auf der Straße im hoffnungslos isolierten Räuber- und Schander-Spiel
mit der Polizei, nötig ist ebensowenig ein pseudo-taktisches praktizistisches
Herumfuhrwerken in den Bewegungen oder gar bei den Grünen, erst recht nicht
das unverdrossene Anstimmen einer schauerlich platten agitatorischen Litanei.
Nötig ist vielmehr als nächstes zentrales Kettenglied der intellektuelle
Vergeltungsschlag gegen die theologischen Strickstrümpfe des grünsozialdemokratischen
Neo-Reformismus und ihre linksakademischen Hiwis, die revolutionären Positionen
gegenüber heute herablassend abwinken zu können sich einbilden.
Die radikale Linke muß selbst wieder zur entscheidenden theoretischen
Instanz außerhalb des offiziellen Wissenschaftsbetriebs und gegen diesen
werden, indem sie sich die revolutionäre Theorie völlig neu und gegen
ihren historischen Strich gebürstet erarbeitet als radikale und erstmals
offene Kritik der Wert-GeldVergesellschaftung selbst. Diese Kritik muß
offenbar durch eine scharfe Polemik gegen den fetischistischen Neo-Reformismus
der Negt, Hirsch,
75
----
Altvater u. Co. hindurch, um zu einer positiven Aufarbeitung der heutigen Stufe
kapitalistischer Welt-Vergesellschaftung und deren Krise zu gelangen. Wir müssen
uns eigene Institutionen und logistische Hilfsmittel der Erarbeitung und Verbreitung
revolutionärer Theorie schaffen; nicht als eine neue pseudo-zentralistische
Sekte, sondern als eine "vernetzte" theoretische Bewegung von Arbeitsgruppen,
Diskussions- und theoretischen Qualifikations-Zirkeln, Verlagen, kulturellen
Institutionen usw., die sich über Zeitschriften, Kongresse etc. aufeinander
beziehen und ein neues, theoretisch fundiertes revolutionäres Bewußtsein
hervorbringen, das sich mit den breiteren Bewegungen und dem sozialen Dasein
der flexibilisierten Lohnarbeit vermitteln kann. Der ererbte bürgerliche,
positivistische Praxis-Fetisch kann nur aufgebrochen werden, wenn die Erarbeitung
und Verbreitung revolutionärer Theorie selber als GESELLSCHAFTLICHE PRAXIS
begriffen wird und wenn die dafür nötigen Formen und Institutionen
praktisch hervorgebracht werden. Die Organisierung revolutionärer Theoriebildungsprozesse
und damit verbundener Qualifikation ist selber eine praktische Aufgabe, in der
Entfaltung einer revolutionär-theoretischen Debatte außerhalb des
offiziellen Wissenschaftsbetriebs steckt heute mehr praktische Sprengkraft als
in Tonnen von Flugblättern oder Jahren politizistischer Rödelei, die
eher dem Gang des Esels in der Tretmühle gleicht.
Die Organisierung eines revolutionären Theoriebildungsprozesses kann natürlich
nicht auf die Mitarbeit von akademischer Intelligenz verzichten; nicht nur von
Studenten, Absolventen, Abgebrochenen usw., sondern auch von akademischen Funktionsträgern.
Es geht ja nicht gegen "die" akademische Intelligenz als solche, sondern gegen
den bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb und dessen linksreformistische Bestandteile.
Daß sich behäbig gewordene altlinke Familienväter durch einigermaßen
üppige ägyptische Fleischtöpfe von Stiftungsgeldern, gewerkschaftlichen
und anderen Honoraren, Assistenten- und Ordinariensesseln usw. letztlich bestechen
lassen, verstehen wir ja. Wer aber ist erbärmlich genug, sich von ABM's,
Viertelstellen mit SozialhilfeGehalt und hoffnungslosen Träumen von einer
"beruflichen" Zukunft im Bauch des offiziellen Wissenschafts-Wals bestechen
zu lassen? Die linke Intelligenz möge uns diesen kleinen Ausflug in den
Vulgärmaterialismus verzeihen, aber gerade die vulgärsten Interessen
dürfen in ihrer motivationsbildenden Kraft nicht unterschätzt werden.
Wir fragen also: was habt ihr noch zu verlieren, welche Illusionen macht ihr
euch noch? Warum rafft ihr euch nicht zu einer radikalen Abgrenzung und Kampfansage
gegen das haltlose und lächerliche grün-sozialdemokratische Gestammel
auf? Drängt es euch wirklich alle in die Programmkommission der SPD oder
in das Bundestagsbüro der Grünen? Habt ihr denn alle darin Platz?
Erst wenn die radikale Intelligenz auf der heute erreichten Höhe kapitalistischer
Vergesellschaftung und Krise sich ihrer theoretischen Aufgaben wieder bewußt
wird, erst wenn sie die Sinnlosigkeit einsieht, mit dieser zerstörerischen
Gesellschaftsordnung ihr Auskommen finden und in diesen Formen zurechtkommen
zu wollen, erst wenn sie es wagt, die Marxsche Theorie in völlig neuer
Weise revolutionär zuzuspitzen, können auch jene Sätze aus dem
letz-
76
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ten Abschnitt des "Kommunistischen Manifests" ohne die falsche pathetische Patina
einer endlich wirklich vergangenen Vergangenheit wieder gesellschaftliche Kraft
gewinnen: "Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten
zu verheimlichen. Sie erklären es offen, daß ihre Zwecke nur erreicht
werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung.
Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern.
Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben
eine Welt zu gewinnen".
77 [leer]
78
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Nachwort
I.
Die bisherigen Diskussionen unseres Textes lassen es noch vor seiner Veröffentlichung
geraten erscheinen, einige Nachbemerkungen zu machen; einmal, um einige Mißverständnisse
über Inhalt und Zielsetzung auszuräumen, zum andern aber, um eine
"öffnende" Auseinandersetzung für die nähere Zukunft zu ermutigen
und den Text nicht als glatte Wand von Schein-Abgeschlossenheit für den
Leser dastehen zu lassen. Trotz gegenteiliger Aussagen schon im Vorwort scheint
sich dieses Gefühl aber doch teilweise aufgedrängt zu haben, wie wir
einigen Reaktionen entnehmen mußten.
So mag die apodiktische Kürze und Zugespitztheit, wie sie dem Genre eines
Manifests entspricht, vielleicht bei manchen Lesern den unangenehmen Eindruck
entstehen lassen, wir verhielten uns wie Leute, denen ein vermeintlich neues
Wissen wie eine "Eingebung" vom Himmel gefallen ist und die von einem Standpunkt
aus ihre Botschaft verkünden, von dem sie gar nicht sagen, wie sie ihn
eigentlich erreicht haben. Da es nicht möglich ist, die theoretischen Trittspuren
in einem Manifest ausreichend aufzuzeigen, soll dazu wenigstens hier etwas gesagt
werden. Das erkenntnisleitende Motiv war anfangs für uns inhaltlich ein
sehr abstraktes, geschuldet einem Unbehagen über die Situation der Linken
etwa Ende der 70er Jahre: wir wollten weder dem "neuen" und erkennbar erbärmlich
neo-reformistischen Praxis-Strom der Grün-Alternativen als Lemminge folgen
wie so viele allzu kurzatmige Ex-Revolutionäre der neuen Linken, noch andererseits
"in Treue fest" an einem offensichtlich in vielen Fragen überlebten und
versteinerten Marxismus-Verständnis dogmatisch und sektiererisch festhalten.
Gefragt war also eine "Aufarbeitung". Daß und inwiefern das Ernstnehmen
einer solchen Aufgabenstellung bedeutet, den aus der "Bewegung" ererbten Hang
und Drang zu unmittelbarer Praxis und Machbarkeit ZURÜCKZUNEHMEN, statt
das Problem sofort wieder in "politischer Praxis" zu ersäufen, ist im Manifest
als polemische Kritik des "Praxis"-Fetischismus der Linken deutlich genug dargestellt.
Das Ernstnehmen der Theorie OHNE Rücksicht auf jede wie immer geartete
"politische" Machbarkeit und OHNE sofortige hechelnde Einklinkungs-Versuche
in die BewegungsKonjunkturen trug uns den Haß der Praktizisten und "Politik"-Fetischisten
aller Schattierungen ein, soweit sie mit unserem Bemühen konfrontiert wurden.
Das Resultat war eine tiefe Entfremdung und ein Entkoppelungsprozeß von
der linken Oppositionsbewegung überhaupt und ihrer gesamten Vorstellungswelt,
deren Geschöpfe wir doch andererseits auch selber waren.
Es kann und soll zugestanden werden, daß wir einen theoretischen Anknüpfungspunkt
allein in der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule fanden, und zwar gerade
in einem von der neuen Linken nicht ohne Grund beiseitegelegten Moment, nämlich
in der expliziten Kritik des positivistischen instrumentellen Denkens. Dieses
instrumentelle Denken richtet sein Augenmerk "unmittelbar" auf das Erreichen
von Zielen und Zwecken bzw. das "Vertre-
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ten von Interessen", OHNE daß die gesellschaftliche Konstituiertheit dieser
Ziele, Zwecke und Interessen selber in das Blickfeld gerät oder gar Gegenstand
wissenschaftlicher Kritik wird. Dieses Denken, soweit es sich als links oder
gar "radikal" versteht, realisiert überhaupt nicht, daß es sich a
priori schon in bürgerlicher Immanenz bewegt und seine Ziele und Interessen
nur in bürgerlichen Kategorien ausdrückt statt in deren Kritik. Wir
bemerkten, daß die Linke einschließlich der linkssozialistischen
akademischen Strömungen dieses von Horkheimer und Adorno kritisierte instrumentell
verkürzte Theorieverständnis des bürgerlichen Denkens via eine
falsche Interpretation der Marxschen Feuerbachthesen (die als kategorischer
Imperativ des Praktizismus und "Politizismus" mißverstanden werden) selber
reproduzierte, mithin jener gewohnte und geläufige kategorische Imperativ
"politischer Praxis" in dieser instrumentellen Form BÜRGERLICH war und
den Keim reformistischer Verflachung von Anfang an in sich trug. Gerade von
einem revolutionären Standpunkt aus gewannen so die kritische Zurückhaltungvon
Adorno, Alfred Schmidt und selbst Habermas gegen die abstrakte "Praxis"-Emphase
der Studentenbewegung, ungeachtet der zweifellos vorhandenen bürgerlich-professoralen
Attitüden, im Nachhinein ein größeres Maß von Berechtigung.
Die von der Kritischen Theorie hervorgebrachte Kritik des bürgerlichen
Instrumentalismus erschien uns jedoch teils als merkwürdig inhaltslos,
teils als mit eklektischen Inhalten verknüpft (besonders bei Habermas).
Bei näherer Betrachtung stellte sich sogar heraus, daß die Kritische
Theorie (vor allem in der "Dialektik der Aufklärung") den gesellschaftlichen
Bedingungsgrund des instrumentellen Denkens verwechselt und gleichsetzt mit
der menschlichen NATURBEZIEHUNG. Gerade in der Naturbeziehung aber ist ein "instrumentelles"
Denken und Vorgehen nicht nur unvermeidlich, sondern auch alles andere als negativ.
Das Problem besteht ja gerade in der gesellschaftlichen Präformierung der
Ziele und Zwecke, denen die Naturbeziehung unterworfen wird und die nicht aus
dieser Naturbeziehung selber zu erklären sind. Indem die Kritische Theorie
aber dieser Verkehrung erliegt (begründet nicht zuletzt in ihrer Anlehnung
an Freud und dessen ideologische Zurückführung gesellschaftlicher
Phänomene auf eine ontologische Trieb-Natur des Menschen), verfehlt sie
auch den wirklichen gesellschaftlichen Inhalt des positivistischen Instrumentalismus.
Diese Kritik führte uns schließlich zum entscheidenden, von allen
früheren Interpretationen der Marxschen Theorie inclusive der "kritischen"
Marxismen nicht oder jedenfalls bei weitem nicht ausreichend reflektierten Kernpunkt:
zur radikalen Kritik von Wert und Geld, d.h. zur expliziten und nachdrücklichen
Kritik der WARENPRODUKTION ÜBERHAUPT in der Stufenfolge ALLER ihrer Erscheinungen.
In diesem Punkt aber versagte offensichtlich auch die Kritische Theorie. Wenn
sie in unserem Manifest-Text vor allem unter diesem Gesichtspunkt negativ in
den Gesamtkomplex der "alten", traditionellen Theorie-Strömungen eingeordnet
und kritisiert wird, so soll doch wenigstens hier ausdrücklich darauf hingewiesen
werden, daß ihre Kritik des positivistischen Instrumentalismus (und damit
auch des "Praxis"-Fetischs nicht nur der neuen Linken, sondern auch der alten
Arbeiterbewegung und des auf
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diese bezogenen traditionellen "Machbarkeits"-Marxismus innerhalb der Warenform)
für uns trotz ihrer Mängel ein wichtiger Erkenntnisschritt war und
die Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie zweifellos insofern einen
Ansatz bot, um aus dem bürgerlich immanenten traditionellen Marxismus überhaupt
heraustreten zu können. Es galt jedoch, über die Kritische Theorie
hinaus die Kritik des verkürzenden instrumentellen Denkens nicht bloß
als methodische zu führen oder fälschlich ihren Inhalt primär
in der Naturbeziehung zu suchen, sondern vielmehr den wirklichen gesellschaftlichen
Inhalt herauszuarbeiten, nämlich als Kritik der Warenproduktion überhaupt
von ihren Grundlagen her. Da die Kritische Theorie aber in dieser entscheidenden
Hinsicht die Verkürzungen des Wert-Begriffs der traditionellen Marxisten
vollauf teilte, mußte sie die Wertform als bloß sektorales Teilmoment
gesellschaftlicher Reproduktion mißverstehen, statt sie als Totalitätskategorie
durchhalten zu können; die neuen Erscheinungen kapitalistischer Vergesellschaftung
nach dem Zweiten Weltkrieg konnten dann nicht mehr adäquat begriffen und
schließlich nur noch eklektisch-"multikausal" deskripiert und interpretiert
werden wie etwa bei Habermas.
Für uns war damit ein theoretischer Ausgangspunkt gewonnen, der es erstmals
erlaubte, die gesamte alte Arbeiterbewegung und ALLE darauf bezogenen Marxismen,
die neue Linke seit 1968 eingeschlossen, als abgeschlossene und bewußt
theoretisch abzuschließende Epoche zu begreifen, OHNE deswegen die Marxsche
Theorie über Bord zu werfen bzw. zu vormarxistischen (und vorwissenschaftlichen)
Emanzipationsideen des 18. und 19. Jahrhunderts Zuflucht nehmen zu müssen.
Das vorliegende Manifest ist eine erste zusammenfassende Darstellung dieser
Gedanken, ohne daß damit wie gesagt irgendeine Abgeschlossenheit suggeriert
werden soll.
II.
Ein wenig böses Blut mag auch unsere Kritik der Autonomen machen, die im
Manifest unserer Auffassung nach keineswegs zu Unrecht polemisch als "halbe
Portion Nachschlag von 1968" tituliert werden. Freilich kann dazugesagt werden,
daß die Autonomen heute natürlich einen anderen sozialen Hintergrund
haben als die alte Jugend- und Studentenbewegung Ende der sechziger Jahre. Konnte
diese noch gewisse bildungsbürgerliche Züge des traditionellen Universitätslebens
und "höheren" Schulwesens nicht völlig verleugnen, so ist die vielzitierte
"Sprachlosigkeit" und Theorielosigkeit der neuen Militanz umgekehrt auch bereits
der spätfordistischen explosiven Ausdehnung und gleichzeitig Auspowerung
des gesamten Bildungswesens geschuldet, die sozialen Probleme einer kapitalistisch
vermassten Semi-Intelligenz eingeschlossen. Dieser veränderte soziale Hintergrund
hindert die Autonomen aber nicht daran, das Spektrum der Ideen von 1968 (die
damals schon ein bloßer Durchlauf sämtlicher historischer Varianten
des abgelebten traditionellen Marxismus, Anarchismus etc. waren) noch einmal
neu und noch einmal verflacht im kurzschlüssigen Praktizismus wiederzubeleben:
ein wenig Existentialismus, der schon 1968 veraltet war; ein Schuß Nietzsche
(unvermeidlich
81
----
für den galoppierenden Weltschmerz deutscher Jungfrauen und Jungmänner
sowie altdeutscher Tanten und französischer Neu-Philosophen), ein paar
Brocken Operaismus samt Toni Negri, das ganze gewürzt mit blumiger altanarchistischer
Moralsoße - ungenießbarer gehts nimmer. Also Entschuldigung: das
ist ungefähr so, wie wenn jemand einen steinalten, unter die Schulbank
geklebten Kaugummi wieder hervorpult und in den Mund steckt. Aber die Nierentische
werden ja auch wieder modern. Wir sehen leider keinen Grund, dem irren Wiederholungszwang
irgendein Zugeständnis zu machen.
Beleidigt mögen einige Autonome sein, weil sie doch inzwischen die Theorie
entdeckt haben. Dieser Impuls, wohl den Erfahrungen der letzten Jahre geschuldet,
ist sicherlich zu begrüßen. Mehr noch: in den Autonomen (bzw. vielleicht
aus den Autonomen hervorgehenden neuen Gruppen und Strömungen), SOWEIT
sie sich dem Problem theoretischer Aufarbeitung nähern, sehen wir durchaus
einen möglichen Ansprechpartner; gerade auch von den objektiven Grundlagen
gesellschaftlich "entkoppelter" Intelligenz her, wie sie im letzten Teil des
Manifests skizziert wird. Insofern soll unsere Polemik ja dazu dienen, daß
die auf diesem Weg befindlichen Autonomen die Schlacken der Vergangenheit und
bloßer Lebensform- und Kaputtheits-Ideologien schneller loswerden. Trotzdem
soll uns niemand unsere Skepsis verdenken. Allzu oft hat der manisch-depressive
Zyklus der linken PraxisFetischisten in seiner düsteren und zähneklappernden
Phase schon den Ruf nach "mehr Theorie" hervorgebracht und das weiße Fähnlein
der "Schulung" wurde gehißt, ohne daß dies nachhaltige Folgen gehabt
hätte. Es sollte den Autonomen zu denken geben, daß viele von ihnen
die großenteils verblichenen K-Gruppen bis vor kurzem noch als "zu theoretisch"
kritisiert und darin den Grund ihres Niedergangs gesehen hatten - ausgerechnet
die K-Sekten, die ödesten Buchhalter eines totgelaufenen Traditions-Marxismus
und die schlimmsten Politikaster und Praxis-Handwerkler, die jemals auf der
Weide der neuen Linken gegrast haben! Zu einer wirklichen Neu-Orientierung gehört
ein wenig mehr, als sich jetzt endlich notgedrungen zur Theorie überhaupt
zu bequemen; vor allem muß der Stellenwert der Theoriebildung selber bestimmt
und begriffen werden, daß die Vergangenheit nicht auszuschlachten, sondern
endlich zu überwinden ist. Die Theoriebildung ist ein eigenständiger
Kraftaufwand, kein bloßes Futter für den nächsten Praxis-Zyklus.
Es sind allerdings in diesem Zusammenhang einige häufig wiederkehrende
Mißverständnisse auszuräumen. Wir stellen nicht das absurde
Ansinnen, daß zugunsten der Theorie auf Formen negatorischer, revolutionärer
Praxis wie Agitation, Demonstrationen usw. etwa verzichtet werden soll. Gesellschaftliche
Oppositionsbewegungen können sich überhaupt nur in solchen Formen
ausdrücken und dürfen nicht mit theoretischen Strömungen verwechselt
oder unmittelbar gleichgesetzt werden. Freilich ist auch eine solche Bewegung
noch keineswegs identisch mit wirklichen gesellschaftlichen Widerstands- oder
gar Offensivhandlungen, also etwa Streik, Boykott oder militärische Aktionen.
Die Verballhornung und Inflationierung des "Widerstands"-Begriffs entspringt
der OHNMACHT der heutigen Bewegungen, die in kind-
82
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licher Manier gesellschaftlich vermittelte Kampfaktionen zu bloß SYMBOLISCHEN
ERSATZHANDLUNGEN heruntertransformiert haben und sich mit diesem Schwachsinn
zufrieden geben. Dies gilt aber nicht bloß für die Totstell-Übungen
christlicher Friedensfreunde oder die lächerlichen Pseudo-Blockaden moralisierender
Prominenz vor diversen NATO-Kasernentoren, sondern mindestens genauso für
die sogenannte Militanz der Autonomen, die wohl teilweise bis heute dazu neigen,
gewisse Indianerspiele mit der Polizei zu quasi-militärischen "Widerstands"-Handlungen
hochzustilisieren. Eine Oppositionsbewegung kann mit Formen wie Agitation und
Demonstration, Veranstaltungen usw. zunächst nur versuchen, eine "öffentliche
Meinung" in ihrem Sinne zu schaffen; der Übergang zu realen gesellschaftlichen
Kampf-, Widerstands- und Offensivaktionen hängt von der weiteren Entwicklung
und vom Gelingen der gesellschaftlichen "Vermittlung" ab. Wenn diese Vermittlung
nicht gelingt und die berühmten "Massen", die "arbeitende Bevölkerung",
die "Betroffenen" usw. sich scheinbar gegen ihre eigenen Interessen verhalten
und die Agitation, Demonstration usw. zum leeren Ritual wird, dann kann daraus
nur ein kurzschlüssiger Verzweiflungs-Existentialismus die Notwendigkeit
des Übergangs zur "Militanz" folgern. Viel eher wäre nach der Qualität
der Agitation selber zu fragen, nach den Inhalten, die vermittelt und nach den
gesellschaftlichen ZIELEN, die gewonnen werden sollen. Wenn sich herausstellt,
daß in dieser Hinsicht nichts existiert als eine Mischung aus blauäugigen
Forderungen des gesunden Menschenverstandes und programmatischen Brocken sozialistischer
Steinzeit, dann ist eben theoretische Aufarbeitung gefragt, um zu einem neuen
und weitergehenden Programm gesellschaftlicher Umwälzung auf der Höhe
der Zeit zu gelangen. Eine theoretische Kritik der Verhältnisse und ihrer
Geschichte ist aber nie und nimmer aus den bloßen "Kampferfahrungen" zu
gewinnen; dafür ist ein Verständnis der Theorie als einer eigenständigen
und nicht bloß "instrumentell" nachgeordneten "Kampffront" notwendig.
Wie sich aus der Vermittlung von Theorie und theoretischer Aufarbeitung, Oppositionsbewegungen
und der Krise der Lebensverhältnisse selber so etwas wie ein revolutionäres
gesellschaftliches "Lager" und wirkliche Kampfhandlungen ergeben, dafür
kann natürlich kein fertiges Rezept existieren. Wenn wir am Ende des Manifests
einige mögliche Formen THEORETISCHER PRAXIS aufgezählt haben, dann
gilt dies eben nur für diesen Sektor der Theorie selber und soll nicht
die ohnehin stattfindende Praxis der Oppositionsbewegungen generell und abstrakt
negieren.
Deswegen verlangen wir auch mitnichten, daß nun etwa jeder linke Oppositionelle
schlechthin zum "Theoretiker" werden soll. "Theoretiker" im strengen Sinne eines
"hauptseitig" in seiner persönlichen Praxis theoretisch Arbeitenden, also
eines theoretischen Publizisten, wird man sowieso nicht durch einen plötzlichen
Entschluß, sondern durch eine lange Geschichte hindurch, die auch viele
Formen von praktischer Betätigung einschließt (wie ja auch die theoretische
Praxis selber, z.B. das Publizieren, nicht ohne organisatorische und technische
Betätigungen auskommt). Daß die theoretische Aufarbeitung für
die Linke heute zum wichtigsten Kettenglied geworden ist, bedeutet vielmehr,
daß auch für diejenigen, die
83
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weiterhin rein numerisch in erster Linie praktisch-politisch tätig sind
(in Initiativen, Organisationen, Bewegungen etc.), die Fragen der Theorie und
des gesellschaftlichen Ziels zu den "brennendsten" geworden sind, auch wenn
sie nicht selber theoretische Schriftsteller werden. In den praktischen Bewegungen
selber ist eine DEBATTE über ein neues, weitergehendes sozialistisches
Ziel, über eine tiefergehende Gesellschaftskritik als bisher zu führen
und zu entfachen, um die gegenwärtige Paralyse zu überwinden. Dazu
gehört nicht nur das Ernstnehmen der Theorie überhaupt, sondern auch
das bewußte Lesen theoretischer Literatur und das WEITERVERMITTELN theoretischer
Einsichten, wozu oft andere Fähigkeiten erforderlich sind, als sie die
theoretischen Publizisten selber haben. In einem solchen PROZESS theoretischer
und programmatischer Debatte werden dann nicht nur Vermittlungen zwischen theoretischer
und politischer Praxis hergestellt, sondern es kann sich auch ein ganzes Spektrum
von Übergangsformen zwischen Theorie und politischer Praxis herausbilden,
von neuen Theoretikern und Publizisten, aber auch von Agitatoren, Propagandisten,
Organisatoren, Journalisten usw., die einen neuen Ansatz revolutionären
Bewußtseins nicht bloß verbreiten und gesellschaftlich verankern,
sondern auch auf vielen Ebenen selber mitentwickeln helfen. Dafür freilich
ist eine GEDULD nötig, wie sie der Unmittelbarkeits-Fetischismus der aktionistischen
und politikasternden Linken nicht aufbringen kann, der immer sofort machbare
Ergebnisse sehen und zu Hau-Ruck-Vermittlungen übergehen will. Wir können
nur hoffen, daß das jämmerliche Scheitern dieser Haltung den Boden
bereiten hilft für ein anderes Theorieverständnis.
Wenn wir also mit der "Zumutung Theorie" nicht die politische Praxis als solche
in Frage stellen wollen, so können wir umgekehrt auch verlangen, daß
die politischen Praktiker und Bewegungs-Aktivisten die gegenwärtige Spannung
zwischen Theorie und unmittelbarer gesellschaftlicher Praxis aushalten müssen.
Wir haben uns aus Einsicht in die Notwendigkeit "gegen den Strom" und "antizyklisch"
für die theoretische Arbeit entschieden; wenn jetzt so manchen Aktionisten
selber die Notwendigkeit theoretischer Aufarbeitung zu dämmern beginnt,
dann sollen sie uns aber auch nicht langweilen mit der moralisch-imperativen
Frage, ob wir denn auch gegen Wackersdorf demonstrieren würden - als ob
dies irgendetwas zu tun hätte mit dem Gewicht oder der Nichtigkeit theoretischer
Argumente! Wer sich überhaupt nur mit theoretischen Ansätzen beschäftigen
und auseinandersetzen will, deren Vertreter bzw. Publizisten er vorher zur unmittelbar
persönlichen Teilnahme an seinen Demos und sonstigen Aktionen verdonnert
hat, der hat weder von den Gesetzen der gesellschaftlichen Theoriebildung im
allgemeinen noch von der spezifischen gegenwärtigen Situation auch nur
das geringste verstanden. Wenn etwa eine Gruppe der alttrotzkistischen GIM (deren
opulente Mäusehochzeit mit der früher eispickelschwingenden KPD/ML
wenigstens zur Erheiterung der verdüsterten Restlinken beigetragen hat)
nicht mit uns in eine theoretische Debatte eintreten wollte, weil wir "von der
Praxis abgehoben" wären und "man uns nicht in Gewerkschaftsgremien sieht",
dann können wir nur betonen, daß wir unsererseits mit derart bor-
Robert Kurz. Manifest,
April/November 1988
[Vorbemerkung: Die Seitentrennung bezieht sich auf die Original-Ausgabe]
84
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nierten Hohlköpfen eines betulichen politischen Vorsichhinpfuschens ebenfalls
überhaupt nichts anfangen können. Wer nicht einmal durch Schaden klug
wird, dem ist in keinster Weise mehr zu helfen.
III.
Das quasi physikalische Trägheitsgesetz auch des Lebens und Denkens zeigt
sich unserem Ansatz gegenüber nicht nur in der Art des Theorieverständnisses,
sondern auch im Beharrungsvermögen der alten Inhalte. Schon die bisherigen
Diskussionen im Vorfeld der Veröffentlichung des Manifests haben uns gezeigt,
mit welch enormen Widerständen, Verdrängungen, Ab- und Ausgrenzungen,
Aggressionen und teilweise unglaublichen Verdrehungsversuchen wir zu rechnen
haben und mit welch irrationaler Verbissenheit und Starrheit des Denkens die
traditionellen Linken aller Schattierungen an ihren Verständnisrastern
und Glaubensgewohnheiten in geradezu altkatholischer Manier festhalten.
Mehrfach ist uns entgegengehalten worden, unsere Position sei doch keineswegs
etwas wirklich Neues, sondern auch früher schon sowohl in der alten wie
der neuen Linken auf die eine oder andere Weise (erfolglos) vertreten worden.
Natürlich wäre es lächerlich, aus Gründen quasi der "Selbstdarstellung"
(in dieser Hinsicht scheinen einige Leute von sich auf andere zu schließen)
einen formalen Streit um "Prioritäten" führen zu wollen. Es ist für
den Inhalt und seine Bedeutung ganz gleichgültig, ob wir nun die "ersten"
sind oder nicht; im Gegenteil wäre es sogar von Nutzen, einen Strang marxistischer
Debatte bereits für diese radikale Position reklamieren und darauf aufbauen
zu können. Ein solcher Strang existiert jedoch nicht, jedenfalls nicht
in der Art und Weise der Fragestellungen, auf die es uns vor allem ankommt.
Nicht, daß die Kritik der Warenproduktion und des Geldes in der linken
oder marxistischen Geschichte wie auch außerhalb davon überhaupt
nicht vorkommen oder nicht gelegentlich benannt würde, und sei es als bloßes
Spurenelement. Aber diese Benennung wird stets sofort wieder zurück- und
also nie wirklich ernst genommen, entweder durch ein eiliges Hinwegeskamotieren
des Problems in eine weit entfernte Zukunft (worin sich eben die objektive Begrenztheit
der alten Arbeiterbewegung spiegelt, die eine radikale Kritik der Warenform
als solcher wirklich auf eine nach ihr liegende Zukunft verschieben mußte),
oder durch eine vermeintliche Kritik der Warenproduktion mit selber warenlogischen
Kategorien, die nicht als solche erkannt werden.
Außerhalb des Marxismus findet sich so zwar eine "Kritik des Geldes" von
Proudhon über Silvio Gesell, die Anthroposophen, einige Varianten des faschistischen
Gedankenguts und die (sich positiv so bezeichnenden) amerikanischen "Technokraten"
der 30er Jahre bis hin zu Herrn Ghaddafi. Für alle diese außermarxistischen
Ansätze gilt, daß es sich bei näherem Hinsehen entweder überhaupt
bloß um "Geldreformen" und Geldpfuschereien handelt (insbesondere aus
einer kleinbürgerlichen Kritik des zinstragenden Kapitals heraus) oder
um eine oberflächliche, mit etatistischtechnokratischen Elite- und Planungs-Illusionen
verbundene
85
----
"Geldkritik", die niemals bis zu einer Analyse und Kritik der gesellschaftlichen
Realabstraktion von Ware und Wertform vorstößt. Weder die Propaganda
von "Tauschgerechtigkeit" noch elitäre und kriegs- oder zuteilungswirtschaftlich
inspirierte Regulierungsmodelle haben auch nur das geringste mit der Marxschen
Kritik der Warenform und des darin eingeschlossenen gesellschaftlichen Fetischismus
gemein.
Innerhalb des Marxismus beschränkt sich die direkte Kritik des Geldes,
verbunden mit praktischen Aufhebungsversuchen, auf den bolschewistischen Kriegskommunismus
und neuerdings das Pol-Pot-Regime in Kampuchea, dessen massenmörderische
Praktiken weltweit Entsetzen und Abscheu erregt haben. In beiden Fällen
handelte es sich natürlich nicht um die Sprengung der Warenform in hoch
vergesellschafteten Reproduktionsaggregaten, sondern um Bewältigungsversuche
extremer Notsituationen in "unterentwickelten" Gesellschaften mit großen
vorkapitalistischen Sektoren; die "Geldkritik" auf dieser Basis stellte bloß
eine ideologische Verhimmelung mehr oder weniger brutaler etatistischer Eingriffe
dar, die keine Kritik der Wertform selber und ihrer Stufenfolge von Fetischismen
zu leisten imstande war, insofern also den außermarxistischen Ansätzen
eng verwandt bleiben mußte. Auf den gegebenen gesellschaftlichen Grundlagen
konnten auch die radikalen bolschewistischen Theoretiker des "Kriegskommunismus"
(so u.a. Bucharin, der heute gerade umgekehrt als Theoretiker der NÖP rehabilitiert
wird) nicht über die Kategorie des "Austauschs" (was in irgendeiner Form
voneinander getrennte und also formal "unabhängige" Produzenten impliziert)
hinauskommen und daher das Geld nur äußerlich-funktionell und "organisatorisch"
kritisieren, ohne zum Begriff der Wertform und des Warenfetischs selber im Sinne
einer Aufhebung vorzustoßen. In der Folge wurde unter dem Diktat der nachholenden
Industrialisierung die Problemstellung völlig verdunkelt durch den von
uns ausführlich kritisierten ideologischen Begriff der "sozialistischen
Warenproduktion".
Ähnliches gilt für die westliche "Sozialisierungsdebatte" Ende des
19. Jahrhunderts und vor allem nach dem Ersten Weltkrieg. Nirgendwo wurde die
Kategorie des Werts selber auch nur in Ansätzen qualitativ transzendiert;
bestenfalls wurde unter "Aufhebung der Warenproduktion" eine weiterhin letztlich
wertförmige "Planwirtschaft" unter Beseitigung lediglich der äußeren
Regulationsmechanismen des "blinden" kapitalistischen Marktes verstanden, selbst
dort noch, wo ausnahmsweise auch im Westen direkt von einer "Abschaffung des
Geldes" gesprochen wurde (so etwa von dem sozialistischen Positivisten Otto
Neurath). Bezeichnenderweise waren es im Westen gerade nicht die vermeintlich
"orthodoxen" Marxisten, die so weit gingen; auch im Westen war der wirkliche
Ausgangspunkt solcher Forderungen nicht theoretisch als Konsequenz der Marxschen
Wertform- und Fetischismuskritik abgeleitet, sondern empirisch aus den Erfahrungen
der Kriegswirtschaft, vor allem des deutschen Reiches. Die im Kontext und Gefolge
dieser Debatten aufgestellte bürgerliche Behauptung einer "logischen Unmöglichkeit"
sozialistischer Reproduktion (Weber, v. Mises u.a.), deren blinde Prämisse
selbstverständlich die Wertform als gesellschaftliche Qualität immer
war, blieb
86
----
von sozialistisch-kommunistischer Seite entweder unbeantwortet oder die Replik
ging bewußtlos von derselben Prämisse aus (so etwa O. Lange). Soweit
also der historische Marxismus auf dem Boden der alten Arbeiterbewegung überhaupt
explizit Sozialismus und Warenproduktion für unvereinbar hielt, handelte
es sich letztlich immer bloß um Mißverständnisse oder (z.T.
grobe) Unklarheiten über den inneren Zusammenhang von abstrakter Arbeit,
Wert und Geld, in dem sich die Warenproduktion erst als gesellschaftliche Reproduktionsform
konstituiert und ihre destruktiv werdende historische Dynamik entfaltet. Indem
diese verkürzten Vorstellungen einer "Aufhebung der Warenproduktion" nicht
über den Gedanken einer "organisierten" Wertvergesellschaftung unter vermeintlicher
äußerer Beseitigung bestimmter als genuin kapitalistisch empfundener
Bestandteile der Warenform hinauskamen ("Privateigentum", "Profit", "Konkurrenz",
"freier Markt" als abgelöste und verdinglichte Teil-Kategorien) und damit
nicht über die Basis des Fetischismus, mußten sie notwendig historisch
verblassen. Die Marxsche Kritik von Wertform und Geld erschien so schließlich
bestenfalls noch als die nichtssagende bzw. sogar inhaltlich grundfalsche trotzkistische
Phrase vom angeblichen "Absterben" des Geldes in einer unbestimmbaren Zukunft
(so u.a. Rosdolsky), womit das theoretische und praktische Zentralproblem gnädig
zugedeckt und eingesargt wird. Von solchen hilflosen Phrasen abgesehen ist daher
weder im Osten noch im Westen bei irgendeiner traditionellen Linken heute noch
die Rede von einer "Aufhebung der Warenproduktion", wie wir im Manifest gezeigt
haben. Ein um diese Dimension erleichterter "Marxismus" ist es allerdings wert,
auf den Müll geworfen zu werden. Daß unser Ansatz also keineswegs
mit früheren (und in der Tat gescheiterten) Versuchen einer radikalen Kritik
von Ware und Geld identifiziert werden kann, sollte damit klargestellt sein.
Wer freilich den grundsätzlichen Unterschied in der Herangehensweise gar
nicht sehen will, für den dürfte auch dieser Nachtrag vergebne Liebesmüh
sein.
Ähnliches gilt auch für die neue Linke und ihre Geschichte. Nur flüchtig
wurde 1968 der Warenfetisch thematisiert, weit entfernt von theoretischer Konkretisierung
und Zuspitzung und eher kulturkritisch begründet ("Konsumzwang") als von
einer Kritik der politischen Ökonomie her. Entsprechend rasch verflüchtigte
sich diese Fragestellung in Varianten bürgerlicher Machbarkeits-Illusionen
innerhalb der Fetisch-Sphäre der "Politik". Eine gewisse Zuspitzung leisteten
zwar die hierzulande niemals einflußreichen französischen "Situationisten"
in der 68-er Bewegung, die direkt eine Kritik des Warenfetischs thematisierten,
jedoch vermischt mit dem bürgerlichen Unmittelbarkeits-Denken ihrer existentialistischen
Herkunft; indem sie so nicht über einen radikalisierten bürgerlich-abstrakten
Subjektbegriff hinauskamen, blieben auch die Situationisten unfähig, eine
aus der Kritik der politischen Ökonomie begründete konkrete Kritik
der Warenform zu entfalten und gesellschaftlich vermittlungsfähig zu machen.
Sicherlich wird es AUCH zu unseren Aufgaben gehören, Ansätze wie die
genannten und andere zu würdigen und alle bisherigen Anläufe zu einer
radikalen Kritik von Ware und Geld
87
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in der Theoriegeschichte aufzuspüren und kritisch zu verarbeiten. Schon
die bisherige Sichtung läßt aber den Schluß zu, daß weder
außerhalb noch innerhalb des bisherigen Marxismus explizit die Konsequenzen
der Kritik der politischen Ökonomie in ihrer vollen Tragweite begriffen
und ausgearbeitet worden sind. Auch das Marxsche Werk selbst, das als einziges
auf diese Konsequenzen hinführt, enthält noch Dunkelheiten und Unklarheiten
in dieser entscheidenden Hinsicht. Solche Feststellungen treffen wir nicht aus
unserer selbsternannten "Genialität" heraus, sondern vielmehr aus der Einsicht,
daß die bisherigen Interpretationen der Kritik der politischen Ökonomie
ihre Verkürzungen aus der Eingebundenheit in eine historische Situation
ziehen, in der die weltweite Entfaltung der Wertform als Kapitalverhältnis
ihren Entwicklungsspielraum noch nicht ausgeschöpft hatte, auch nicht hinsichtlich
dessen, was Marx als die "zivilisatorische Mission" des Kapitals bezeichnet
hat (Entwicklung der Produktivkräfte, Erweiterung der Bedürfnisse,
Herausbildung vernetzter gesellschaftlicher Infrastrukturen usw., die den "Austausch"
ad absurdum führen). Daß die historische Arbeiterbewegung in allen
ihren Varianten selber Bestandteil und Motor dieser vollen Entfaltung des Kapitalverhältnisses
war und gar nichts anderes sein konnte, gehört zu den zentralen Thesen
unseres Manifests. Erst heute beginnt dieses Verhältnis als Resultat seiner
eigenen Entwicklung an absolute Grenzen zu stoßen. Erst heute wird daher
auch jene radikale Kritik der WARENFORM ÜBERHAUPT in ihrer vollen Konsequenz
möglich und notwendig, die wir für unseren Ansatz in Anspruch nehmen.
IV.
Nicht besser ist das mehrfach aufgetretene Argument, unsere Thesen liefen auf
"ökonomischen Reduktionismus" hinaus bzw. wir würden uns einbilden,
mit der "fundamentalen Wertkritik" den "Stein der Weisen" gefunden zu haben.
Aus solchem Gerede spricht einzig und allein das tiefverwurzelte Zurückscheuen
vor einer radikalen Kritik der Grundlagen aller bestehenden Gesellschaft, aus
deren Form auch die gesamte Linke ihre eigene fetischistische "politische" Subjektivität
herleitet, ohne sich dessen bewußt zu sein. Das alte begriffslose Gefasel
des traditionellen Marxismus von einer sogenannten "relativen Selbständigkeit"
diverser "gesellschaftlicher Sphären" (Überbau, Politik, Kultur etc.)
gegenüber der "Ökonomie" entspringt einzig und allein einem selber
"ökonomistisch" verkürzten Verständnis der Wertform und verkennt,
daß allein schon die EXISTENZ dieser "Sphären" als getrennte und
gegeneinander "relativ selbständige" ein historisches PRODUKT der Entfaltung
der Wertform ist. Die heutigen Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens,
wie weit entfernt sie immer von der "Ökonomie" im kruden Sinne, d.h. von
der empirischen "Wirtschaft" auch sein mögen, sind von der dynamischen
Entfaltung der Wertform entweder überformt worden (z.B. die "Familie")
oder von ihr überhaupt erst hervorgebracht. Gerade die Sphäre der
"Politik" selbst, der beliebteste Tummelplatz linksbürgerlicher Subjektivität,
muß als vom Wert gesetzte Fetisch-Sphäre begriffen werden, die in
keinster Weise als solche transitorische Möglichkeiten
88
----
enthält (wie es sich der linkssozialistische Reformismus einbildet), sondern
vielmehr zusammen mit dem Kapitalverhältnis als dessen integraler Bestandteil
ABZUSCHAFFEN ist.
Solche Einsichten bedeuten nicht im mindesten, daß die empirischen Erscheinungen
sämtlicher gesellschaftlicher "Sphären" nun idealistisch aus der Wertform
unmittelbar "abzuleiten" wären (was eine völlige Verkennung dessen
beinhalten würde, was logische "Ableitung" überhaupt meint); vielmehr
muß die Empirie durchaus als solche untersucht werden, allerdings gerade,
um ANHAND der wirklichen empirischen Erscheinungen das Wirken der Wertform als
Totalitätsform der kapitalistischen Gesellschaft zu entwickeln und aufzuzeigen.
Eine Theorie, die sich unter heutigen Bedingungen beliebigen gesellschaftlichen
Gegenständen zuwendet, OHNE von der darin erscheinenden Wertform zu sprechen,
können wir nur als ignorant bezeichnen und nicht mehr ernst nehmen, d.h.
höchstens unter ideologiekritischen Aspekten behandeln. Es muß heute
festgestellt werden, daß die allzu glattzüngige Rede vom "ökonomischen
Reduktionismus" (so sehr dieser Vorwurf auch bestimmten verkürzten Anschauungen
im traditionellen Marxismus tatsächlich gemacht werden kann) zur billigen
Alibi-Formel für die "politische" Linke geworden ist, den Konsequenzen
der Kritik der politischen Ökonomie systematisch auszuweichen. Die linke
Durchschnittstheorie betet die Wertform bestenfalls abstrakt definitorisch herunter,
um gleich im nächsten Atemzug dieses weder begrifflich noch in seiner historischempirischen
Entfaltung durchdrungene Zentralproblem wieder soziologistisch zu relativieren,
praktisch fallenzulassen und sich mit der stumpfsinnigen Formel zu begnügen,
daß der Wert schließlich nicht "alles" sei: Subjekt "ja bitte",
systematische Kritik der Warenproduktion bis auf die Grundlagen "nein danke"
- die Grundformel des seinem Unwirklichwerden hinterherwinselnden bürgerlichen
Individuums. Diese heute fast schon abgefeimt gewordene Ignoranz gegenüber
der Wertform als Totalitätsform hat sich niedergeschlagen als Einordnung
der "linken" Theoriebildung in den Supermarkt des bürgerlichen akademischen
Denkens, das aus den empirischen "Sphären" und Erscheinungen der bürgerlichen
Gesellschaft ebensoviele "Wissenschaften" macht und ihren gesellschaftlichen
Grund in der Wertform auch nur wahrzunehmen unfähig ist. Und wenn sich
die linken Subjekt-Soziologisten auf den Kopf stellen: der Wert ist die negative,
zerstörerisch gewordene Totalitätsform dieser Gesellschaft, deren
Kritik die Voraussetzung aller Kritik und deren Erkenntnis die Voraussetzung
aller Erkenntnis ist. Darunter geht nichts.
Tatsächlich scheint es unseren bisherigen Gegnern und Kritikern auch nur
darum zu gehen, mit solchen und ähnlichen Argumenten unseren Ansatz schon
im Vorfeld einer Auseinandersetzung zu verwässern und zu relativieren,
um ihn gewaltsam in den Kosmos des altgewohnten "linken" Denkens irgendwie einordnen
zu können, mit dessen gewöhnlichem Theorie- und Politik-Verständnis
sie sich kompatibel halten wollen, um nicht aus dem wiederkäuend vor sich
hinvegetierenden Spektrum der "Linken" herauszufallen oder als "utopisch" bzw.
"theoretisch abgehoben" exkommuniziert zu werden; geradezu demagogisch (und
gleichzeitig selbstentlarvend) wird diese Haltung, wenn etwa geäußert
worden ist, unser theoreti-
89
----
scher Ansatz radikaler Kritik der "Warenform überhaupt" erinnere in seinen
Konsequenzen (nämlich u.a. Abschaffung des Geldes als historisch aktuelle
Losung) "an die mörderischen Praktiken eines Pol Pot" etc. In solchen Äußerungen
zeigt sich, wie tief verwurzelt die warenförmige bürgerliche Subjektivität
auch in der Linken ist, wie sehr diese Subjektivität als negative und abstrakte
an der Geldform hängt und sich an diese Form klammert, wie tief der Unwille
ist, sich wirklich auf die unvermeidlichen Konsequenzen der Marxschen Theorie
einzulassen. Wenn dann blindlings und wider besseres Wissen der Verweis ausgerechnet
auf Pol Pot hervorgestoßen wird, also auf die Tragödie einer terroristisch-etatistischen
Kommandowirtschaft unter dem Vorzeichen eines asketischen Anti-Intellektualismus
in der Bürgerkriegssituation eines unentwickelten Landes mit zerstörter
Infrastruktur - dann fällt es schwer, auf solche Anwürfe überhaupt
noch zu antworten. Dann können wir nur offen sagen: Wer eine "politische
Heimatlosigkeit" fürchtet, wer sich kompatibel halten möchte mit den
fetischistischen Illusionen der "demokratischen Linken", der hat in der Tat
nichts bei uns verloren und eine Diskussion ist überflüssig, wenn
sie bloß der Konservierung eigener Vorurteile dienen soll und der Zelebrierung
eines in der Schwebe gehaltenen "Unbehagens" gegenüber einer klar bestimmten
Position, auf die man sich nur nicht verbindlich einlassen will.
V.
Wenn wir unser Manifest und unsere theoretisch "aufarbeitende" Tätigkeit
überhaupt im Sinne eines Anfangs und einer "Öffnung" verstehen, so
also eben gerade hinsichtlich der von uns grundsätzlich neu aufgeworfenen
Fragestellung einer KONSEQUENTEN Kritik der Warenform durch alle gesellschaftlichen
Erscheinungen hindurch - und nicht etwa als Angebot eines "pluralen Marxismus"
(so das hilflos demokratistische Konstrukt von W.F. Haug und der "Argument"-Redaktion)
oder einer unverbindlichen theoretischen Beschäftigungstherapie für
Leute mit gehobenen Ansprüchen, erst recht nicht als Bereitstellung eines
Ruhekissens für einen Restbestand theoretischen Gewissens bei politischen
"Praxis"-Handwerklern, die ansonsten ungestört und ungerührt "so weitermachen"
wollen. "Öffnen" soll sich gerade eine Diskussion und Auseinandersetzung
um die von uns aufgeworfene "fundamentale Wertkritik" als radikale Kritik auch
der bisherigen Linken, was selbstverständlich auch ein Sich-Einlassen auf
diese Fragestellung verlangt. Wenn wir unsere Thesen und die theoretische Arbeit
in diesem Kontext als unabgeschlossen und einer kritischen Auseinandersetzung
bedürftig darstellen, so eben mit dem Ziel einer Überprüfung
und kritischen Weiterentwicklung dieses Ansatzes, nicht jedoch, um die Fauna
der Linken um eine weitere seltene Spezies zu bereichern. Mit anderen Worten:
wir wissen keineswegs sicher, ob alles "richtig" ist, was wir in der mühsamen
Gewinnung dieses neuen Ansatzes bis jetzt gleichsam provisorisch ausgearbeitet
haben; wir sind uns auch bewußt, daß das Hindurchgehen durch die
Empirie und Geschichte unter dem Leitstern dieses Ansatzes nicht von einer Handvoll
Leute geleistet
90
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werden kann, sondern vieler Kräfte bedarf. Es ist jedoch sinnlos, wenn
die Kritik und Auseinandersetzung bloß vom alten theoretischen Terrain
aus und unter dem Aspekt von dessen Verteidigung erfolgt. Wir erlauben uns,
einen Wechsel des Terrains selber zu fordern und kritische Mitarbeit auf diesem
neuen Terrain. Spott und Polemik sollen also nicht unsere eigene Arbeit sakrosankt
und jede denkbare Kritik im vorhinein mundtot machen, sondern nur eine Haltung
denunzieren, die ihre Kritik und ihr "Unbehagen" spazierenführt, ohne das
von uns zu erschließende theoretische Terrain überhaupt zu betreten.
Es ist tatsächlich erstaunlich, wie rasch selbst scheinbar gutwillige Leute
nach Kenntnisnahme unseres Ansatzes in groben Zügen und nach einem kurzen
Stutzen geneigt sind, hinsichtlich interessierender Themen von Politik und Theorie
zur gewohnten Tagesordnung und zu den gewohnten, von uns gerade als verkürzt
kritisierten "marxistischen" Standard-Argumentationen überzugehen. Offensichtlich
fällt es schwer, zu realisieren, daß die theoretische Untersuchung
und Kritik der warenförmigen Konstituiertheit ALLER gesellschaftlichen
Praxis und der darauf bezogenen Willensäußerungen und Willenshandlungen
auch der gewohnten, überlieferten marxistischen Begriffswelt und Politik
den Boden unter den Füßen wegzieht. Die Furcht vor dem freien Fall
scheint eine große Hemmschwelle zu sein und die Phantasie der Ignoranz
zu beflügeln. Unser Credo aber lautet: Wer von der Warenform nicht reden
will, soll auch zu allem anderen schweigen. In diesem und nur in diesem Sinne
verstehen wir unser Angebot einer "öffnenden" Diskussion und Auseinandersetzung.
In welche Richtung sich eine solche weitere Erarbeitung und Diskussion bewegen
könnte, zeigen einige andere, durchaus ernst zu nehmende Einwände.
Mit an erster Stelle wäre dabei die Überlegung zu nennen, daß
der Eifer in der Kritik der "Warenform überhaupt" nicht dazu verführen
soll, die kapitalistische Spezifik als hochentwickelte und potenzierte Warenform
außer Betracht zu lassen. Das Problem ist nur, daß beides nicht
gegeneinander ausgespielt werden kann. Es gehört zum Standard-Repertoire
des traditionellen Fetisch-Marxismus, die kapitalistische Spezifik der entwickelten
Warenform von der "einfachen" Warenform systematisch abzutrennen, um dann eben
zu jener von uns kritisierten verdinglichenden Verselbständigung "rein"
kapitalistischer Kategorien wie "Mehrwert" und "Profit" etc. zu gelangen. Der
DDR- und Sowjet-Revisionismus etwa entblödet sich nicht, die Existenz "einfacher
Warenproduktion" in den Nischen vorkapitalistischer, nicht-warenförmiger
Gesellschaften als ideologische Rechtfertigung für das logische Monstrum
einer "sozialistischen Warenproduktion" zu nehmen, nach dem Motto: "Nicht" die
Warenproduktion, "sondern" der Kapitalismus ist das Übel; "vor" dem Kapitalismus
hat es Warenproduktion gegeben, "also" kann es auch "nach" dem Kapitalismus
Warenproduktion geben. Diesen begriffslosen theoretischen Kurzschluß wollen
wir ja gerade als historisch bedingte Ideologie überwinden.
Dasselbe Problem kommt auch in der Frage zum Ausdruck, ob der Staat aus der
Warenform als solcher oder erst aus der Konkurrenz abzuleiten sei; die Fragestellung
entstammt der "Staatsableitungs-Debatte" der 70er Jahre, in der Teile der damaligen
akademischen
91
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Linken vielleicht am nähesten an eine radikale Kritik der Warenform herangekommen
sind, freilich nur, um im entscheidenden Moment wieder zurückzubiegen in
den traditionellen Marxismus. Tatsächlich ist es wohl zu wenig, wenn in
unserem Manifest bezüglich des Staates die Konkurrenz nur beiläufig
erwähnt wird als das "notwendige Gegensätzlich-Werden" der "Interessen"
in der entfalteten (also kapitalistischen) Warenform. Das Problem ist aber auch
in diesem Zusammenhang, ob die kapitalistische Form (hier die "Konkurrenz")
im erwähnten Sinne gegen die "Warenform überhaupt" ausgespielt wird
oder nicht. Wenn gesagt wird, daß die entfaltete Warenform die Konkurrenz
notwendig impliziert und der moderne Staat sich erst mit der kapitalistischen
Dynamisierung der Warenform und insofern zusammen mit der Konkurrenz herausbildet,
dann ist die Ableitung des Staates aus der Konkurrenz in diesem Sinne sicher
richtig; der Staat kann also nicht unmittelbar aus der "einfachen" Warenproduktion
(im "Kapital" ohnehin nur eine analytische Kategorie) abgeleitet werden. Falsch
wird dieser richtige Gedanke jedoch, wenn damit gleichzeitig die bereits kapitalistische
Kategorie der Konkurrenz gegenüber der "Warenform überhaupt" verselbständigt
oder der systematische Zusammenhang von Warenform und Konkurrenz in der weiteren
Argumentation nicht mehr ausreichend berücksichtigt wird. Dieser Fehler
ist schon angelegt, wenn in der Staatsableitung eine falsche Gegenüberstellung
in der Weise gemacht wird, daß der Staat "nicht" aus der Warenform als
solcher, "sondern" aus der Konkurrenz abzuleiten sei. Hier deutet sich schon
eine Tendenz an, die Grundkategorien der Warenform bloß noch für
die definitorische Herleitung der kapitalistischen Kategorien zu verwenden,
um sie dann in der weiteren Argumentation und Kritik "verschwinden" oder "verstummen"
zu lassen - exemplarisch bei der "Marxistischen Gruppe" (MG), die sich auch
in ihrer Behandlung der "Interessen"-Kategorie um das Problem von deren warenförmiger
(und also kapitalistischer) Konstituiertheit herumzumogeln versucht (vgl. dazu
die entsprechende kurze Passage im Manifest). Das Resultat solcher Verkürzungen
ist nicht bloß eine theoretische Verdunkelung des Kernproblems, sondern
immer gleichzeitig eine verkürzende Verschwommenheit in der "sozialistischen"
Zielsetzung und Programmatik (bei der MG eine ebenso vornehme wie alberne totale
Programmlosigkeit), die sich dann entweder direkt in warenförmigen Kategorien
darstellt, sozusagen als die vermeintliche Emanzipation des Arbeiter-"Interesses"
innerhalb dieser Form, oder diese entscheidende Frage offen und unbeantwortet
läßt. Bei der MG führt dieser fundamentale Fehler, nebenbei
bemerkt, auch zu einer grotesken Hilflosigkeit in der Einschätzung des
"Realsozialismus" und dessen Entwicklung, die nur noch mit blankem Idealismus
kommentiert werden kann.
Immerhin zeigen solche Erörterungen, daß und in welcher Hinsicht
auch unsere eigene Arbeit und unser eigener Diskussionsprozeß noch "offen"
und keineswegs abgeschlossen ist; "offen" eben für die weitere Konkretisierung
dieses Ansatzes. Dies gilt auch für eine ganze Reihe weiterer Fragestellungen,
so etwa die Faschismus-Theorie, den Feminismus, die "Dritte Welt" und die Entwicklung
der Sowjetunion etc. Wenn etwa im Manifest gesagt ist,
92
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daß das "Paradigma" der Oktoberrevolution und der daran mehr oder weniger
anschließenden "Dritte Welt"-Revolutionen erloschen ist, dann soll dies
natürlich nur für die historische Situation als Ganzes gelten; daß
es noch "Nachzügler" innerhalb des alten Horizonts geben kann und geben
wird (etwa in Afrika und vor allem Südamerika) ist damit keineswegs ausgeschlossen.
Wenn wir für einen fundamentalen Neuansatz revolutionärer Theorie
eintreten und die Epoche des alten Arbeiterbewegungs-Marxismus polemisch als
abzuschließende attackieren, so wollen wir damit nicht hinter eine Einsicht
aus dieser Epoche selber zurückfallen: "Aber eine große Weltperiode
stirbt niemals so schnell ab, wie ihre Erben zu hoffen pflegen und vielleicht
auch, um sie mit dem gehörigen Nachdruck berennen zu können, hoffen
müssen" (Franz Mehring). Was der alte Mehring hier noch abstrakt"geschichtsphilosophisch"
ausdrückt, kann heute wesentlich konkreter gefaßt werden: er weiß
insofern noch gar nicht, was er sagt, als die Epoche der alten Arbeiterbewegung
selber noch zu jener "großen Weltperiode" des Wertverhältnisses und
seiner Entfaltung gehört, die sich erst heute anschickt, mit dem "Absterben"
ernst zu machen. Daß es sich auch jetzt um den Beginn einer EPOCHE handelt,
und zwar einer Epoche gesellschaftlicher Katastrophen, die bereits konkret abzusehen
sind, scheint uns evident. Da sich in dieser erst nach dem zweiten Weltkrieg
herausgebildeten neuen Epoche die endlich erreichte kapitalistische Voll- oder
WeltmarktVergesellschaftung als identisch mit der Krise der Warenform überhaupt
herausstellt, muß unser "Berennen" des Kapitalverhältnisses nicht
nur ganz anders aussehen als jenes, das der alte Mehring im Auge hatte, sondern
gleichzeitig mindestens denselben langen Atem besitzen, den die alte Arbeiterbewegung
für die reine Herausarbeitung der Ware Arbeitskraft benötigte. Kurzfristige
und kurzatmige "Hoffnungen", wie sie vielleicht den Konjunkturen des "linken"
Politikastertums entsprechen, sind daher keineswegs angebracht, auch wenn (oder
gerade weil) krisenhafte Erschütterungen auf allen Ebenen bevorstehen,
auf die gegenwärtig weder die Massen noch die linken Theoretiker und "Politiker"
vorbereitet sind.
R.K., Juli 1988
93 [leer]
94 [ANHANG,leer]
95 [leer]
96
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INITIATIVE MARXISTISCHE KRITIK (IMK) - STATUT
1. Die IMK versteht sich
als Gesellschaft für die Erarbeitung und Verbreitung kommunistischer Theorie.
2. Die IMK geht davon aus,
daß die Marxsche Theorie von Grund auf neu erarbeitet und weiterentwickelt
werden muß. Traditioneller Marxismus und alte Arbeiterbewegung sind an
ihrem unwiderruflichen Ende angelangt. Eine neue Krisenepoche des Kapitalverhältnisses
auf höherer Stufe der Vergesellschaftung verlangt neue, über den bisherigen
Marxismus hinausgehende Antworten und Perspektiven. Die IMK sieht als notwendigen
Ausgangspunkt jeder weitergehenden Theoriebildung die fundamentale Kritik des
gesellschaftlichen Wertverhältnisses und damit der Warenproduktion überhaupt
an, wie sie der bisherige Marxismus nicht zu leisten imstande war. Von dieser
Position ausgehend müssen alle historisch herausgebildeten gesellschaftlichen
Formen des Fetischismus grundlegend kritisiert werden, um zu einem neuen Programm
der sozialistischen Aufhebung von Lohnarbeit, Staat und Familie zu gelangen.
3. Die IMK versteht sich
weder als Partei-Ersatz noch überhaupt als Konkurrenz zu politischen Organisationen.
Ihr Zweck liegt primär auf dem Gebiet der Theorie selbst, auch wenn diese
an sich selber "parteiisch" ist und somit politisch in einem umfassenderen Sinne.
4. Als theoretischen Bezugsrahmen
gibt die IMK ein Manifest heraus, das den Stand der erarbeiteten Theorie dokumentieren
soll. Dieses Manifest ist jedoch nicht in einem formalen oder bekenntnishaften
Sinne verbindlich für jedes Mitglied und bezogen auf jede einzelne darin
gemachte Aussage, sondern dient auch innerhalb der IMK für die individuelle
wie kollektive Arbeit als Programm der Theoriebildung selbst, an dem kritisch
weiterzuarbeiten ist.
5. Die IMK organisiert
für ihren Zweck Kurse, Veranstaltungen und Seminare, gibt einen internen
Rundbrief heraus und fungiert gleichzeitig als Träger-Organisation des
Verlags und der Zeitschrift "Marxistische Kritik".
6. Zeitschrift und Verlag
werden von der Redaktion organisiert, die sich allein durch ihre inhaltliche
Arbeit im Sinne der formulierten Zielsetzung ausweist.
7. Die IMK strebt ein System
von Arbeits- und Diskussionsgruppen auf überregionaler Ebene an. Die einzelnen
Gruppen und Personen arbeiten selbständig und selbstverantwortlich für
die selbstgewählte Zielsetzung, ohne an formale Einschränkungen gebunden
zu sein. Ihr Zu-
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sammenhang ergibt sich allein durch den bestimmten theoretischen Inhalt selber
und wird praktisch über Redaktion, Rundbrief, Zeitschrift und Veranstaltungen
hergestellt. Die einzelnen Mitglieder und Arbeitsgruppen unterstützen inhaltlich
und organisatorisch die zentrale Publikationstätigkeit, gleichzeitig entwickeln
sie selbständig und eigenverantwortlich Initiativen, um in die gesellschaftliche
Oppositionsbewegung perspektivisch hineinzuwirken.
8. Der Rundbrief ist das
Forum der internen Diskussion und Kritik; gleichzeitig dient er dem Austausch
von Informationen über laufende Projekte, Arbeitsergebnisse etc. Die Veröffentlichung
von Beiträgen im Rundbrief ist nicht an die IMKMitgliedschaft gebunden.
9. Für jedes Mitglied
ist ein monatlicher Beitrag von 10.- DM verbindlich, worin der kostenlose Bezug
von Rundbrief und Zeitschrift sowie die kostenlose Teilnahme an Seminaren eingeschlossen
ist. Darüberhinaus sind Einzelspenden und freiwillig erhöhte Förder-Beiträge
erwünscht.
10. Mindestens einmal jährlich
findet eine Vollversammlung der IMK statt, auf der Redaktion und Arbeitsgruppen
Bericht erstatten und Beschlüsse über die weitere Arbeit und die Verantwortlichkeiten
gefaßt werden.
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Die INITIATIVE MARXISTISCHE KRITIK (IMK) versteht sich als Diskussionszusammenhang
und ist daher jederzeit für Kritik, Anregungen etc. offen. Wer die laufende
Diskussion kontinuierlich verfolgen bzw. sich an ihr beteiligen möchte
hat dazu folgende Möglichkeiten:
- Abonnement der "Marxistischen Kritik" (Die Rechnungsstellung erfolgt mit jeder
Nummer, eine Kündigung des Abonnenments ist jederzeit möglich).
- Abonnement des internen RUNDBRIEFES DER IMK. Der Rundbrief ist Forum für
interne Diskussion und Kritik und dient dem Austausch von Informationen über
laufende Projekte, Arbeitskreise etc.. Er erscheint ca. vierteljährlich
und kann von jedem/r Interessierten für jeweils 10,- DM bezogen
werden.
- MITGLIEDSCHAFT IN DER IMK. Wenn auch eine inhaltliche Mitarbeit in unserem
Zusammenhang nicht an das formale Kriterium der Mitgliedschaft gebunden ist,
drückt diese doch eine verbindlichere Unterstützung unserer Position
aus. Der monatliche Mitgliedsbeitrag von 10,- DM (bei Möglichkeit
auch mehr) schließt den Bezug von Rundbrief und "MKK" ein.
Selbstverständlich
stehen unsere Seminare und Arbeitskreise grundsätzlich jedem/r Interessierten
offen. Gleiches gilt für die Veröffentlichung von Beiträgen im
internen Rundbrief, sofern sich diese auf die laufende Diskussion beziehen,
bzw. zu relevanten Themen Stellung nehmen.
Darüberhinaus sind wir auch auf handfeste Unterstüzung angewiesen,
sowohl in Form von Spenden, als auch beim Verkauf der Publikationen über
die Betreuung von Buchläden, Organisierung von Büchertischen etc.