Krise und Kritik der Warengesellschaft |
Liebe Leute, nachdem vor gut 8 Monaten der seit Jahren schwelende krisisinterne Konflikt eskaliert und die alte Krisis-Gruppe durch einen machiavellistisch inszenierten Handstreich seitens einer Minderheit in der alten Krisis-Redaktion aufgelöst worden war, gab es nicht wenige Stimmen, die von einer Schwächung des wertabspaltungskritischen Projekts insgesamt sprachen. Heute kann davon keine Rede mehr sein. Dieser eMail-Rundbrief erreicht mittlerweile 275 EmpfängerInnen; im Oktober konnten wir zum ersten Mal (deutlich!) über 8000 Zugriffe auf die EXIT!-Homepage innerhalb eines Monats registrieren, und in wenigen Tagen wird die Gesamtanzahl der Zugriffe auf über 50.000 steigen. Darüber hinaus kann mit Fug und Recht konstatiert werden, daß die alte Krisis in ihrem Nachfolgeprojekt EXIT! eine qualitative Steigerung erfährt, die sich insbesondere in einer Erweiterung des Horizonts zeigt - nicht zuletzt durch das Hinzutreten neuer AutorInnen. Die Hälfte der Auflage der ersten Ausgabe von EXIT! ist mittlerweile verkauft - und heute präsentieren wir euch die Vorankündigung für Heft 2, das im Februar 2005 erscheinen wird. Der eine oder andere kürzere Text mag noch hinzukommen, aber im Wesentlichen könnt ihr mit dem in der diesem Rundbrief angehängten Datei vorgestellten Inhalt rechnen. Herzliche
Grüße Ankündigung von EXIT! Heft 2EXIT! Krise und Kritik der WarengesellschaftHeft 2 erscheint im Februar 2005Das Projekt EXIT! Krise und Kritik der Warengesellschaft nimmt Fahrt auf. Die große Resonanz, die das erste, im August 2004 erschienene Heft der neuen Theoriezeitschrift im Horlemann Verlag erfahren hat, beschränkt sich nicht nur auf die RezipientInnen, sondern betrifft auch „neue“ Autorinnen und Autoren, die sich bei uns zu Wort melden. Es zeigt sich, dass es möglich ist, den Kreis der aktiv Beteiligten zu erweitern, ohne theoretisch zu verflachen und dem verbreiteten Bewegungspopulismus anheim zu fallen. Inhalt von Heft 2
Jörg Ulrich
Petra Haarmann
Frank Rentschler
Roswitha Scholz
Carsten Weber
Robert Kurz
Jörg Ulrich
Udo Winkel
Udo Winkel InhaltsangabeMit dem Text Gott in Gesellschaft der Gesellschaft führt Jörg Ulrich eine von Walter Benjamin bereits im Jahre 1921 aufgeworfene und lange Zeit in Vergessenheit geratene Fragestellung in die wertkritische Diskussion ein. Der Artikel beschäftigt sich mit den geschichtlichen Wandlungen des Gottesbegriffs von der Antike bis zur Gegenwart. Theoretisch wird dabei im Anschluss an Benjamins Fragment "Kapitalismus als Religion" die moderne Vereinigung von Immanenz und Transzendenz im "automatischen Subjekt" der Kapitalbewegung aufgezeigt und begründet, warum mit dem sich verwertenden Wert ein Gott seine Herrschaft antritt, der sich real durch die Welt bewegt und als Negation und Selbstbehauptung seiner selbst im Vollzug ein und derselben Bewegung die "ontologische Differenz" der vormodernen Metaphysik auf die Spitze treibt, indem er als "Sein" (Wert) das Seiende (die reale Welt) fortschreitend seinem Begriff gleich macht und es damit in den Abgrund der Leere seiner abstrakten Bestimmungslosigkeit zerrt. Die Kritik der politischen Ökonomie muss daher heute dringender denn je immer auch als Metaphysik- bzw. Religionskritik formuliert werden, um zu zeigen, dass die moderne Gesellschaft in der Form ihrer ureigenen Bewegungslogik einen Gott im wahrsten Sinne des Wortes produziert, der in seinem Gang durch die Welt eine gewaltige Destruktivkraft entfaltet und im Gegensatz zu einigen seiner historischen Vorgänger keine Gnade mehr kennt, sondern die einst versprochene Erlösung in einem beispiellosen Vernichtungsfeldzug in ihr Gegenteil verkehrt. Petra Haarmann eröffnet den Themenschwerpunkt dieses Heftes: KRISENVERARBEITUNG UND KRISENIDEOLOGIEN mit dem Text Das Bürgerrecht auf Folter. Dabei handelt es sich keineswegs um eine bloß provokative Überspitzung der mittlerweile Alltag gewordenen Meldungen über Folterungen auch in solchen Militärgefängnissen und Lagern, die durch westlich-demokratische Regierungen betrieben und kontrolliert werden. Vielmehr geht es in dem Artikel um einen juristischen Meinungsstreit, der bereits seit 1992 mit allem professoralen Ernst an deutschen Universitäten bis in die Staatsexamina hinein geführt wird. Zentrale Begriffe sind dabei die "Würde des Menschen", das Gefahrenabwehrgebot des Polizei- und Ordnungsrechts sowie die Kantsche Vernunft in der Ausprägung des "jus necessitatis" (Zwang ohne Recht). Die Autorin zeichnet zunächst die Anwendung von Marter und Folter seit dem frühen Mittelalter in Westeuropa historisch nach und kontextualisiert diese mit dem jeweils geltenden Verständnis von Vernunft und menschlicher Erkenntnismöglichkeit, welche bis zur Bruchlinie der Moderne ohne prinzipielle Erkennbarkeit des "Göttlichen" nicht vorstellbar waren. Erst die nominalistische Vernunft, die sich im Spätmittelalter in der Krise von der bis dato alleingültigen Wahrheit der Erkennbarkeit des Transzendenten verabschiedete, solcherlei Unterfangen sogar als teuflische Magie brandmarkte und doch selbst zutiefst magisch blieb und bleibt, insofern sie den Verzicht auf "Magie" als magisches Mittel zur Erreichung von Erlösung und Transzendenz ausruft, konnte jene leere Form hervorbringen, die heute, sei es als abstrakt-allgemeines Individuum, sei es als abstrakte Allgemeinheit, das im Göttlichen nicht länger eingeschlossene Chaos (vulgo "Böse") allerorten bekämpft. Die heute auch im westlichen Basislager der Vernunft (wieder?) alltägliche Folter ist also keineswegs ein Rückfall in frühmoderne strafrechtliche Erkenntnisverfahren, sondern steht in der Kontinuität einer Rationalität, die von magischer Angst getrieben das ihr einzig gesicherte Herrschaftsmittel schwingt: das Schwert. Hinter der Transformation der ehemaligen Wohlfahrtsstaaten in autoritäre Workfare-Regime, die die nicht in den Arbeitsmarkt Integrierten als rechtlose und jederzeit verfügbare Untertanen behandeln, steht die Vision einer Dienstbotengesellschaft. Frank Rentschler zeigt in seinem Beitrag Der aktivierende Staat als autoritärer Rettungsversuch, dass diese Vision keineswegs geschlechtsneutral ist, sondern vielmehr das westlich weiße männliche Subjekt retten will. Nachdem der kasinokapitalistische Traum einer Vermehrung von Geld ohne Arbeit ausgeträumt ist, richten sich die Hoffnungen auf einen High-Tech-Sektor, der mit einer Wiederbelebung längst überwunden geglaubter Vorstellungen von "Männlichkeit" einhergeht. Anhand einer Studie der englischen Soziologin Doreen Massey zeigt Rentschler, dass die neuen Männlichkeitsnormen kein bloßer Reflex auf die verschärften Konkurrenzanforderungen in der High-Tech-Branche sind, welche vielmehr affirmativ besetzt und als Möglichkeit zu Persönlichkeitsentfaltung gedeutet werden. Damit verbunden sind an Transzendenz orientierte Handlungsmuster und ein darauf bezogenes Subjekt, das sich über lokale soziale Zusammenhänge ebenso erhaben fühlt wie über körperliche Bedürfnisse oder einen nicht technisch-wissenschaftlich zu erschließenden Gegenstandsbezug. Der aktivierende Staat wird von Rentschler als eine Reaktionsform auf Störungen interpretiert, die daraus resultieren, dass Frauen zunehmend weniger bereit sind, die immanenten Voraussetzungen für die männlichen Handlungsmuster zu schaffen. Mit der Politologin Ingrid Kurz-Scherf begreift er den aktivierenden Staat als Konzept einer männerbündischen Vereinigung. Nach den Vorschlägen der Hartz-Kommission soll ein Heer von rechtlosen Dienstbotinnen auf den Arbeitsmarkt gedrängt werden, aus dem sich die in noch konkurrenzfähigen Unternehmen Beschäftigten bedienen können. Dies soll dazu führen, dass es nicht zu zeitlichen, motivationalen oder gar legitimatorischen Störungen des in den "Zukunftsbranchen" beschäftigten männlichen Subjekts kommt. Es stellt sich die Frage, welche Konsequenzen diese neue Entwicklung für die wertabpaltungskritische Theoriebildung haben muss. Anknüpfend an Überlegungen von Roswitha Scholz in EXIT! 1 weist Rentschler die Kritik von Kurz-Scherf als unzureichend aus. Dennoch bietet dieser Ansatz für ihn mehr Anknüpfungspunkte als Vieles, was derzeit unter dem Label "Wertkritik" firmiert und abschließend einer Kritik unterzogen wird. In dem Maße, in dem die Krise die Reproduktionsfähigkeit einer sich bisher in Sicherheit wähnenden „Mittelschicht“ auflöst, wird auch die Linke von den mit ihr anscheinend zwangsläufig verbundenen ideologischen Verarbeitungsmustern befallen. Roswitha Scholz weist in ihrem Text Der Mai ist gekommen nach, dass eine in die Jahre gekommene "Wertkritik" davon nicht ausgenommen ist. Mussten wertkritische Grundbegriffe Anfang der neunziger Jahre in der Linken erst mühsam implementiert werden, so stellt sich heute das Problem ihrer Banalisierung nicht nur durch eine verflachende Rezeption in diversen linken "Szenen", sondern auch durch regressive Tendenzen bei einem Teil des ehemaligen wertkritischen Zusammenhangs selbst. In diesen Kontexten, wie sie nicht allein von Rest-"Krisis" repräsentiert werden, sucht man nun im Rekurs auf die "Betroffenheit" und den "Alltag" weitgehend unkritisch und linkspopulistisch Anschluss an das breite Bewegungspublikum. Dabei besteht auch die Gefahr einer Vereinnahmung durch rechte und konservative Positionen, wenn gerade in der Situation der sich zuspitzenden Krise die Konstituiertheit bürgerlich-patriarchaler Konkurrenzsubjektivität vernachlässigt wird. Als Grundlage dieser Ideologiekritik an einer banalisierten Lesart wertkritischer Theorie selbst wird der allgemeine soziale Hintergrund aller einschlägigen Tendenzen benannt: nämlich die "Hausfrauisierung" (Claudia v. Werlhof) von Männern, auch in linken Theoriegruppen, im Medienbereich usw., und der "Absturz der Mittelklasse" (Barbara Ehrenreich). Eine reduktionistische "Arbeitskritik" und ein androzentrisch verkürzter Begriff von "sozialer Wirklichkeit" sollen etwa in dem Sammelband "Dead Men Working" den wertkritischen Fokus abgeben; Rassismus, Antisemitismus und Sexismus werden wieder zu Nebenwidersprüchen in neuem Gewand degradiert, statt ökonomische Disparitäten, Geschlechterverhältnis und die Konstruktion von "Rasse" in ihrer Verwobenheit zu begreifen, wie es die Kritik der Wert-Abspaltung für sich in Anspruch nimmt. In der Krise des Kasinokapitalismus wittert auch der erneut als Ideologieproduzent für die sozialen Bewegungen reüssierende akademische Traditionsmarxismus wieder Morgenluft. Am Beispiel des Haug-Schülers Alexander Gallas zeigt Carsten Weber in seiner Polemik Ein Problem positivistischer Eigenart, wie ein an bestimmten Universitäten fest verankerter altlinker Honoratiorenklüngel seine Günstlinge mit akademischen Graden versorgt, selbst wenn die dazu vorgelegten Schriften - hier eine Magisterarbeit unter dem Titel "Marx als Monist? Versuch einer Kritik der Wertkritik" - nicht einmal den grundlegendsten wissenschaftlichen Standards genügen. Unter dem Nimbus universitärer Weihen nehmen die solcherart geadelten Mediokren erheblichen Einfluss auf die in den verblichenen Kategorien des Klassenkampfdenkens erstarrten Bewegungen, wo diese sich der Weiterentwicklung gesellschaftskritischer Theorie notorisch verweigern und gleichzeitig den selbst verursachten Mangel unter lautem Jammern beklagen. An dieser Bruchstelle wächst zusammen, was zusammen gehört, denn der akademische Traditionsmarxismus war schon immer nur allzu gern bereit, noch der theorie- und intellektfeindlichsten Proletkultsekte sich als Dienstmagd anzubieten, um so mehr, als er selbst in seinen stets subjektivistischen Analysen nie die Ebene der Oberflächenerscheinungen der kapitalistischen Gesellschaft durchstoßen konnte. Der Autor weist in seiner Analyse nach, dass diese theoretische Insuffizienz in unauflösbaren Aporien mündet, die Gallas in seiner Abwehr der Wertkritik unter Zuhilfenahme eines ganzen Arsenals von rabulistischen und projektiven Verdrehungen zu verschleiern sucht. Das sich auf diese Weise enthüllende Schreckbild aus analytischem Unvermögen und jesuitischer Rabulistik gibt den Zustand des demokratischen akademischen Normalbetriebs nur allzu genau wieder und lässt den polemischen Ton, den Weber wählt, als den einzig angemessenen erscheinen, zumal Gallas den Eindruck erweckt, dass er sich an seiner eigenen hohlen Gelehrtheit berauscht. Im zweiten Teil der im ersten EXIT!-Heft begonnenen grundsätzlich Studie Die Substanz des Kapitals stellt Robert Kurz das Problem der Quantität der abstrakten Arbeit als Grundlage der Krisentheorie dar. Diese Untersuchung führt mit systematischer Begründung über den Ansatz von Moishe Postone hinaus. Der traditionelle Marxismus war aufgrund seiner Arbeitsontologie nicht in der Lage, die entscheidenden Elemente der Marxschen Krisentheorie aufzunehmen und weiterzuentwickeln. Wie die transhistorische Bestimmung der Arbeitsabstraktion deren spezifische Qualität als Substanz des Kapitals verfehlte, so verfehlt sie zwangsläufig den (bei Marx selber noch widersprüchlichen) Kern der Krisentheorie als "Entsubstantialisierung" des Kapitals; ein Prozess, der sich heute als absolute Schranke der globalen Verwertung erweist. Für die bürgerliche Theorie wie für den Traditionsmarxismus "darf" dem Kapital die (rentable) Arbeit nicht ausgehen - genau das ist jedoch faktisch der Fall. Es genügt allerdings nicht, diesen Tatbestand bloß phänomenologisch zu bestimmen, sondern es sind die theoretischen Grundlagen der "Entwertung des Werts" zu entwickeln. Dabei werden die Begriffe der "Arbeitsquanta", des absoluten und des relativen Mehrwerts, der organischen Zusammensetzung des Kapitals und des Verhältnisses von Profitrate und Mehrwertmasse neu untersucht. In der Auseinandersetzung mit namhaften linken Theoretikern wird nachgewiesen, dass der traditionelle Marxismus in entscheidenden Punkten seiner Krisentheorie ausgerechnet dem mikroökonomischen (partikular-betriebswirtschaftlichen) Standpunkt verhaftet bleibt. Der dritte und letzte Teil dieser umfangreichen Studie wird sich dann im nächsten EXIT!-Heft mit dem Verhältnis von subjektiver Wertlehre, "fiktivem Kapital" und postmodernen Theorien (Baudrillard, Derrida u.a.) befassen. Mit seinem Beitrag Die Theologie des automatischen Subjekts reagiert Jörg Ulrich auf den Text "Die Realität des automatischen Subjekts" von Christian Höner in EXIT! 1. Bei grundsätzlicher Zustimmung zu den Thesen Höners kritisiert er vor allem dessen starre Unterscheidung zwischen "reiner Metaphysik" und Realmetaphysik. Die zweite, so die Gegenthese, sei nichts anderes als eine Metamorphose der ersten. Die Anerkennung dieses Umstandes führe keineswegs zu einer Verkennung des Warenfetischismus, sondern im Gegenteil zum Erkennen des Kapitalismus als einer Immanenzreligion. Darüber hinaus geht es außerdem um die Frage des falschen Bewusstseins und die Behauptung, dieses reflektiere die realmetaphysische Objektivität von Gesellschaft nicht verkehrt, sondern gar nicht. Hier argumentiert der Verfasser gegen die ihm fatalistisch anmutende Position Höners, indem er die grundsätzliche Erkennbarkeit des fetischistischen Verkehrungsmechanismus begründet. Den Abschluss des Heftes bilden zwei kurze Texte von Udo Winkel. In seiner Glosse Weiterwursteln beleuchtet er anlässlich des 32. Soziologentages in München (Oktober 2004) die desolate aktuelle Situation der Soziologie als Moment und Ausdruck der Krise der bürgerlichen Gesellschaft. Weiterwursteln wie bisher (Systemtheorie), Mikrosoziologie, Zerfall und soziologischer Feuilletonismus bestimmen das Bild; neue Perspektiven sind nicht zu erkennen. Der Text Zur Neuherausgabe der Marxschen Frühschriften bezieht sich auf die inzwischen dritte Ausgabe derselben im Kröner Verlag (1932 - 1953 - 2004). Sie bietet die Möglichkeit einer neuen Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen des aktuellen Marxschen Spätwerkes. Die bisherige Rezeption der Hegelkritik und der Entwicklung der Dimensionen der Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft zeigt die Schranken des traditionellen Marxismus. |