EXIT! Heft 4
Inhaltsverzeichnis
Robert Kurz
Grau ist des Lebens
goldner Baum und grün die Theorie
Das Praxis-Problem als
Evergreen verkürzter
Gesellschaftskritik und die Geschichte der Linken
Das Unbehagen in der
Theorie - Adorno über
verkürzte Praxisansprüche und
„Pseudo-Aktivität“ -
„Theoretische
Praxis“ und kapitalistische Realinterpretation -
Widerspruchsbearbeitung
und „ideologische Praxis“ - Kapitalismus als
Weltveränderung: Affirmative Kritik und kategoriale Kritik -
Strukturtheorie und
Handlungstheorie -
Nachholende
Modernisierung als Postulat einer „untrennbaren
Einheit“ von Theorie und
Praxis - Instrumentelle
Vernunft - Die
handlungstheoretische Wende. Westlicher Marxismus und
„Praxisphilosophie“ - „Strukturaler
Marxismus“ und handlungstheoretischer Politizismus - Das
Foucaultsche
Pendel. Vom Parteimarxismus zur Bewegungsideologie - Die Wiederkunft
des
„Subjekts“. Menschenrechts-Metaphysik und falsche
„Autonomie“ - Wir sind alles. Das
Elend des (Post-)Operaismus - Von der
Kapitulation selbstreferentieller Bewegungsideologie zu einem neuen
Begriff
„theoretischer Praxis“
Carsten Weber
Der Urschrei des Subjekts
Voraussetzungen der
Moderne in der
Geschichte des Mittelalters
Weltverachtung und Weltflucht als
einziger christlicher Lebenssinn - Die Päpste als willige
Untertanen des Kaisertums - Von der Weltuntergangssekte zur
Kriegerreligion - Gottesgnadentum und Feudalismus - Der
Investiturstreit: Die
althergebrachte Ordnung gerät aus den Fugen - Die
Kreuzzüge: Erster Vorschein
der Moderne - Das Ende der Gewissheit - Das
große Sterben – das
große Morden – das große
Aufrüsten
Claus Peter
Ortlieb / Jörg Ulrich
Die metaphysischen Abgründe der
modernen Naturwissenschaft
Ein Dialog
Roswitha
Scholz
Homo Sacer und „Die Zigeuner“
Antiziganismus.
Überlegungen zu einer wesentlichen und deshalb
„vergessenen“ Variante des Rassismus im Kapitalismus
Einleitung: Antiziganismus: die
„vergessene“ Rassismusvariante schlechthin im
Kapitalismus - Moderne und Antiziganismus - Antiziganismus und
Geschlecht - Zur Geschichte des Antiziganismus in Deutschland -
Antiziganismus und Antisemitismus - Der „Homo
sacer“ und die „Zigeuner“ -
Linke Romantik und die „Zigeuner“ - Die
„Zigeuner“ in der Postmoderne und das
Hybriditätstabu - Struktureller Antiziganismus und
die verfallende Postmoderne - Resümee: Wert-Abspaltung,
Antiziganismus, andere Rassismen und die (arbeitskritische) Linke heute
Rezensionen - Glossen - Kommentare
Udo Winkel
Carl
Schmitt und die Juden
Frank
Rentschler
Eine
Kritik „linker“ Biopolitik
Zum Buch „Das
Leben lebt nicht“ der Gruppe
Röteln
Claus Peter
Ortlieb
Fetisch unser
Zur Fetisch-Ontologie
in Hartmut Böhmes
„Fetischismus
und Kultur“
Knut
Hüller
„Ölpreis
und Demokratie“
Gerd Bedszent
Utopia in Warenform
Udo Winkel
Zwischen „Herrn K.“ und der
Bachelor-Historie
Ein Kommentar zum
Historikertag in Konstanz
Editorial
Die
„Unterschicht“ treibt neuerdings die Republik um,
auch wenn der
deutsche Arbeits- und Sozialminister sie nicht wahrhaben will und
niemand genau sagen kann, worin sie besteht. Dabei wurde doch von der
neuen Armut bereits Mitte der siebziger und verstärkt seit den
achtziger Jahren gesprochen. Neu ist also keinesfalls die
Unterschicht als Phänomen, neu ist allerdings, dass es in die
Schlagzeilen gerät. Dafür mag eine Rolle spielen,
dass
aufgrund der forcierten Ausdünnung der Sozialbudgets und der
Zwangsmaßnahmen im Gefolge von Hartz IV sich die Situation
für
viele Arbeitslose, „Unterbeschäftigte“ und
von Sozialhilfe
Abhängigen erheblich verschlechtert hat. Für die
mediale
Wahrnehmung wichtiger ist aber, dass der Kreis der potentiell
Betroffenen in den letzten Jahren erheblich erweitert wurde und
inzwischen ganze akademische Sparten zu ihm gehören. Das
Schlagwort „Prekariat“, zunächst vor allem
in linken
Kontexten gebraucht, macht nun auch in den bürgerlichen Medien
die Runde. Entsprechende Ängste sind, wie bereits sattsam in
der
Presse verschiedenster politischer Ausrichtungen erörtert, in
den Mittelschichten besonders weit verbreitet.
Dies betrifft nicht zuletzt auch die
Linke(n). So macht in letzter Zeit etwa der postoperaistische
Theoretiker Sergio Bologna zunehmend von sich reden. Er fragt:
„Wer
spricht heute noch von sich selbst als einer sozialen Schicht? Wer
betrachtet noch diese middle class als ein interessantes politisches
Subjekt? Wenn wir auf die Geschichte der antiautoritären
Bewegungen zurückgreifen (...) oder die Geschichte der
sogenannten operaistischen Bewegungen, (merken) wir, dass im Grunde
genommen eine ausdrückliche Analyse der middle class
fehlt“
(Sergio Bologna, Die Rolle der Theorie in der politischen Aktion, in:
jour fixe-initiative berlin, Klassen und Kämpfe,
Münster
2006, S. 58). Problematisch ist für Bologna dabei, dass in der
Informations- und Wissensgesellschaft nun auch noch bestimmte neue
Mittelschichten verschwinden, die sie selbst hervorgebracht hatte.
In eine ähnliche Richtung
geht
auch Georg Seeßlen in der „Jungle World“
(25.10. 2006):
„Und auch der Klassenkampf von oben, den wir seit einiger
Zeit
erleben, kommt an die Grenze, wenn die Mittelschicht endgültig
zerrieben ist, die heute sowohl für den Luxus der Reichen als
auch für das Überleben der Armen sorgen muss. So wird
schließlich aus der um ihr Überleben
kämpfenden
Mittelschicht eine blutende Klasse, und dann eine verschwindende.
Wenn aber die eine Klasse, die alles hat, der anderen Klasse, bei der
nichts mehr zu holen ist, direkt gegenüber steht, ist die
Geschichte des Kapitalismus zu Ende geschrieben. Wogegen nichts
einzuwenden wäre, wenn es nicht im Konkreten verdammt viel
Leid,
Gewalt und Verlust bedeuten würde“. Dass dies vor
allem für
die von oben und unten ausgebeuteten Mittelschichten gelte, die
offenbar für die mögliche Emanzipation der Menschheit
schlechthin stehen, scheint dabei selbstevident, auch wenn
Seeßlen
dies nicht so genau ausspricht. Dass wir für den Luxus der
Reichen und das Überleben der Armen sorgen müssen,
war uns
noch gar nicht so bewusst!
Überhaupt
dachten wir immer, dass mehr oder minder traditionelle
Klassenkampfmarxisten gegen jedwede Klassenverhältnisse sind
...
So kann man sich täuschen: An den obigen Zitaten offenbart
sich,
dass es um ein Eigeninteresse geht und man sich selbst in den
Mittelschichten verortet. Linke sind dabei vor allem deshalb
schockiert, weil sie jetzt selbst betroffen sind. Es stellt eine
narzisstische Kränkung dar, etwa jahrelang studiert zu haben
und
trotzdem abserviert zu werden. Und selbst wenn man das Studium
abgebrochen hatte, schien dies nicht eine ganze Zeit lang gerade
darauf hinzudeuten, dass man ultraflexibel ist und (irgendwie, wenn
auch vielleicht nur in Potenz) zu den Erfolgreichen gehören
könnte? Derartige Imaginationen und/oder Erfahrungen machen
wohl
nicht wenige Lebensläufe der Linken aus. Dabei herrschen immer
noch im Grunde dünkelhafte Vorstellungen, wie sie in den
ständisch-bildungsbürgerlichen bzw.
klassenmäßig-fordistischen Verhältnissen
wurzeln,
nämlich eigentlich zu den „besseren
Leuten“ zählen zu
wollen.
Diese
stillen Hoffnungen werden jetzt enttäuscht. Man
könnte
geradezu sagen, dass es inzwischen von der „nivellierten
Mittelstandsgesellschaft“, die Schelsky schon in den 50er
Jahren
konstatiert hatte, und gewissermaßen einer
„pluralisierten
Mittelschichtsgesellschaft“ seit den 70er Jahren nunmehr in
den
Keller einer „pluralisierten
Unterschichtsgesellschaft“ geht.
Doch die Rettung ist nah: Nach dem Niedergang der New Economy Anfang
dieses Jahrzehnts versucht eine wiederauferstandene
Internet-Ökonomie
nochmals durchzustarten. „Wir nennen es Arbeit“, so
der
einschlägige Bestseller von Holm Friebe und Sascha Lobo
über
die „digitale Bohème“. Dass auch diese
Blase platzen kann,
nimmt man offensichtlich nicht mehr so ernst, ist ja nur ein
vorübergehender Hype! Eingelagert sind diese neuen Hoffnungen
in
die mittlerweile grassierende Propaganda eines nun angeblich
„wirklichen“ globalen
„Aufschwungs“, dessen Abhängigkeit
von globalen Defizitkreisläufen (und dem hoch verschuldeten
Auslaufmodell des US-„Konsumwunders“) kaum noch
thematisiert
wird. Gleichzeitig abstrahiert die mediale Euphorie davon, dass die
beschworenen neuen Jobs größtenteils befristet und
im
prekären Dienstleistungs-Segment angesiedelt sind. Der Prozess
massenhafter Herunterstufung bislang regulärer
Beschäftigungsverhältnisse (so bei Quelle oder der
Telekom)
geht ungebremst weiter; gleichzeitig werden neue Pläne
für
Massenentlassungen bekannt (so bei Opel).
Dabei
kann man getrost davon ausgehen, dass inzwischen große Teile
der neuen Mittelschichten tatsächlich zum
„Prekariat“
gehören (Stichwort: Generation Praktikum). Das ist gerade das
Neue an dieser Situation: Es sind nicht mehr wie noch vor ein paar
Jahren vor allem die Unqualifizierten betroffen. Wenn dabei auch
viele auf das Sponsoring und den noch vorhandenen
„fordistischen
Speck“ (Robert Kurz) ihrer Alten vertrauen können,
so schmilzt
dieser Speck doch langsam ab. Bei all dem darf man nicht vergessen,
dass sich gleichzeitig die traditionelle Unterschicht (Obdachlose, so
genannte Bildungsferne usw.) erst recht verbreitert. Es hat sie im
Kapitalismus mit seinen Konkurrenzmechanismen selbst zu Zeiten der
höchsten Wohlfahrtsstaatlichkeit als Fluchtpunkt negativer
Vergesellschaftung und Subjektivität immer gegeben, und sie
hat
als wirklich allerunterste Charge fungiert, ohne dass ihr Elend
seinerzeit sonderlich aufreizend wirkte – abgesehen von
einigen
Randgruppenideologien der Linken im Sinne einer fragwürdigen
Instrumentalisierung als Quasi-Revolutionsersatz für das
Proletariat. Heute nun wird „Unterschicht“ zu einer
Horrorchiffre
des postfordistischen Mittelschicht-Absturzes, wenn der Fahrstuhl
nicht mehr „nach oben“ geht wie in der
fordistischen
Wohlstandsgeselllschaft, sondern „nach unten“, und
wir heute in
einer „Gesellschaft des Weniger“ leben, so die
verharmlosende
Sprache Ulrich Becks. „Gefährdetes Leben“
(Judith Butler),
„Verworfenes Leben“ (Zygmunt Bauman) und
„Homo sacer“
(Giorgio Agamben) sind dabei Buchtitel, die schon einige Jahre auf
dem Buchmarkt Erfolg haben und die „Exklusion“, das
„Überflüssigwerden“, die
Ausgrenzung in verschiedenster
Hinsicht zum Inhalt haben.
Entscheidend
ist es deshalb, sollte es tatsächlich zu einem Aufbegehren
kommen, sozialdarwinistische Tendenzen in den sozialen Bewegungen
selbst von vornherein zu problematisieren, letztlich auszugrenzen,
und innerhalb der Linken einem mehr oder minder vorhandenen
partikularen Interessenstandpunkt im Sinne der
absturzgefährdeten
neuen Mittelschicht die Stirn zu bieten. Die einschlägige
Betroffenheitsweinerlichkeit im Zuge der ersten Hartz-IV-Proteste
lässt zwar Schlimmes erahnen, sie muss aber ja nicht unbedingt
fortgesetzt werden. Zu hoffen ist dabei, dass die
Berücksichtigung
des negativen gesellschaftliche Ganzen auch innerhalb sozialer
Bewegungen geltend gemacht wird. Freilich kann es nicht darum gehen,
altruistisch von der eigenen Situation zu abstrahieren, doch darf
diese nicht zum zentralen betroffenheitsideologischen und die
kritische Perspektive verkürzenden Ausgangspunkt des sozialen
Engagements werden. Wesentlich wäre es dabei, die
Diskriminierungsdimensionen Geschlecht und
„Rasse“/Ethnie von
vornherein mit einzubeziehen, und erst recht die Dimension einer
zirkulationsideologischen und/oder
„existentialistischen“
(Heidegger) Kriseninterpretation, die mit kulturalistischem
Antiamerikanismus, „strukturellen Antisemitismus“
und zunehmend
offen antisemitischen Klischees vermittelt ist. Hier zeigt sich die
gefährlichste ideologische Tendenz im Zusammenhang von
„Absturz
der neuen Mittelklasse“ und „pluralisierter
Unterschichtsgesellschaft“ als Verlaufsform des
Krisenprozesses.
Solange
diese Zusammenhänge nicht ausreichend zur Sprache kommen, wird
auch die Debatte um das so genannte bedingungslose Grundeinkommen so
laufen wie sie läuft. Hauptprotagonisten sind auch hier die
neuen Mittelschichten. Dabei wird die Kritik, dass sie in ihrer
Naivität einem neoliberalen Konzept zum Durchbruch verhelfen,
zunehmend gegenstandslos, zumindest was die Unterstellung angeht,
dass sie eigentlich etwas anderes wollen. Denn die neoliberale
Ausrichtung des Konzepts wird nicht nur in Kauf genommen, sie wird
offen unterstützt. Ein Grundeinkommen, das unter Hartz IV
liegt
(wie im Vorschlag des Ministerpräsidenten Althaus), wird
akzeptiert, wenn die Zuverdienstgrenzen angehoben werden und das
Einkommen durch gelegentliche Aufträge aufgebessert werden
kann.
Dadurch kann das Armutsniveau zwar nicht verlassen, aber immerhin
noch ein Distinktionsgewinn gegenüber den eigentlichen
Unterschichten erzielt werden, die als total passiv imaginiert
werden.
Es
geht überhaupt um eine Diskurshegemonie und um die
Definitionsmacht über Problemlagen im Sinne der
Krisenverwaltung. So soll etwa der „mangelnde
Aufstiegswille“ der
Grund für die perspektivlose Situation der Unterschichten
sein,
und es wird uns Familienförderung als Lösung
angedient.
Lothar Späth zufolge soll gar der allzu spendable
Wohlfahrtsstaat die Unterschichtsmisere verursacht haben! Ziel ist
es, die Probleme bei aller wohlfahrtsstaatlichen Wortkosmetik ins
Private hinein zu entsorgen. Deutlich wird dies auch in einem
allenthalben geführten Feldzug gegen die
Gummibärchen- und
Frittenmentalität des Unterschichtsprekariats; auf diese Weise
soll noch in der Einführung qualitativer Kriterien (wir wollen
eben „gute“ statt „schlechte“
Ernährung) ein
Nebenschauplatz zum Hauptschauplatz und die ganze Malaise einer
Kontrolle im Sinne „schwarzer Pädagogik“
zugeführt
werden. Na, vielleicht wieder ein Betätigungsfeld für
unsere vom Absturz bedrohten
Öko-Sozialklempner-Mittelschichtler?
Und wäre damit nicht vielleicht gleichzeitig etwas gegen den
Klimawandel und, freilich auch bloß so nebenbei, gegen seine
Kosten getan?
Zur
Empörung in der sogenannten Unterschichtsdebatte haben
bekanntlich nicht Proteste „von unten“
geführt, sondern eine
Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, die in der Öffentlichkeit
gehypt wurde. Ganz ähnlich verhält es sich beim Thema
Klimawandel, das gleichermaßen wieder einmal Schlagzeilen
macht. Der frühere Weltbankökonom Nicolas Stern hat
eine
entsprechende Studie – in Auftrag gegeben vom britischen
Schatzkanzler Gordon Brown – vorgelegt. Darin geht es um die
Kosten
des Klimawandels. Stern fordert in der Studie dazu auf, weltweit
entschieden gegen Klimagasemissionen vorzugehen. Das Abschmelzen der
Polkappen und das Ansteigen des Meeresspiegels hätten Folgen
wie
Migration und Nahrungsmittelknappheit. Das Skandalon ist es laut
Stern dabei, dass die Weltwirtschaft durch die entstehenden
exorbitanten Kosten in eine tiefe Depression gestürzt werde,
die
noch diejenige der 30er Jahre übertreffen könnte. Der
Aufwand, dies abzuwenden, wäre laut Stern gering: Es erfordere
nur 1 % des weltweiten Sozialprodukts bzw. 350 Milliarden Dollar
jährlich. Eine derartige Wende müsse allerdings
schnell
herbeigeführt werden, sonst drohe nicht nur der
ökologische,
sondern auch der ökonomische Kollaps.
Inzwischen
haben verschiedene Studien (u.a. die beiden Klimaberichte der UNO)
gezeigt, dass die kapitalistisch immanent berechneten Kosten einer
tatsächlichen Wende bei den Emissionen in Wirklichkeit
exorbitant hoch wären; gelegentlich wurde schon von der
Notwendigkeit einer Art (illusorischen) „planetarischen
Kriegswirtschaft“ gesprochen, um die Klimakatastrophe
abzuwenden.
Soweit die Folgen tiefer Eingriffe überhaupt bedacht werden,
ist
meist nur die Rede von einer undifferenzierten Absenkung des
Konsumniveaus für die Mehrheit; die Klimadebatte kann so
womöglich auch noch für die soziale Krisenverwaltung
instrumentalisiert werden.
Bemerkenswert
ist dabei folgendes: Der Klimawandel und die sich daraus ergebenden
Probleme werden nicht etwa grundsätzlich mit der
kapitalistischen Produktions- und Lebensweise in Verbindung gebracht.
Völlig immanent werden teils bloße
„Versäumnisse“
vor allem der Politik oder des Managements verantwortlich gemacht,
teils wird das Problem ins Private abgeschoben als bloße
Aufgabe persönlicher, kapitalismus-kompatibler
Verhaltensänderungen (Energiesparen, verbrauchsärmere
Autos
etc.). Auffällig ist ebenfalls, dass nicht die menschliche
(und
ökologische) Katastrophe Maßstab der Kritik ist,
sondern
das Kostenproblem, das blauäugig heruntergerechnet wird.
Soweit
in der politischen Klasse eine gewisse Einsicht in die Bedrohung
dämmert, bricht sich diese an der Unmöglichkeit, die
kapitalistische Funktionslogik auch nur ansatzweise in Frage zu
stellen. Gleichzeitig tönen die neoliberalen Hardliner (so
etwa
der „Wirtschaftswoche“- Chefredakteur Stefan Baron)
von
„Panikmache“. Einsicht und Abwehr lassen sich
durchaus im
Polit-Marketing verbinden; diese Chance ergreift nicht von
ungefähr
der mittlerweile eher unpopuläre neoliberale
„Sozi“ Toni
Blair, der nun den als Öko-Gutmenschen firmierenden Al Gore
als
Berater herbeiruft. Es liegt auf der Hand, dass dies bloß
halbbewusste ideologische Taschenspielertricks sind. Die
längst
parteiübergreifende neoliberale Intention soll umgebogen und
human, weich und sensibel präsentiert werden.
Auf
diese Weise möchte man von vornherein einen Schulterschluss
mit
möglichen Protestbewegungen suggerieren, um diese gleichzeitig
strategisch auszuhebeln. Es kann vermutet werden, dass es ganz
ähnlich wie bei der Unterschichtsdebatte eher um eine
Entdramatiserung und De-Thematisierung geht, wenn
„alte“ Themen
wie soziale Ungleichheit und Ökologie wieder an die
Oberfläche
kommen und mittlerweile selbst CDU/CSU und FDP zu suggerieren
versuchen, dass sie nun ihr Herz für das
„Soziale“ und
„Ökologische“ entdeckt hätten; zu
Discounter-Preisen
selbstverständlich.
Wir
sehen also, Ideologie- und Subjektkritik tut weiterhin Not, sowohl
gegenüber dem bürgerlichen Mainstream als auch
gegenüber
der linken Szenerie. Die „soziale Frage“ kann nicht
unmittelbar
ab- und angerufen werden, ohne durch eine differenzierte Analyse
einschließlich der ideologischen Verwerfungen
hindurchzugehen.
EXIT! wird sich in Zukunft dem komplexen Problem eines
„Absturzes
der neuen Mittelklasse“ und seiner ideologischen Verarbeitung
in
verschiedener Hinsicht verstärkt zuwenden. Diese und andere
Tendenzen sind in Beziehung zu setzen zum Wesen der kapitalistischen
Konstitution, d.h. des Wert-Abspaltungsverhältnisses. Was sich
aktuell in den Auseinandersetzungen um Prekariat und
Mittelschichtsmisere, postmoderne
„Wissensgesellschaft“ oder
Klimawandel zeigt, ist vermittelt mit dem auch in der Linken
virulenten bürgerlichen Praxisbegriff, den Bedingungen der
modernen Subjektkonstitution wie der naturwissenschaftlichen
Denkweise und verborgenen Dimensionen des Rassismus auf
arbeitsgesellschaftlicher Grundlage. In dieser EXIT!-Ausgabe wenden
wir uns in diesem Sinne noch einmal schwerpunktmäßig
entsprechenden „Abgründen des Subjekts“
auf verschiedenen
Ebenen zu.
Mit dem Text „Grau ist des
Lebens
goldner Baum und grün die Theorie. Das Praxis-Problem als
Evergreen verkürzter Kapitalismuskritik und die Geschichte der
Linken“ versucht Robert Kurz, die in der
wert-abspaltungskritischen
Theoriebildung bislang ausgesparte Handlungsdimension
grundsätzlich
neu zu bestimmen. Dabei wird das traditionelle Verständnis der
Marxschen 11. Feuerbachthese als dem Anforderungsprofil einer
kategorial immanenten „nachholenden Modernisierung“
zugehörig
dechiffriert, das sich mit den Begriffen von
„Realinterpretation“,
„Widerspruchsbearbeitung“,
„kapitalistischer Weltveränderung“
und „affirmativer Kritik“ beschreiben
lässt. Damit verbunden
war eine Depotenzierung der theoretischen Kritik, die in die
bürgerliche „instrumentelle Vernunft“
einmünden musste.
Um dagegen einen für die Kritik der modernen
Fetisch-Konstitution zureichenden Praxis-Begriff zu entwickeln,
bedarf es einer Umwertung des traditionellen Anspruchs, in der die
Fesselung der kritischen Reflexion an eine vorgegebene soziale Praxis
und damit an die androzentrisch-universalistische bürgerliche
„Form Theorie“ überwunden wird. Das
Verhältnis von
„theoretischer Praxis“, „ideologischer
Praxis“ und
gesellschaftlicher Umwälzung erscheint so in einem neuen
Licht.
Wesentlich für eine Neubestimmung ist das Durchbrechen der
bürgerlichen Polarität von
„Strukturtheorie“
(Objektivismus) und „Handlungstheorie“
(Subjektivismus), deren
innerer Zusammenhang über die Soziologie hinaus dargestellt
wird. Vor diesem Hintergrund zeigt sich eine
„handlungstheoretische
Wende“ des westlichen Marxismus, die ebenso in der
Fetisch-Konstitution befangen blieb wie die alte marxistische
Gesetzmäßigkeits-Metaphysik und den
Übergang vom
Parteimarxismus zur Bewegungsideologie markierte. In einer
Auseinandersetzung mit der sogenannten Praxisphilosophie, dem
Althusserschen „strukturalen Marxismus“, dem
Poststrukturalismus
Foucaultscher Prägung und dem (Post-)Operaismus von Negri und
Holloway wird eine Entwicklung skizziert, die spiegelbildlich zum
Zusammenbruch des Realsozialismus zu einer Kapitulation der Linken
vor der negativen kapitalistischen Vergesellschaftung
einschließlich
des geschlechtlichen Abspaltungsverhältnisses führte.
Die
in diesem Text begonnene kritische Auseinandersetzung mit der heute
vorherrschenden „Bewegungsideologie“ soll
fortgesetzt werden in
Artikeln zur postmodernen „Theologisierung der
Kritik“, zur (auch
in „wertkritischen“ Kreisen grassierenden)
phänomenologisch-existentialistischen Alltags- und
Lebenswelt-Metaphysik und zu einem verkürzten
„Aneignungs“-Begriff, der hinter das obsolet
gewordene
Staatsplanungs-Paradigma des traditionellen Marxismus
zurückfällt
statt darüber hinauszugehen.
Zu den zentralen Paradigmen der Moderne
gehört eine signifikante Skrupellosigkeit, die Bereitschaft
nämlich, unter Einsatz auch brutaler Gewalt und unter
bewusster
Hinnahme der Vernichtung von Menschen sowie überhaupt der
Lebensgrundlagen Macht bzw. Profit zu erlangen und zu sichern.
Carsten Weber untersucht in seinem Aufsatz „Der Urschrei des
Subjekts“, wie diese spezifisch neuzeitliche
Mentalität sich
entwickelte. Davon ausgehend, dass historische Entwicklungen sich mit
enormer Trägheit vollziehen und daher einen entsprechend
langen
Vorlauf aufweisen, dass somit diese Skrupellosigkeit und
Vernichtungsbereitschaft sowie das Subjekt als deren Träger
nicht voraussetzungslos mit Beginn der Neuzeit in die Welt kam,
richtet sich sein Hauptaugenmerk auf die Frage, welchen Beitrag das
Mittelalter, das nach allgemeiner Auffassung von einer
gänzlich
anderen Mentalität geprägt war, zu diesem
geschichtlichen
Verlauf geleistet hat. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf
einer kritischen Betrachtung des Christentums, das als
Monopolreligion des mittelalterlichen Europas von entscheidender
Bedeutung für die mittelalterliche Mentalität war. Es
erweist sich, dass aus einer ursprünglich streng
weltabgewandten, asketischen und eher pazifistischen Endzeitreligion
eine regelrechte Kriegerreligion wurde, was sich sehr prägnant
an den Heiligen der katholischen Kirche ablesen lässt: waren
dies in der Frühzeit noch ausschließlich Eremiten,
Asketen
und Märtyrer, so finden sich nach dem Aufstieg des
Fränkischen
Reiches hauptsächlich Heerführer sowohl klerikaler
als auch
adliger Herkunft in den Heiligenverzeichnissen. Insbesondere das
Papsttum hat entscheidende Impulse für die stets zunehmende
Zugewandtheit der Kirche zum Kriegswesen gegeben. Als entscheidende
Phase erweist sich das letzte Drittel des 11. Jahrhunderts, das mit
dem Investiturstreit und dem 1. Kreuzzug gleich zwei mit regelrechten
Vernichtungsstürmen einhergehende Kriege hervorgebracht hat,
für
die in beiden Fällen das Papsttum die Hauptverantwortung
trägt.
In dieser Zeit wurden Tod und Vernichtung so allgegenwärtig,
dass der letzte Schritt zur Geburt der Moderne, die Entwicklung der
Feuerwaffen und des Söldnertums, keinen Bruch
gegenüber dem
Spätmittelalter darstellt, sondern eher dessen logische
Fortsetzung.
In
ihrem Dialog über „Die metaphysischen
Abgründe der
modernen Naturwissenschaft“ stellen Claus Peter Ortlieb und
Jörg
Ulrich einen engen Zusammenhang zwischen der modernen Form objektiver
Erkenntnis und der historisch spezifischen Verfasstheit ihres
bürgerlichen Erkenntnissubjekts fest. Die
mathematisch-naturwissenschaftliche Methode, die mit ihrem angeblich
nur an der Sache orientierten, „unideologischen“
Vorgehen gern
der offensichtlichen Irrationalität der modernen Gesellschaft
als Gegenmodell vorgehalten wird, bildet den Kern der modernen
Denkform und des Verhältnisses der modernen Menschen zu ihrer
Welt insgesamt und ist gerade deshalb von den katastrophalen, von der
Wertabspaltung hervorgebrachten Resultaten nicht zu trennen, wie sie
nach vierhundert Jahren bürgerlicher Gesellschaft zu
besichtigen
sind. Die Abgründe der modernen Naturwissenschaft, von denen
die
Rede ist, sind die Abgründe des
männlich-weißen-westlichen
Subjekts. - Die Dissense zwischen den Dialogpartnern betreffen zum
einen die Frage, inwieweit die in der Naturwissenschaft zum Ausdruck
kommende Metaphysik eine spezifisch moderne Angelegenheit ist, zum
anderen die Stellung des Objekts im naturwissenschaftlichen
Erkenntnisprozess. Das Ziel des Dialogs ist weniger die
abschließende
Klärung als vielmehr die genauere Herausarbeitung von
Fragestellungen, bei denen es um den Zusammenhang neuzeitlicher
Erkenntnis mit der Gesellschaft geht, in der sie stattfindet.
In der wert-abspaltungskritischen
Diskussion waren Rassismus und Antisemitismus lange Nebenthemen, die
bloß als vom Wert abgeleitete behandelt wurden. Dabei wurde
der
Antiziganismus erst recht nur am Rande benannt. In ihrem Artikel
„Homo sacer und die Zigeuner“ zeigt Roswitha
Scholz, dass sich
eine Beschäftigung mit diesem Thema für eine
arbeitskritische Position geradezu aufdrängt.
„Lustig ist das
Zigeunerleben“ – so ein bekanntes Lied und
Klischee. Zigeuner
gelten im Gegensatz zum disziplinierten Individuum der Dominanzkultur
als „wild and free“, sie stehen scheinbar auf der
arbeitsabgewandten Seite der Gesellschaft. Sie leben aber nicht auf
Tahiti oder sonst wo weit weg, sondern sie sind „mitten unter
uns“
seit Jahrhunderten und waren von Anfang an ein Bestandteil der
Gesellschaften des „Zentrums“. Gleichzeitig handelt
es sich beim
Antiziganismus um eine Form des Rassismus, der sich vielleicht wie
kein anderer durch eine tiefe Verachtung auszeichnet.
„Zigeuner“
lügen, betrügen und stehlen angeblich. Ihre Existenz
wurde
quasi als außerhalb des Gesetzes stehend betrachtet. Gerade
deswegen wurden sie wie keine andere Bevölkerungsgruppe
kriminalisiert und erfasst. Der „Zigeuner“ soll so
auch zeigen,
wo das Mitglied der Dominanzkultur hinkommen kann, wenn es sich in
der Arbeitsgesellschaft nicht angepasst verhält. Die Kernthese
von Scholz lautet nun, dass der „Zigeuner“ den Homo
sacer par
excellence darstellt, den Menschen, der in der Moderne
„vogelfrei“
gewissermaßen zum Abschuss freigegeben ist. Dies zeigt sich
im
übertragenen Sinne auch darin, dass der Antiziganismus bis
heute selbst in einschlägigen Abhandlungen zum Thema Rassismus
kaum vorkommt. So hat es auch lange gedauert, bis die
Massenvernichtung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus
überhaupt
thematisiert worden ist. Dieser Text kann auch als kritischer Beitrag
zur so genannten Unterschichtsdebatte gelesen werden.
Die Rubrik Rezensionen
– Glossen –
Kommentare im hinteren Teil des Hefts enthält die
folgenden
Beiträge: „Carl Schmitt und die Juden“ von
Udo
Winkel, „Eine Kritik ‚linker‘ Biopolitik.
Zum Buch ‚Das Leben
lebt nicht‘ der Gruppe Röteln“ von Frank
Rentschler,
„Fetisch unser. Zur
Fetisch-Ontologie in Hartmut Böhmes ‚Fetischismus
und Kultur‘“
von Claus Peter Ortlieb, „,Ölpreis und
Demokratie‘“ von
Knut Hüller, „Utopia in Warenform“ von
Gerd Bedszent und „Zwischen
‚Herrn K.‘ und der Bachelor-Historie. Ein Kommentar
zum
Historikertag in Konstanz“ von Udo Winkel.
Wie
dem Impressum zu entnehmen, sind Petra Haarmann (Herne) und
Jörg
Ulrich (Ulm) aus der Redaktion ausgeschieden und Micha Böhme
(Leipzig), Martin Dornis (Leipzig) und Udo Winkel (Nürnberg)
neu
eingetreten. Abschließend noch der Hinweis darauf, dass im
Frühjahr 2007 das Buch „Marx lesen“ von
Robert Kurz bei
Eichborn in der dritten Auflage (bzw. der zweiten Auflage der
Paperback-Version) erschienen ist.
Frank
Rentschler und Roswitha Scholz für die EXIT!-Redaktion
im
April 2007