Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


EXIT! Heft 5

Inhalt

Editorial

Nachruf auf André Gorz

Eiszeit für kritische Theorie?
Offener Brief an die InteressentInnen von EXIT!

Eske Bockelmann
Synthesis am Geld: Natur der Neuzeit
Eine Antwort auf Sohn-Rethels Frage nach dem Zusammenhang von Warenform und Denkform

Roswitha Scholz
Überflüssig sein und „Mittelschichtsangst“
Das Phänomen der Exklusion und die soziale Stratifikation im Kapitalismus
1. Einleitung: „Klassenlage“, schichtenspezifische Exklusion oder Jedermann- Deklassierung? Das ist heute die Frage!  2. Das Phänomen des Überflüssigseins im Kapitalismus bis Ende des 19. Jahrhunderts – ein kurzer Abriss  3. Die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“  4. Individualisierung jenseits von Klasse und Schicht?  5. Die Zerstörung der „neuen Mittelschicht“ und die prekären „neuen Selbständigen“  6. Der Klassenkampffetisch  7. Kampf ohne Klassen?  8. Das letzte Stadium der Mittelklasse  9. Mittelschichtsgesellschaft und Geschlecht  10. Mittelschichtsgesellschaft und Migration  11. Ausschluss als Grundproblem des Kapitalismus – von der Neuzeit über die „nivellierte Mittelstandsvergesellschaftung“ bis heute  12. Einige Bemerkungen zur sozialwissenschaftlichen Debatte um soziale Exklusion und „soziale Verwundbarkeit“ in den Mittelschichten  13. Mittelschichtsvergesellschaftung, Exklusion und die gesellschaftliche Form der Wert-Abspaltung

Christian Mielenz
Wie die Karnickel
Biologisierung und Naturalisierung moderner Phänomene am Beispiel der malthusianischen Überbevölkerungstheorie
1. Die malthusianische Theorie  2. Bevölkerungsentwicklung und Nahrungsmittelproduktion in Deutschland 1800-1850  3. Fazit: Weder malthusianische noch „Industrialisierungs“-Theorie

Robert Kurz
Der Unwert des Unwissens
Verkürzte „Wertkritik“ als Legitimationsideologie eines digitalen Neo-Kleinbürgertums
1. Von der Wertkritik zur digitalen Szene-Ideologie  2. Die „Schwester der Ware“ und das Internet als „Emanzipationsmaschine“  3. Warenform, Wertsubstanz und zirkulationsideologischer Reduktionismus  4. „Gerechter Tausch“ und kapitalistische Nutzungsverhältnisse  5. Die Warenseele in Aktion: Vom „unseriösen Bezahlgut“ zum strukturellen Antisemitismus  6. Inhaltsproduktion, kapitalistische Kosten und „arbeitslose Reproduzierbarkeit“  7. Produktive und unproduktive Arbeit in der gesamtkapitalistischen Reproduktion  8. Auf dem Weg zur sekundären Arbeitsontologie  9. Der gesamtgesellschaftliche Charakter der Wertsubstanz und die Ideologie vom „schaffenden“ und „raffenden“ Kapital  10. Universelle Entwertung und Stadientheorie einer simulativen Emanzipation  11. Falscher Universalismus und soziale Exklusion. Die digitale Alternativideologie als Dorado hausfrauisierter Mittelschichtsmänner  12. Der Standpunkt des virtuellen Konsumidioten  13. Selbstverwaltung des kulturellen Elends  14. Die Enteignung der InhaltsproduzentInnen als soziale Selbstverleugnung und Ressentiment  15. Termiten und blaue Ameisen. Die Biopolitik der digitalen „Schwarmintelligenz“  16. Verelendungs-Realpolitik von Möchtegern-Kapos der kulturellen Krisenverwaltung

Anselm Jappe
Sade, unser Freund?

Knut Hüller
Vom aufgeklärten Subjekt zur Intelligenz des Schwarms

Udo Winkel
Über den schwierigen Umgang mit Rosa Luxemburg


Editorial

Eher können wir uns den Weltuntergang, die Zerstörung des Ökosystems Erde oder den kollektiven Selbstmord der Menschheit vorstellen als die Überwindung des Waren produzierenden Patriarchats. Den in ihm befangenen und von ihm konstituierten Subjekten steht jede Alternative im Widerspruch zu den Naturgesetzen, was sich von einer – mit den Mitteln moderner Technik ja durchaus herstellbaren – unbewohnbaren Erde so nicht sagen lässt, schließlich sind wir auf dem besten Wege dahin.

Entsprechend dürftig mussten denn auch die Ergebnisse der von einigen Medien als „Konferenz zur Rettung der Welt“ apostrophierten Klimakonferenz auf Bali im Dezember 2007 ausfallen, die in allgemeiner Enttäuschung endete. Die Rettung der Welt wurde erst einmal verschoben, die Hoffnung ruht nun auf der Folgekonferenz in Kopenhagen 2009. Als Schuldige für das vorläufige Scheitern wurden wieder einmal die USA oder doch zumindest die uneinsichtige derzeitige US-Regierung ausgemacht, und die sie deutlich beim Namen nannten, wie der Friedensnobelpreisträger Al Gore oder der deutsche Umweltminister Sigmar Gabriel, konnten zu Stars der Konferenz avancieren. Dabei hatte sich die US-Delegation doch nur gegen die Festschreibung von Obergrenzen für den CO2-Ausstoß gewehrt, weil diese die Wettbewerbsfähigkeit der US-Wirtschaft beeinträchtigen könnten, ein Gesichtspunkt, der auch den deutschen Musterschülern schon wenige Tage später so fremd nicht mehr war:

Als eine Woche nach der Bali-Konferenz, ganz im Sinne der dort vertretenen europäischen Position, die EU-Kommission vom Jahr 2012 an Abgaben für einen CO2-Ausstoß von Limousinen oberhalb von 130 Gramm pro Kilometer verlangte, vermochte der deutsche Umweltminister darin nur einen „Wettbewerbskrieg gegen deutsche Autohersteller“ zu sehen, und die Bundeskanzlerin sprach von „Industriepolitik zu Lasten Deutschlands“. Damit, dass sie anders als ihr Minister die Konferenz von Bali zuvor als Erfolg gefeiert hatte, erwies sie sich nachträglich wieder einmal als die Geschicktere, war der Widerspruch bei ihr doch weniger eklatant. Und so ganz daneben lagen die beiden hinsichtlich der Bewertung der innereuropäischen Maßnahmen nicht: Dass etwa die französische Regierung Sondersteuern für Kraftfahrzeuge mit einem CO2-Ausstoß von mehr als 160 Gramm pro Kilometer plant, ist nicht nur gut fürs Klima, sondern dient eben auch der französischen Autoindustrie als eine Art Schutzzoll. Hier wie überall ist Klimaschutz bloße Funktion der kapitalistischen Konkurrenz: Wenn sich mit ihm Geld verdienen lässt, ist er willkommen, wenn nicht, muss er wohl oder übel hinten anstehen.

Auch die etwas radikaleren Kritiker der Klimaschutzpolitik können offenbar nicht umhin, das Gelingen der Wertverwertung als Voraussetzung aller Politik in Rechnung zu stellen, so etwa, wenn der Attac-Sprecher Sven Giegold im Vorfeld des G8-Gipfels in Heiligendamm das von ihm und anderen als notwendig erachtete Ziel, den CO2-Ausstoß bis 2050 um 80 Prozent zu reduzieren, mit der Aussicht schmackhaft machte, es berge „viele Chancen auf neue Jobs und wirtschaftliche Entwicklung“ (taz vom 19.03.07). Mit dieser inzwischen gängig gewordenen Argumentationsfigur wird offenbar der technologische Vorsprung ausgespielt, den deutsche Hersteller bei der Erzeugung erneuerbarer Energien ihren Konkurrenten gegenüber haben mögen. Nur muss, wer damit die Kriterien kapitalistischer Produktion derart fraglos voraussetzt, dann auch akzeptieren, dass die Konkurrenz ihrerseits auf die ihr spezifischen Vorteile setzt und erst einmal die Öl-, Gas- und Kohlevorkommen abbauen will, von denen dort der wirtschaftliche Erfolg und die Arbeitsplätze abhängen.

Solange die gemeinsamen Kategorien von abstrakter Arbeit, Wertverwertung und kapitalistischer Konkurrenz zur conditio humana, zur menschlichen Natureigenschaft verklärt bleiben, können sie als die eigentlichen Verursacher der anstehenden Klimaprobleme auch nicht dingfest gemacht werden. Hinzu kommt, dass die Lebensgrundlagen, deren Zerstörung im Laufe dieses Jahrhunderts droht, zwar allem Wirtschaften vorausgesetzt sind, aber großenteils durch das ökonomische und politische Wahrnehmungsraster fallen, weil sie in der ideologischen Zuschreibung schon seit der frühen Neuzeit dem abgespaltenen „weiblichen“ Bereich angehören (Frau = Natur). Es ist ja keineswegs zufällig, dass die öffentliche Klimadiskussion überhaupt erst in dem Augenblick Fahrt aufnahm, als der frühere Chefökonom der Weltbank Nicolas Stern Ende 2006 die Kosten des Klimawandels in Dollar vorrechnete. Dass dabei auch Menschen milliardenfach zu Schaden kommen, spielt demgegenüber nach wie vor eine eher nebensächliche Rolle. Die Trümmerfrauen der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts werden es dann wieder richten dürfen.

Die im Dezember 2007 hochgekochte Debatte um die Spitzengehälter deutscher Manager ließe sich unter rein ökonomischen Gesichtspunkten auch gar nicht führen, denn wenn man ein Jahreseinkommen selbst von 60 Millionen Euro unters deutsche Volk verteilte, spränge pro Kopf nicht einmal ein Euro heraus. So richtet sich die Wut denn auch weniger gegen erfolgreiche Manager als gegen solche, die wegen mangelnden Erfolges entlassen werden, damit aber schlimmstenfalls dem Schicksal ausgeliefert sind, ohne Arbeit von ihren großzügig bemessenen Abfindungen, Pensionen und Aktienanteilen leben zu müssen. Dass es sich um ein mit Personifizierungen gesellschaftlicher Widersprüche operierendes antisemitisches Ideologem handelt, das ein „raffendes Kapital“ (im Gegensatz zum guten „schaffenden Kapital“) konstruiert, mit dem hier auf Stimmenfang gegangen wird, muss in dieser Zeitschrift wohl nicht besonders hervorgehoben werden.

Die Reaktion der ja keineswegs wehrlosen deutschen Manager ließ nicht lange auf sich warten und lag auf der gleichen Ebene. Eilfertig wurde betont, selber doch eindeutig zur Fraktion des „schaffenden Kapitals“ zu gehören: „Lassen Sie uns gemeinsam klarmachen, wer in Deutschland Wohlstand und Wachstum erwirtschaftet: die vielen ausgezeichneten Unternehmen mit ihren hoch qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern“, so Jürgen Thumann, Chef des Bundesverbandes der Deutschen Industrie in einem Brief an 15.000 Manager (Spiegel-Online 22.12.07). Dagegen, so war bereits vorher zu hören, gäbe es noch andere, die mehr verdienten (US-Manager) bzw. ein vergleichbares Gehalt bezögen, ohne einen entsprechenden Beitrag zu Wohlstand und Wachstum zu leisten (Sportler und ihre Manager).

Diese Vorlage, sich über ein neues Opfer her zu machen, durfte natürlich nicht unverwertet bleiben. Der entsprechende Versuch, einen Tag vor Heiligabend vom Bundestagspräsidenten Norbert Lammert in einem Interview mit der BILD am Sonntag vorgetragen, geriet erbärmlich: „Wenn der wohlhabendste deutsche Fußballclub einen brasilianischen Jugendlichen für 14 Millionen Euro kauft und mit einem Einkommen ausstattet, das die meisten Familienväter über Jahre harter Arbeit nicht erwirtschaften können, sind Maßstäbe verloren gegangen“ gab er da von sich (Spiegel-Online 23.12.07), um dann sogleich heraus zu lassen, dass er mit „Familienvätern“ vor allem seinesgleichen meinte. Jedenfalls stellte er schon wenige Sätze später den Zusammenhang her, Politiker würden im Vergleich zu anderen Tätigkeiten zu wenig verdienen. Wenn man „die Besten für die Politik gewinnen will, darf sich die Bezahlung nicht zu weit von den übrigen Standards entfernen.“ (ebd.) Offenbar ein Eigentor, denn dass schon lange nicht mehr „die Besten“ in die Politik gehen, sondern allenfalls noch diejenigen, die zum Fußballspielen kein Talent haben, ist an BILD lesenden Stammtischen längst ein Gemeinplatz.

Die „Gerechtigkeitslücke“ scheint gewissen „Besserverdienenden“ irgendwie moralische Probleme zu bereiten, doch ihre durchgängige Rede dazu ließe sich in dem schlichten Satz zusammenfassen: Alle verdienen zu viel, nur meine Berufsgruppe wegen ihrer Bedeutung für das Allgemeinwohl eher zu wenig. Man könnte den Eindruck gewinnen, es ginge um die letzten fetten Beutestücke, bevor die allgemeine Not ausbricht. Angesichts dieses Ekel erregenden, auf gegenseitiger Anprangerung und Anpreisung der je eigenen Charaktermaske beruhenden Diskurses wünscht unsereins sich bloß noch, die Protagonisten würden einfach die Klappe halten, ihrer ureigenen Ideologie folgen und den Markt entscheiden lassen. Die Deutsche Fußball-Liga in ihrer Weisheit hat sich übrigens jeglichen Kommentars enthalten.

Besonders unappetitlich ist diese Debatte vor dem Hintergrund der wirklichen Probleme auf der anderen Seite des Einkommensspektrums. Von 2000 bis 2006 ist der Anteil der als arm geltenden Bundesbürger um mehr als die Hälfte gestiegen, von 12 auf mehr als 18 Prozent. Der gern vorgebrachte verharmlosende Hinweis, es handele sich bloß um relative Armut, verfängt hier nicht, weil sich die realen Durchschnittseinkommen, auf die sich die Armutsindikatoren beziehen, in diesem Zeitraum nicht verändert haben. Noch gar nicht berücksichtigt ist in diesen Zahlen, dass die Inflationsrate, die im Jahr 2007 erstmals wieder die 3% überschritt, bei den Preisen für Waren zur Befriedigung von Grundbedürfnissen (Nahrung, Heizung u. a.) deutlich höher liegt, wovon Arme erheblich stärker betroffen sind als der Durchschnitt.

Dass diese Entwicklung Frauen erheblich stärker trifft als Männer, versteht sich von selbst und ist daher kaum noch der Rede wert. Dagegen hat die Zunahme der Kinderarmut eine gewisse mediale Aufmerksamkeit erregt. Sie droht inzwischen die Funktionsfähigkeit des in Teilen kostenpflichtig gewordenen Bildungssystems zu beeinträchtigen: In manchen Kitas oder Ganztagsschulen spielen sich jeden Mittag Dramen ab, wenn ein Drittel der Kinder den anderen beim Essen zusehen darf, weil Eltern oder allein erziehende Mütter die 2 Euro Essensgeld nicht aufbringen. Auf das Geld einfach zu verzichten, scheinen die öffentlichen Kassen nicht mehr herzugeben.

Im Rahmen der kapitalistischen Widerspruchsbearbeitung ist inzwischen eine Gegenbewegung in Gang gekommen: Ein gesetzlich festgelegter Mindestlohn ist notwendig geworden, wenn Lohnabhängige von ihren Löhnen auch leben können sollen. Dieser Forderung stimmen inzwischen Dreiviertel der Bundesbürger zu, und mit ihr will die SPD die nächsten Wahlkämpfe bestreiten. Bei aller Notwendigkeit enthält sie zugleich ein Moment der Exklusion: Die Arbeitslosen sind selbstverständlich nicht gemeint. Die Empörung richtet sich vielmehr dagegen, dass jemand für eine wöchentlich oft mehr als 40-stündige schwere Arbeit nur das gleiche bekommt wie ein Hartz IV - Empfänger. Trotz dieser teilweise unkoscheren Motive ist der Einführung eines Mindestlohns auf der Basis westeuropäischer Standards zuzustimmen, schon weil andernfalls die Gefahr besteht, dass die vom gesunden Volksempfinden eingeklagte Differenz zwischen Löhnen und Arbeitslosengeld durch eine Absenkung von letzterem realisiert wird. Hinzu kommt, dass ein solcher Mindestlohn die vereinzelten Arbeitslosen vor den derzeitigen Zumutungen der Arbeitsagenturen bewahren könnte, jede Arbeit zu jedem Hungerlohn annehmen zu müssen, und insofern auch ein gewisser Schutz vor dem Zwang zur Arbeit wäre. Dass damit Arbeitsplätze im Niedrigstlohnbereich wegfallen, ist nur zu begrüßen.

Die Vorgänge im Anschluss an den Bundestagsbeschluss für einen Mindestlohn für Briefzusteller verweisen im Übrigen darauf, wie weit sich nicht nur die Armut, sondern auch die Krise der Kapitalakkumulation bereits ausgeweitet hat: Die Geschäftsmodelle der Postkonkurrenten beruhen offenbar auf Hungerlöhnen, ohne zusätzliche Arbeit zu schaffen, oder glaubt jemand, es würden auch nur anderthalb mal so viel Briefe verschickt, wenn es dreimal so viele Briefträger gibt? Entweder würden daher Arbeitsplätze von der Post in den Billiglohnbereich verlagert, oder es gäbe mehr Briefzusteller, die dieselbe Anzahl von Briefen austragen, was bereits unter dem Aspekt betriebswirtschaftlicher Effizienz keinen Sinn ergibt: Wenn jetzt dreimal am Tag ein Postbote bei uns einen Brief abliefert, wie es hin und wieder schon passiert, fragt man sich doch, warum sich die drei nicht zusammentun und das in einem Arbeitsgang erledigen. Das erinnert sehr an die Heizer auf Elektroloks, die britische Gewerkschaften einmal tariflich aushandelten, um Arbeitsplätze zu retten, bevor dann Margaret Thatcher kam. Man nennt so etwas wohl unproduktive Arbeit. Zusätzlicher Mehrwert jedenfalls wird dadurch nicht geschaffen, und darum geht es auch schon gar nicht mehr. Vielmehr soll, auf Kosten der Konkurrenten und durch Kombilöhne auch noch staatlich gefördert, ein zusätzlicher Anteil der schrumpfenden Mehrwertmasse in die eigenen Taschen gelenkt werden.

Bei diesen Jugendlichen handelt es sich durchweg um Personen, die in Deutschland geboren wurden und ihre gesamte in die Kriminalität führende Sozialisation hierzulande durchlaufen haben. Das auf frühzeitige Selektion getrimmte und Kinder mit „Migrationshintergrund“ in besonderer Weise benachteiligende deutsche Schulsystem hat es ihnen schon als Elfjährigen schriftlich gegeben, dass sie in diesem Leben leider nicht mehr gebraucht werden, sondern zu den vom Kapitalismus regelmäßig produzierten Überflüssigen gehören (vgl. den Beitrag von Roswitha Scholz in diesem Heft). Hinterher wundert man sich scheinheilig über mögliche Folgen, die so unerwünscht vielleicht gar nicht sind, schließlich belegen sie nun auch empirisch die zivilisatorische Überlegenheit der „deutschen Leitkultur“.

Zu einer Romantisierung der von der Gesellschaft Ausgespuckten besteht freilich kein Anlass. Von Widerständigkeit gegen die ihnen auferlegten Zumutungen kann keine Rede sein, wie sollte es auch, wurde sie doch gebrochen, bevor sie überhaupt aufkommen konnte. Mit den ihnen verbliebenen Mitteln rufen sie bloß die andressierten bürgerlichen Tugenden ab: Eigennutz, Durchsetzungsfähigkeit, Männlichkeit. In ihren Gewalttaten zeigt sich die inzwischen erreichte Verwahrlosung des männlichen Konkurrenzsubjekts, wie sie auf der anderen Seite und nach seinen Möglichkeiten ein Roland Koch repräsentiert. Deshalb handelt es sich im Übrigen bei der skandalisierten „Gewaltbereitschaft“ auch um ein allgemeines kapitalistisches Phänomen, das sich keineswegs auf Jugendliche mit migrantischer Herkunft beschränkt, wie in Teilen des medialen Diskurses suggeriert wird.

Angesichts der Schwierigkeit, Leute, die mit ihren „Herkunftsländern“ so gut wie gar nichts mehr zu tun haben oder gar deutsche Staatsbürger sind, einfach abzuschieben, wie von Koch zunächst gefordert, wird jetzt der Ruf nach dem Lager laut, das in der bürgerlichen Gesellschaft eine lange und in Deutschland bekanntlich eine besondere Geschichte hat. Deshalb wird es neuerdings auch beschönigend „Camp“ genannt, was allerdings eine sofortige Distanzierung von den USA und ihren „bootcamps“[1] erforderlich macht. Also doch lieber deutsch? Die CDU propagiert als Modell das nordhessische „Trainingscamp“ des ehemaligen Boxers Lothar Kannenberg. Das laut seinem Erfinder „aus dem Bauch heraus“ entwickelte Konzept dieser „Jugendhilfeeinrichtung“ besteht darin, den Insassen neben Ordnung, Drill und Kampfsport auch die ihnen bisher fehlende „Wärme und Geborgenheit“ eines Männerbundes zu bieten. Über die Karrieren, die den daraus Entlassenen offen stehen, darf spekuliert werden.

Bloß funktioniert das nicht. Man könnte sagen: Dieser Versuch einer Durchorganisation des Gymnasiums nach den Grundsätzen des gewöhnlichen kapitalistischen Betriebs hat die Rechnung ohne die Wertabspaltung gemacht, die jeder Kapitalverwertung vorausgesetzt ist. Die von späterer gesellschaftlicher Überflüssigkeit bedrohten und mit einer aus Schulstunden und Hausaufgaben zusammengesetzten 40-50-stündigen Wochenarbeitszeit belasteten Kinder und Jugendlichen, denen jedes Refugium genommen ist, reagieren massenhaft mit Stress-Symptomen wie Magenbeschwerden, Kopfschmerzen und Schlafstörungen. Und die Mittelschichts-Familien, deren Funktion doch eigentlich darin besteht, für den Arbeitsstress dadurch wieder fit zu machen, dass er vor der Haustür bleibt, müssen ihn sich qua gemeinsamer Bewältigung der schulischen Anforderungen in die eigenen vier Wände holen.

Die darüber inzwischen auch in neoliberalen Organen wie dem SPIEGEL und der FAZ mehrfach vorgebrachte Klage über den „Diebstahl der Kindheit“ macht deutlich, dass systemimmanent nichts mehr geht: Einerseits resultiert die nur noch an betriebswirtschaftlichen Input-Output-Modellen orientierte Organisation des Bildungssystems aus der Angst vor dem Zurückfallen in der globalen kapitalistischen Konkurrenz. Auf der anderen Seite wird inzwischen die reale Gefahr gesehen, dass ebendieses System Absolventen hervorbringt, die – vom Burnout-Syndrom befallen, noch bevor sie es verlassen haben – als konkurrenzfähige Arbeitskräfte niemals zu gebrauchen sein werden.

Ein prominentes Beispiel für einen solchen Vorgang liefert John Holloway in seinem Buch „Die Welt verändern, ohne die Macht zu ergreifen“ (zur Kritik vgl. Robert Kurz in EXIT! Heft 4, 87 – 99). Während Holloway sich dort im vierten Kapitel noch zustimmend, wenn auch unzureichend auf den Marx‘schen Begriff des Fetischismus bezieht, ersetzt er ihn ein Kapitel später vollständig durch den nur noch handlungstheoretisch verstandenen Begriff der „Fetischisierung“. Damit wird zwar erfasst, dass der Warenfetisch durch die auf Ware und Geld bezogenen Handlungen der Individuen immer wieder neu hergestellt werden muss, was ja richtig ist. Unterschlagen bzw. negiert wird dagegen die umgekehrte Bewegung, mit der zusammen sich erst die Dialektik des Gesamtprozesses entwickeln kann, also die Rückwirkung des Fetischs und der ihn konstituierenden Handlungen (vgl. den Beitrag von Eske Bockelmann in diesem Heft) auf die unter ihm Agierenden und seine Verfestigung in den von der Wertabspaltung geprägten Strukturen des bürgerlichen Subjekts und der Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft. Bei Holloway stehen dem Fetisch die von ihm letztlich nur äußerlich affizierten Menschen gegenüber, die in ihrer Unmittelbarkeit auch ganz anders könnten, und das also nur endlich mal tun müssten. So kann aus einem Kind, das nach den an der Supermarktkasse ausgestellten Süßigkeiten greift, ohne ans Bezahlen zu denken, ein revolutionäres Subjekt werden. Man fragt sich dann allerdings schon, wie sich die Warenform so lange hat halten können. Hier ist wohl eindeutig der Wunsch, den Kapitalismus auf einfache Weise loswerden zu können, der Vater des Gedankens gewesen. Oder umgekehrt: Der Gebrauchswert einer solcher Theorie besteht ausschließlich darin, einer bestimmten immanenten Praxis der Widerspruchsbearbeitung vorzugaukeln, sie sei immer schon antikapitalistisch.

Einen parallelen Versuch ähnlicher Art haben Stefan Meretz und Ernst Lohoff in Krisis 31 vorgeführt. Die Szene, die damit bedient werden soll, ist die als „Ökonux“ firmierende Ideologisierung der „Freien Softwarebewegung“. Dort wird (etwas allgemeiner gefasst unter www.keimform.de) schon länger die Wunschidee vertreten, der Kapitalismus würde hinter dem Rücken seiner Subjekte „das Neue im Alten“ hervorbringen, das dann unverändert in die befreite Gesellschaft übernommen werden oder diese gar auf dem Wege einer kampflosen Ausbreitung herbeiführen könne. Bei diesem strukturtheoretischen Gegenstück des Postoperaismus bedarf es noch nicht einmal einer bewussten Veränderung des Handelns, das allenfalls flexibel an die jeweils neuesten technologischen Konzepte anzupassen ist; es bleibt nur noch die Aufgabe, „das Neue“ zu suchen, wobei man in der „Freien Software“ ja bereits fündig geworden ist, auch wenn diese inzwischen zum Geschäftsmodell global agierender Konzerne geworden ist. Konsequenterweise müsste diese Ideologie in Bezug etwa auf die gerade aktuell gewordene Konkurrenz zwischen Google und Microsoft um die Vorherrschaft im Internet darauf hinauslaufen, in dem einen Konzern, der seine Produkte kostenlos zur Verfügung stellt und sich aus Werbeeinnahmen finanziert, das „Neue“ und in dem anderen, der seine Nutzer für Lizenzen bezahlen lässt, das „Alte“ und damit in den Übernahmeschlachten von global players den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse zu sehen.

Es versteht sich fast von selbst, dass der in Krisis 31 unternommene Versuch, diese Ideologie mit der Kritik der politischen Ökonomie in Beziehung zu setzen und zu unterfüttern, zu noch größeren Verrenkungen führt, als sie bei einem Holloway zu besichtigen sind: Dazu mussten so genannte „Universalgüter“ erfunden werden, die zwar „Bezahlgüter“ aber keine Waren mehr seien, weil sie nicht getauscht, sondern nur in Kopie zur Verfügung gestellt würden. Diese Rabulistik hat ihre Protagonisten vor allem selber in Verwirrung gestürzt, denn die Frage, „ob Universalgüter als Nicht-Tauschgüter und damit Nicht-Waren trotzdem Warenform besitzen können“, ist zwischen ihnen „nicht geklärt“ (Krisis 31, 55, Fußnote 3); eine Frage, die den blanken Unsinn einer essenziellen Unterscheidung zwischen „Ware sein“ und „Warenform haben“ zu ihrer Voraussetzung hat. Auf die Klärung, der vielleicht das nächste Krisis-Heft gewidmet sein könnte, sind wir sehr gespannt. Zur genaueren Auseinandersetzung mit dieser neuesten Wendung einer der kapitalimmanenten Praxis hinterher laufenden „Wertkritik“ vgl. den Beitrag von Robert Kurz in diesem Heft.

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