EXIT! Krise und
Kritik der Warengesellschaft Heft 6
Inhalt
Editorial
Claus
Peter Ortlieb
Ein
Widerspruch von
Stoff und Form
Zur Bedeutung der Produktion des
relativen Mehrwerts
für die finale Krisendynamik
Die
letzte Krise des
Kapitals? Eine Kontroverse · Produktivität, Wert
und stofflicher Reichtum · Die
Produktion des relativen Mehrwerts · Die Entwicklungstendenz
des relativen
Mehrwerts · Wachstumszwang, historische Expansion des
Kapitals und stoffliche
Grenzen · Wachstumszwang und Umweltzerstörung
· Fazit
Roswitha
Scholz
Gesellschaftliche
Form
und konkrete Totalität
Zur Dringlichkeit eines
dialektischen Realismus heute
Konkrete
Totalität bei
Georg Lukácz · Konkrete Totalität bei
Theodor W. Adorno · Konkrete Totalität
bei Moishe Postone · Konkrete Totalität und
Wert-Abspaltungskritik · Fetisch-
und Verdinglichungskritik als falsche Unmittelbarkeit bei John Holloway
·
Antidialektische Unmittelbarkeit bei Hardt/Negri und Badiou
· Die falsche
Wiederkehr der Dialektik nach ihrem vermeintlichen Ende · Fazit: Plädoyer
für einen dialektischen
Realismus heute jenseits traditioneller Schematismen
Carsten
Weber
Zwischen
Hammer und
Amboss
Die fetischistischen
Herrschaftsverhältnisse der
chistlich-europäischen Kultur als komplementäre
Leidens- und
Verblendungszusammenhänge
Zum
Ursprung des
vormodernen Fetischverhältnisses · Hierarchische
Ungleichheit in der Familie ·
Exkurs I : Die Forderung nach und die Erziehung zu bedingungslosem
Gehorsam als
Gewähr für die Perpetuierung gesellschaftlicher
Herrschaftsverhältnisse ·
Ständisch-hierarchische Ungleichheit im
grundherrschaftlich-ruralen
Lebenszusammenhang · Transformationen · Exkurs II
: Bäuerliche
Emanzipationskämpfe in der Vormoderne ·
Résumé
Robert
Kurz
Die
Kindermörder von
Gaza
Eine Operation
„Gegossenes Blei“ für die empfindsamen
Herzen
Moralische
Asymmetrie
und historische Analyse · Die affektive Gewalt des
kollektiven antijüdischen
Unbewussten · Der Doppelcharakter des Staates Israel
· Die positive und
negative Identifizierung Israels mit dem Weltkapital ·
Unmögliche Anforderungen
einer Realparadoxie · Die israelische Staatsräson
in den Kriegen gegen Hamas
und Hisbollah · Antiisraelische Weltmeinung und ideologische
Zersetzung der
Linken · Eine „dritte Position“, die
keine ist · Schuld und Sühne oder
historisch vermittelte radikale Kritik? · Eine Herz
für das Scharia-Regime ·
Determinismus des Bewusstseins und Heldenrolle · Der
Stellvertreterkonflikt und
die Demoralisierung der Kapitalismuskritik ·
Anti-Israelismus – die Matrix eines
neuen Antisemitismus · Die Linke als Dr. Jekyll und Mr. Hyde
Gerd
Bedszent
Grüner
Malthus
Udo
Winkel
Nationalsozialismus
und
Vernichtungskrieg
Ein Literaturbericht
Udo
Winkel
Marx-Diskurse
in der
Krise
Ein kleiner Streifzug
Editorial
In diesen Zeiten ist es geradezu
langweilig, ein
Editorial zu schreiben, zumal die EXIT!-Editorials stets mehr waren als
eine
kurze Hinleitung zu den einzelnen Artikeln und immer auch die aktuelle
Szenerie
in der jeweiligen Situation etwa hinsichtlich der
Oberflächen-Entwicklung
kursorisch einzufangen trachteten. Mittlerweile ist es aber ein wenig
müßig,
einzelne Momente zu skizzieren, in denen sich ein lange Zeit stets
verleugneter
gesellschaftlicher Krisenprozess in seinen aktuellen Verlaufsformen
jeweils
äußerte; ist der historische Charakter dieser Krise
doch mittlerweile
unübersehbar geworden. Termini wie Kollaps und
„Crashkurs“, die Prognose
eines Wegbrechens
ganzer Branchen etc.,
für die eine wertkritische Krisentheorie seit den 1990er
Jahren notorisch als
unseriös und hysterisch überzogen gescholten wurde,
sind in den letzten Monaten
TagesschausprecherInnen oder Börsenhändlern locker
über die Lippen gegangen,
und entsprechende Einschätzungen finden sich längst
in der bürgerlich-honorigen
Mainstream-Presse.
Wenn Claus Peter Ortlieb in
EXIT! Nr. 2 (2005) am
Anfang des Editorials schrieb: „Krise
allenthalben“, so gilt dies heute umso
mehr. Deshalb bedarf es hier keiner Details zum aktuellen Krisenstand.
Die
Situation ist schnell skizziert. Man könnte sagen:
„Soviel Krise war nie“,
analog zum Anfangssatz im „Kollaps der
Modernisierung“ von Robert Kurz: „Soviel
Ende war nie“ (Frankfurt 1991) – angesichts des
Realwerdens der dort gestellten
Prognosen. Das Ende des Realsozialismus verblasst nunmehr als epochale
Erschütterung.
Der Kapitalismus als Weltsystem, der damals noch einmal so richtig
neoliberal
auftrumpfen konnte, ist jetzt vom inneren Selbstwiderspruch seiner
eigenen
Dynamik in einem von den meisten (auch linken) Diskursen
unvorhergesehenen
Ausmaß ereilt worden. Auch wenn er deswegen nicht
„morgen früh“ zusammenbricht,
hat sich seit dem Herbst 2008 mit dem Bankrott von Lehman Brothers, dem
nachfolgenden Domino-Effekt im globalen Finanzsystem und der neuen
Weltwirtschaftskrise jede selbstzufriedene Gewissheit einer ewig
regenerationsfähigen Verwertung auch noch als
„Kasinokapitalismus“ blamiert.
Zur aktuellen Lage ist
allenfalls zu sagen, dass
sie im gesellschaftlichen Bewusstsein noch weitgehend
verdrängt wird. Die
Leerstelle einer sozialistischen Alternative, ja überhaupt
jedes ernsthaften
Gedankens in dieser Hinsicht, macht sich nicht zuletzt daran bemerkbar,
dass
Konzernbelegschaften auf den für sie fühlbar
gewordenen Einbruch hilflos und
betriebswirtschaftlich borniert mit T-Shirt-Aufschriften reagieren: Wir
sind
Opel, wir sind Arcandor, rettet uns! Hätte Merkel jemals
gedacht, dass
ausgerechnet ihre Regierung Honecker-artig Banken verstaatlichen und
die
Warenproduktion staatlich verwalten bzw. in wachsendem Umfang
subventionieren
muss? Verkniffenes Hohngelächter allenthalben, aber keine
Perspektive.
Rettungspakete und Konjunkturprogramme sind nicht dauerhaft
tragfähig und
modifizieren nur den weiteren Krisenprozess, dessen neue
Qualität nicht mehr in
die früheren Verlaufsformen der Finanzblasen-Ökonomie
gelenkt werden kann.
Bezeichnend die Frage von Finanzminister Steinbrück:
„Wie kriegen wir die Zahnpasta
in die Tube zurück?“.
Wenn der abgehalfterte
Keynesianismus wieder
Konjunktur hat, ist das selber ein Krisensymptom. An der inneren
Schranke des
Kapitalismus sind solche Vorstellungen noch viel illusionärer
als in der
fordistischen Phase, der auch der sogenannte Realsozialismus noch
angehörte.
Nur scheinbar holt uns eine Zeit ein, die unwiederbringlich vorbei ist.
Die
erneut imaginierte Omnipotenz des Staates ist ökonomisch hohl,
wie sich nicht
nur an den osteuropäischen Menetekeln wie Lettland, Ungarn
usw. zeigt, sondern
auch in den westeuropäischen Ländern der EU und in
den USA. Die sozial
dämpfenden Maßnahmen hierzulande, von der
Abwrackprämie bis zur Kurzarbeit,
stehen eher im Zeichen des Wahlkampfs als einer wirklichen
Bewältigungskraft.
Nach der Bundestagswahl ist der Übergang zu einer
verschärften, alles andere
als sozial „weichen“ Notstandsverwaltung zu
erwarten. Das weiß im Grunde jedes
Kind. Je mehr die Unbeherrschbarkeit der Situation offenbar wird, desto
rücksichtsloser bereiten sich die Staatsapparate auf ein
Aufbegehren vor, das
überhaupt nicht sichtbar ist. Schon in den letzten Jahren
wurde der
Sicherheits- und Überwachungsstaat (biometrische Ausweise
etc.)
aufgerüstet. In diesem Zusammenhang
lässt sich auch die ökologische Problematik
vortrefflich für eine
krisenverwalterische Verzichtsideologie instrumentalisieren, flankiert
durch
einen „ökologischen Reduktionismus“ von
links. Schon vor der neuen
Weltwirtschaftskrise sollten die Unterschichten auf eine
„gesunde“
Billigernährung durch Kraut, Rüben und Nudeln nach
Öko-Rezepten – alles
liebevoll erdacht von professionellen Hartz-IV-Köchen
– eingeschworen werden.
Vielleicht gerade deshalb geben
momentan die
gesellschaftliche Atmosphäre und die ideologischen Reaktionen
mehr zu denken
als der ökonomische Krisenverlauf. Es herrscht eine Stimmung
nach dem Motto:
Alle reden von Krise und keiner geht hin. Nicht nur für das
Management und die
politische Klasse sind möglichst
„unaufgeregter“ Krisenpragmatismus und
„business as usual“ angesagt. „Kannit
verstan“ (Johann Peter Hebel) und „Fürst
Prospero“ (Edgar Allan Poe – vgl. den schon 1995
erschienenen Text „Die Maske
des roten Todes“ von Roswitha Scholz, zu finden auf der
EXIT!-Homepage) sind
Leitparadigmen; die Einigelung im eigenen Alltags- und Gewohnheitsmief
soll das
drohende gesellschaftliche Verhängnis
„draußen bleiben“ lassen. Und das in der
Ahnung oder sogar Gewissheit, dass die „Pest“ der
Krisenwahrheit letztendlich
auch die in den vergangenen Jahrzehnten noch im Zeichen der
Finanzblasen- und
Kreditökonomie aufstiegswilligen Mittelschichten ereilen wird.
Die Hoffnung, dass der Spuk bald
vorbei sein möge,
klammert sich an tröpfelnde Entwarnungsdiskurse. Steigen nicht
abermals die
Börsenkurse? Und bekommen die Kleinanleger bei der bankrotten
isländischen
Kaupthing-Bank nicht bereits ihre Einlagen zurück? Man
schwärmt vom „Erreichen
der Talsohle“, und die zeitweilig kleinlaut gewordenen
Auguren der
Wirtschaftsinstitute wagen schon wieder die Prognose vom Licht am Ende
des
Tunnels. Viel wahrscheinlicher dürfte sein, dass das
Sommerloch 2009 nur eine
kleine Pause gewährt. Eine große Krise
verläuft nicht linear, sondern in
Schüben. Der nächste Schub deutet sich an, wenn die
Krise im vollen Umfang die
Arbeitsmärkte erreicht, die Konjunkturprogramme auslaufen und
die Rettung vor
den Folgen der Rettungspakete auf die Tagesordnung kommt.
Gleichzeitig zeigt sich, dass
eigentlich niemand
so recht an die dennoch gern gehörte Beschwörung
keynesianischer Regulation
glaubt. Dass sie bloß die bessere SPD sein will, hat sich
für die Linkspartei
nicht ausgezahlt. Das politische „Establishment“
hat deren „Gerechtigkeits“-Phrasen
und nationalen Rettungsideologien längst vereinnahmt und
mitten in der
Krisenverwaltung sein Herz fürs Soziale entdeckt, was mit
einem ausgrenzenden
Sozialdarwinismus durchaus einhergeht. Im Klartext: Gut, ja lebenswert
ist
allein, was der imaginierten intakten (nationalen) Gemeinschaft
nützt, die
„gestärkt aus der Krise hervorgehen“
(Merkel) soll. Weil die Kritik und die
Alternativen so dünn und gesellschaftlich schwach sind, gibt
es gar keine
Versuchung, den Kapitalismus grundsätzlich in Frage zu
stellen, während
andererseits die (links)sozialdemokratische Rettungsagenda mehr als
zweifelhaft
erscheint. Viel verlockender ist der Gedanke, dass alles so weitergeht,
wenn
eine liberalkonservative „Macher“-Crew die
Zügel in die Hand nimmt, wie sich in
der BRD an der derzeit stabilen demoskopischen Mehrheit für
CDU/CSU und FDP
zeigt.
Die Linke, die vom historischen
Kriseneinbruch
genauso überrascht wurde wie die offiziellen Institutionen,
schwankt zwischen
jüngst hörbar gewordenen Tönen, dass
„irgendwie“ doch mit einem Ende des Kapitalismus
zu rechnen sei (selbst wenn dabei nicht wertkritisch argumentiert wird,
sondern
eine anachronistische Deutung von
„Klassenherrschaft“ überwiegt) einerseits
und
einem altbekannten Ableugnen des fundamentalen Charakters der Krise
andererseits. Vielleicht findet sogar die stärkste
Ontologisierung des
Kapitalismus in der Linken statt, soweit es um die basalen
gesellschaftlichen
Formen geht. Nachdem es mit den traditionellen Revolutionsvorstellungen
in der
Vergangenheit nicht geklappt hat und der Kapitalismus sich scheinbar
endlos
hinziehen konnte, sitzt der Gedanke von seiner
Integrationsfähigkeit als
„autopoietische“ ewige Selbsterneuerung á
la Systemtheorie tief.
Dennoch
hat sich in diesen Glauben ein gewisses Unbehagen eingeschlichen. Schon
in den
sozialen Verwerfungen der letzten Jahre erheischte das sogenannte
„Materielle“
unerbittlich Aufmerksamkeit und die Rede vom Ende des (postmodernen)
„cultural
turn“ machte die Runde. „Marx lesen“ gilt
auch bei den Jüngeren wieder als
„cool“. Und so tauchen als Gegentendenz zum
bisherigen linken Mainstream in
politologischen und soziologischen Perspektiven auf einmal Kategorien
wie die
der gesellschaftlichen „Form“ auf; eine Dimension,
von der eine vornehmlich
kapitalismusgewisse linke Positionierung bis dato nichts wissen wollte.
Plötzlich wird es recht grundsätzlich, obwohl gerade
die
wert-abspaltungskritische Theorie weiterhin abgewehrt, ignoriert oder
bloß
eklektisch (und oft ohne ausdrücklichen Bezug) vereinnahmt
wird.
Der Terminus
„Wertkritik“ wurde in den 1990er
Jahren vor allem mit einem Standpunkt identifiziert, der die Kritik an
den
Basiskategorien von abstrakter Arbeit, Wertform und Kapitalform als dem
„automatischen Subjekt“ (Marx) betonte; im
Gegensatz zur verkürzten,
„form-ontologischen“ Kritik des Kapitalismus als
äußerlicher Klassenherrschaft
und juristischem Eigentumsverhältnis im traditionellen
Arbeiterbewegungsmarxismus. Vor diesem Hintergrund wurde schon seit der
zweiten
Hälfte der 1980er Jahre die Theorie einer historischen inneren
Schranke der
Kapitalverwertung entwickelt. In dem Maße, wie diese Schranke
nun auch an der
gesellschaftlichen Oberfläche real zu Tage tritt, wird der
wertkritische Ansatz
nicht einfach aufgenommen und weiterentwickelt, sondern in
gegensätzliche
Richtungen „ausdifferenziert“, die teilweise schon
eine eigene jüngere
Geschichte haben. Es werden so die Konturen einer unausweichlichen
Auseinandersetzung deutlich, wobei der Status und Inhalt der
Krisentheorie eine
große Rolle spielt.
Eine Folie bildet die sogenannte
„neue
Marx-Lektüre“, die sich eine kritische
Rekonstruktion der Marxschen Theorie auf
die Fahnen geschrieben hatte, schon Ende der 1960er Jahre durch
Hans-Georg
Backhaus und Helmut Reichelt im Gefolge einer Rezeption der Kritischen
Theorie
Adornos ihren Ausgang nahm und bis Anfang der 1980er Jahre zu verebben
schien,
während seit einigen Jahren von ihr wieder viel die Rede ist.
Auch die Arbeiten
von Moishe Postone werden in diesem Zusammenhang genannt. Dieser Ansatz
verstand sich als vorwiegend philologische Bemühung um den
Charakter und die
Widersprüche der Marxschen Texte; er erhob deshalb auch nicht
den Anspruch
eines umfassenden neuen Paradigmas (etwa hinsichtlich der
Aufklärungsphilosophie, des Subjektbegriffs, des
Geschlechterverhältnisses, der
historischen Analyse und Standortbestimmung etc.), wie er von der
wert-abspaltungskritischen Theorie vertreten wird. Insbesondere fehlt
gerade
bei den „Klassikern“ dieser Position auch innerhalb
der Marx-Philologie der
krisentheoretische Aspekt fast vollständig. Im Zuge der Abwehr
einer
Wertkritik, die das Geschlechterverhältnis in Gestalt der
Abspaltungstheorie
auf der grundsätzlichen Ebene aufgenommen hat und gleichzeitig
eine radikale
Krisentheorie formuliert, wird die „neue
Marx-Lektüre“ (NML) gerade auch in
ihrer jüngeren Weiterentwicklung vor allem durch Michael
Heinrich gern als
akademisch kompatible und viel „seriösere“
Alternative gehandelt; „echte
Kenner“ wissen mittlerweile genau, was mit dem
Kürzel NML gemeint ist.
Im Spannungsfeld von NML und
Wertkritik lassen
sich dabei gegenwärtig idealtypisch vier unterschiedliche
Positionen ausmachen:
- Die sogenannte
„antideutsche“ Richtung (Grigat,
Scheit, Bruhn u.a.), ausgehend von einer Art
„Adorno-Orthodoxie“, die einst als
ein Herd der „neuen Wertkritik“ galt, allerdings
von Anfang an auf eine neue
Deutung der Kritik der politischen Ökonomie verzichtete und
gleichzeitig die
wertförmig konstituierte Vernunft der bürgerlichen
Aufklärung (durchaus ähnlich
wie der Arbeiterbewegungsmarxismus) als positives
„Erbe“ affirmieren wollte.
Die radikale wertkritische Krisentheorie wird auf der kategorialen
Ebene der
Ökonomiekritik abgelehnt, während mittlerweile
durchaus vom drohenden
„Ausnahmezustand“ die Rede ist, dessen Bedingtheit
im Dunkeln bleibt. Gleichzeitig
erscheint gegenüber den barbarisierenden Folgen der realen
Krise der
Kapitalismus pseudo-“realpolitisch“ als kleineres
Übel.
- Eine Reformulierung der
Kritik der politischen
Ökonomie, die sich im Kontext der NML selber nicht explizit
als wertkritisch
versteht, aber dennoch eine philologisch erschlossene Formkritik
behauptet
(Wolf, Elbe, Heinrich). Geradezu im Gegensatz zur
„antideutschen“ Richtung
lehnt sich dieser Ansatz in epistemischer Hinsicht weitgehend an ein
popperianisch-positivistisches Wissenschaftsverständnis an (in
bewusster
Absetzung von Adornos Position im
„Positivismusstreit“). Dabei machen sich
Bestrebungen bemerkbar, eine Formkritik reduktionistisch mit einer
(alten)
Klassenperspektive wieder in Einklang zu bringen (siehe etwa Sven
Ellmers,
Die formanalytische
Klassentheorie von
Karl Marx, Duisburg 2007, und Ingo Elbe, Marx im Westen, Berlin 2008);
auch vor
dem Hintergrund eines Marxverständnisses, das Struktur und
Geschichte
gegeneinander ausspielen und Marx teilweise als
„strukturalistischen
Positivisten“ von der Dialektik
„erlösen“ möchte, die bei den
Klassikern der
NML noch eine zentrale Rolle gespielt hatte. Die wertkritische radikale
Krisentheorie wird von dieser Richtung ebenso wie von den
„Antideutschen“
grundsätzlich abgelehnt, weswegen sie bei letzteren trotz des
epistemischen
Gegensatzes gern als philologische Referenz auftaucht.
- Eine aus der Spaltung des
alten
„Krisis“-Zusammenhangs hervorgegangene Wertkritik,
die sich teilweise noch auf
die radikale Krisentheorie beruft, während diese andererseits
von bestimmten
Protagonisten vor allem im Dunstkreis der Wiener
„Streifzüge“ (Exner) bereits
zurückgenommen wird. Die theoretische Begründung auf
der begrifflichen Ebene
der Kritik der politischen Ökonomie verblasst dabei, ebenso
wie die Theorie der
geschlechtlichen Abspaltung teils ignoriert, teils offen abgelehnt und
teils
androzentrisch-universalistisch als „abgeleitetes“
Moment verballhornt wird.
Stattdessen macht sich ein Herunterbrechen auf eine
„lebensreformerische“ und
alternativideologische Praxisorientierung geltend, die sich mit
„lebensphilosophischer“ Ideologie anreichert und in
eine Alltags- und
Betroffenheitsduselei mündet. Selbstapologetisch wird zwar
teilweise noch die
Wichtigkeit von distanzierter Theorie betont; aber das
„wirkliche Leben“,
worauf es letztlich ankommt, findet eben woanders statt. Im
Zweifelsfall
überwiegt die Orientierung am schnöden
(männlichen) Alltag.
- Die Position der
Wert-Abspaltungskritik, die
einen Gegenpol zu den hier angesprochenen
„formkritischen“ Diskursen bildet,
während diese einer ernsthaften inhaltlich-theoretischen
Auseinandersetzung
damit eher ausweichen, obwohl sie darin in gewisser Weise einen
gemeinsamen
Gegner erkennen. Von dieser Position wird die Theorie einer
historischen
inneren Schranke des Kapitalismus nicht nur ungebrochen behauptet,
sondern auch
theoretisch genauer zu begründen versucht. Gleichzeitig geht
es im Kontext der
Theorie der geschlechtlichen Abspaltung um ein grundsätzlich
neues Verständnis
gesellschaftlicher Totalität. Hinsichtlich der
Herangehensweise weist die
Wert-Abspaltungstheorie einen positivistischen Wissenschaftsbegriff
ebenso
zurück wie eine Orientierung an der
Aufklärungsvernunft, während sie sich
gegenüber der „lebensphilosophischen“
Regression mit der auf Adorno bezogenen
Kritik der „falschen Unmittelbarkeit“ verbunden
weiß. Es ist ihr aber nicht
bloß um eine abstrakte Erkenntniskritik in diesem Sinne zu
tun, sondern in der
konkreten historisch-gesellschaftlichen Analyse um eine
Berücksichtigung der im
allgemeinen Begriff des Wert-Abspaltungsverhältnisses nicht
aufgehenden Momente
und Ebenen von spezifischen Geschlechterhierarchien, sozialen
Disparitäten und
Ideologiebildungen, die über eine abstrakte Form-Affirmation
hinausgehen (Rassismus,
Sexismus, Antisemitismus, Antiziganismus). Gerade letztere bleiben in
den
Positionen von NML und
„lebensphilosophisch“-existentialistisch
regredierender
Wertkritik theoretisch unterbelichtet.
Einer genaueren Bestimmung der
hier nur grob
skizzierten Richtungen im Kontext von NML und Wertkritik kann an dieser
Stelle
natürlich nicht nachgegangen werden; die Facetten der
Differenzierung bedürfen
aber einer weiteren Auseinandersetzung. Wer das für einen
überflüssigen Streit
hält, unterschätzt die langfristige Bedeutung von
theoretischen
Klärungsprozessen, die nicht in der Form eines
Habermasianischen
Diskurspazifismus verlaufen können. Es geht dabei nicht um
kleinliche
„persönliche“ Abgrenzungskämpfe,
sondern um die Grundsatzfragen einer neuen
Kapitalismuskritik.
Die konkrete Analyse der
ökonomischen, aber auch
der ökologischen Krise und der sozialen Konflikte im Einzelnen
bleibt dabei
eine eigene Aufgabenstellung. Wer sich in dieser Hinsicht über
aktuelle
wert-abspaltungskritische Ausarbeitungen und Kommentare informieren
will, sei
auf unsere Homepage verwiesen (www.exit-online.org). Die in dieser
EXIT!-Ausgabe versammelten Texte bemühen sich um weiter
gehende theoretische
Bestimmungen zur Kritik der politischen Ökonomie, zur
Erkenntniskritik als
Gesellschaftskritik, zur historischen Analyse und zur Ideologiebildung.
***
In dem krisentheoretischen Text
„EIN WIDERSPRUCH
VON STOFF UND FORM“ setzt sich Claus Peter Ortlieb
mit Robert Kurz'
Aufsatz „Die Krise des Tauschwerts“ von 1986 und
der vor allem von Michael
Heinrich dagegen vorgebrachten Kritik auseinander. Dabei geht es
insbesondere
um die von Marx so bezeichnete Produktion des relativen Mehrwerts, also
des
Mehrwerts, den sich das Kapital durch die Erhöhung der
Produktivität zusätzlich
aneignen kann. Für den Marx der
„Grundrisse“ tut sich im damit verbundenen
Zwang zur permanenten Verringerung der notwendigen Arbeitszeit ein
„prozessierender Widerspruch“ auf, der geeignet
ist, die auf dem Wert beruhende
Produktionsweise „in die Luft zu sprengen“.
Während Heinrich einen solchen
Widerspruch in der Produktion des relativen Mehrwerts nicht zu erkennen
vermag
und den Marx des „Kapital“ gegen den der
„Grundrisse“ ins Feld führt, weist
Ortlieb – wie auf andere Weise schon Kurz 1986 –
nach, dass die im „Kapital“
entwickelte Kategorie des relativen Mehrwerts in der Tat diesen
Widerspruch in
sich trägt: Von einer bestimmten Stufe der kapitalistischen
Entwicklung an ist
es bereits für eine konstante, erst recht aber für
eine wachsende
gesamtgesellschaftliche Mehrwertmasse erforderlich, dass die stoffliche
Produktion mindestens so schnell wächst wie die
Produktivität. Das aber ist
wegen der Endlichkeit der – als materielle Träger
des Werts unabdingbaren –
stofflichen Reichtümer auf Dauer unmöglich. Hierin
liegt der tiefere und im
Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise nicht auflösbare
Grund sowohl für
die Krise der Kapitalverwertung als auch für die
ökologische Krise.
Roswitha Scholz geht es in ihrem Artikel
„GESELLSCHAFTLICHE
FORM UND KONKRETE TOTALITÄT“ um eine
erkenntniskritisch-dialektische Bestimmung
der Wert-Abspaltungstheorie, und zwar gerade nicht im Sinne einer
abstrakt-äußerlichen „Methode“
nach gängigem Wissenschaftsverständnis, sondern
als Einheit von Erkenntnis- und Gesellschaftskritik. Gegenüber
einem
deduktiven, „ableitungslogischen“ Begriff von
Totalität der
Wertvergesellschaftung, wie es auch in der Wertkritik seit den 1980er
Jahren
weitgehend anzutreffen war und bis heute nicht überwunden ist,
wird auf ein
Verständnis der „konkreten
Totalität“ rekurriert, wie es in verschiedener Weise
bei den „Ahnen“ und Klassikern eines wertkritischen
Denkens von Lukács über
Adorno bis neuerdings zu Postone eine nicht zu
vernachlässigende Rolle spielt.
Die gesellschaftliche „Form“ erweist sich erst in
ihrer historisch-inhaltlichen
Entfaltung und könnte ohne diese auch gar keine allgemeine
Bestimmung sein.
Dabei handelt es sich um eine „Totalität der
Empirie“, die im abstrakten
Begriff des Werts bzw. Kapitals nicht aufgeht. Konkrete Analyse-Ebenen
und
Empirie können daher nicht dem Begriff hierarchisch
untergeordnet, ebensowenig
aber gegen diesen ausgespielt werden. Insofern ist auch eine
Herangehensweise
zu kritisieren, die in die „falsche
Unmittelbarkeit“ abstürzt; sei es
alltagszentriert (Holloway), lebensphilosophisch-existentialistisch (Hardt/Negri),
umgekehrt
theologisch-universalistisch (Badiou) oder
„politizistisch“ (Haug). Stattdessen
gilt es angesichts der Schranken des Kapitalismus die aus den linken
Diskursen
lange Zeit verschwundene Dialektik im Sinne eines
„dialektischen Realismus“ neu
zu entdecken.
Die Geschichte aller bisherigen
Gesellschaft ist
die Geschichte von Fetischverhältnissen. So hat die
Wert-Abspaltungskritik
bisher in Abgrenzung zur altmarxistischen Theorie postuliert, ohne dies
auch
für die Vormoderne eingehend zu belegen. In Carsten
Webers Aufsatz
„ZWISCHEN HAMMER UND AMBOSS“ wird zunächst
thesenhaft erörtert, auf welchen
materiellen und ideengeschichtlichen Grundlagen im christlichen Europa
eine
sich verselbständigende apriorische Matrix in der Form einer
Herrschaftsordnung
hierarchischer Ungleichheit entstand, die allen dem Christentum
unterworfenen
Menschen zur zwingenden Normeninstanz wurde. Dabei erweist sich, dass
diese
Matrix, zumindest in wesentlichen Teilen und in neuen Amalgamierungen,
sich in
der Moderne bis weit ins 20. Jahrhundert fortsetzte, so dass die
Menschen
zwischen zwei Fetischvehältnissen, einem modulierten alten und
einem mit
rasanter Dynamik sich entwickelnden neuen, historisch beispiellos
schweren
Bedrückungen ausgesetzt waren, also gewissermaßen
zwischen Hammer und Amboss
gerieten. Im empirisch-historischen Teil des Aufsatzes wird
anschließend
dargelegt, welche Erscheinungsformen die vormoderne Herrschaftsordnung
annahm.
Anhand der Darstellung der hierarchischen Ungleichheitsordnung im
familiären
Haushalt wird deutlich, wie sowohl das eheliche Verhältnis
zwischen Mann und
Frau als auch das Eltern-Kind-Verhältnis und sogar das
herrschaftlich geprägte
Verhältnis des Hausherrn zu den Dienstboten die Jahrhunderte
überdauerte und
bis in die jüngste Vergangenheit fortwirkte. Das
übergreifende Merkmal für alle
diese Verhältnisse war die Forderung nach unbedingtem
Gehorsam, die auf der
Vorstellung basierte, dass Gott selbst alle Herrschaft eingesetzt
hatte: die
des Mannes über die Frau, die des Vaters über die
Kinder und die des Hausherrn
über das Gesinde. Ungehorsam gegenüber diesen
Herrschaftsträgern wurde
konsequenterweise mit Ungehorsam gegen Gott gleichgesetzt. Dies galt
auch für
das Herrschaftsverhältnis zwischen adeligen Grundbesitzern und
hörigen Bauern
bzw. zwischen Landesherren und Untertanen. Der Aufsatz
schließt mit einer
Betrachtung der historischen Emanzipationsbewegungen gegen diese
vormodern
geprägten Herrschaftsverhältnisse. Dabei zeigt sich,
dass ähnlich den Kämpfen
der Arbeiterbewegung im 19. und 20. Jahrhundert der fetischistische
Wesenskern
der Herrschaftsordnung hierarchischer Ungleichheit nicht erkannt und
folglich
auch nicht angegriffen wurde.
In seiner ideologiekritischen
Untersuchung „DIE
KINDERMÖRDER VON GAZA“ setzt sich Robert
Kurz mit linken
Wahrnehmungsmustern des Nahostkonflikts auseinander. Nachdem von
wert-abspaltungskritischer Seite in den vergangenen Jahren der
kapitalistische
Weltordnungskrieg und dessen Affirmation durch die
„antideutsche“ Ideologie
grundsätzlich kritisiert wurde, ist es
überfällig, die Kehrseite dieser
Interpretation ins Visier zu nehmen, deren Träger sich ebenso
affirmativ zur
globalen Wertvergesellschaftung und deren Zerfallsprodukten verhalten.
Diese
Deutungen der Weltlage sind von einem affektiven
„Anti-Israelismus“ geprägt,
gespeist auch aus einem „unbewussten Judenhass“
(Micha Brumlik), wobei der
Judenstaat und dessen militärisches Vorgehen auf eigene
Rechnung gegen Hamas
und Hisbollah einseitig unter das Weltkapital und dessen
Sicherheitsimperialismus subsumiert werden. Dementsprechend erscheint
die
islamistische Barbarei gerade gegenüber Israel nicht mehr als
andere Seite
derselben Medaille des Krisenimperialismus, sondern auf eine geradezu
romantisierende Weise als
„Widerständigkeit“. In diesem Zusammenhang
verblasst
die Folie des alten „Antiimperialismus“ und der
Nahostkonflikt mutiert zum
Stellvertreterkonflikt für eine neo-kleinbürgerliche
„Kapitalismuskritik“, von
der die Weltkrise des Kapitalismus regressiv verarbeitet wird.
Den Abschluss des Heftes bilden Gerd
Bedszents
Rezension „GRÜNER MALTHUS“ des
früheren Spiegel-Bestsellers „Kollaps. Warum
Gesellschaften überleben oder untergehen“ von Jared
Diamond sowie Udo Winkels
Streifzüge durch die Literatur zu den Themen
„NATIONALSOZIALISMUS UND
VERNICHTUNGSKRIEG“ und „MARX-DISKURSE IN DER
KRISE“.
Hinzuweisen ist noch auf zwei
Neuerscheinungen.
Der Eichborn-Verlag hat eine Neuauflage des „Schwarzbuch
Kapitalismus“ von
Robert Kurz herausgebracht, erweitert um einen zusätzlichen
Einleitungstext,
der sich ausführlich mit der Entwicklung seit der Erstauflage
(1999)
beschäftigt, um die neue historische Krisendimension als
Fortsetzung des
Epochenbruchs von 1989 einzuordnen. Der beim Unrast-Verlag
herausgekommene
Sammelband „Antiziganistische Zustände. Zur Kritik
eines allgegenwärtigen
Ressentiments“ (Hrsg. Markus End, Kathrin Herold, Yvonne
Robel) enthält aus
verschiedenen Perspektiven zahlreiche Beiträge zu Begriff,
Geschichte und
aktuellen Erscheinungsformen des Antiziganismus, darunter den Text von
Roswitha
Scholz über „Antiziganismus und Ausnahmezustand. Der
>Zigeuner< in der
Arbeitsgesellschaft“.
Roswitha Scholz für die
EXIT!-Redaktion
im August 2009