EXIT! Krise und Kritik der Warengesellschaft
Heft 10, Dezember 2012
Inhalt
Editorial
Zur Erinnerung an Robert Kurz
Zum Tod von Alfred Schmidt
Zum Tod von Eric Hobsbawm
Robert Kurz
KRISE UND KRITIK
Die innere Schranke des Kapitals und die Schwundstufen des Marxismus.
Erster Teil
Vorwort
Einleitung
1. Die Krisentheorie in der Geschichte des Marxismus
2. Dem Kapital geht’s bestens. Situative Krisenignoranz als
Mangel der historischen
Zeitdimension
3. Mythologisierung der Zusammenbruchstheorie
4. Die apokalyptischen Reiter
Elmar Flatschart
EIN APOSTELBRIEF ZWISCHEN SZIENTISMUS UND HISTORISMUS
Zur kritische Aufarbeitung der
„Marxismus-Mystizismus“-Debatte zwischen Ingo Elbe
und den „marxistischen Theologen“
1. Das Problem des Anfangs in der Kritik der Politischen
Ökonomie
2. Aporien zwischen Szientifischem und Historischem
3. Die Unzulänglichkeit emphatischer Immanenzkonzepte
(antideutscher Mystizismus)
4. Zur Kritik der szientifischen Verabsolutierung bei Ingo Elbe
Georg Gangl
IM DSCHUNGEL
Eine Kritik der theoretischen Grundlagen linker Biopolitik
Foucaultsche Ambivalenzen
Affirmative Biopolitik in Agamben...
… und Esposito
Überaffirmative Biopolitik in der Empire-Trilogie
Schlussbemerkung
Roswitha Scholz
DIE BEDEUTUNG ADORNOS FÜR DEN FEMINISMUS HEUTE
Rückblick und Ausblick auf eine widersprüchliche
Rezeption
Zur Geschichte des Adorno-Bezugs im Feminismus seit den 1970er Jahren
Wert-Abspaltungskritik und „Dialektik der
Aufklärung“
Radikale Aufklärungskritik und die Theorie der Wert-Abspaltung
Daniel Späth
DAS ELEND DER AUFKLÄRUNG: ANTISEMITISMUS / ANTIZIONISMUS,
RASSISMUS UND ANTIZIGANISMUS BEI IMMANUEL KANT
1. Die verschiedenen Bezugsebenen der Ideologiekritik und der
Übergang vom kantischen Sexismus zu seinem Antisemitismus und
Rassismus
2. Theoretische und praktische Vernunft - Antisemitismus und
Antizionismus
2.1 Der Antisemitismus der theoretischen Vernunft
2.2 Der Antizionismus der praktischen Vernunft
2.3. Der Antizionismus der kantischen Religionsschrift „Die
Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“
3. Rassismus und Antiziganismus der Urteilskraft
4. Der Anfang vom Elend
Udo Winkel
DAHMER SEZIERT DIE „UNNATÜRLICHE“
WISSENSCHAFT
Gerd Bedszent
UNTER GEIERN
Ein Buch über Leichen im Keller der kapitalistischen Moderne
Udo Winkel
DER VERGESSENE KOMMUNISTENRABBI
Zum 200. Geburtstag von Moses Hess
EDITORIAL
Mit dem Tod von Robert Kurz haben die Mitglieder unserer Redaktion
einen Freund und Weggefährten und hat unser Projekt seinen
prägenden, die Theorieentwicklung immer wieder vorantreibenden
Kopf verloren. Die damit gerissene Lücke wird sich nicht
schließen lassen, weil kritische Theorie in höherem
Maße noch als andere Tätigkeiten durch die
Persönlichkeit derjenigen geprägt wird, die sie
betreiben. Niemand wird Robert Kurz ersetzen können.
Hoffnung in der nun entstandenen Situation macht vor allem, dass in den
letzten Jahren viele junge Leute den Weg zur wertabspaltungskritischen
Theorie gefunden haben, inspiriert auch und besonders von Robert Kurz'
Büchern und Texten. Die Mehrheit unserer Redaktionsmitglieder
etwa ist nicht älter als dreißig. Das ist zwar kein
Qualitätskriterium, weist aber auf die Fähigkeit zur
möglichen Weiterentwicklung hin.Wir werden also auch
zukünftig und mit neuen Kräften das kapitalistische
Patriarchat in seinem Niedergang kritisch auf den Begriff bringen und
versuchen, zu seiner bewussten Überwindung beizutragen.
Glaubt man den zahlreichen Nachrufen, so scheint sich auch eine
breitere Öffentlichkeit der Bedeutung von Robert Kurz gewiss
zu sein. Ob er selber an den Lobreden seine Freude gehabt
hätte, darf freilich in manchen Fällen bezweifelt
werden, etwa wenn sie von Leuten kommen, die einen Toten für
sich vereinnahmen, mit dem sie in seinem Leben beileibe nichts zu tun
haben wollten. So bezeichnet etwa Spiegel-Online Robert Kurz als
„Erneuerer des Marxismus“ und einen „der
wichtigsten zeitgenössischen linken Theoretiker in
Deutschland.“ Was ja nicht falsch ist, von der
KONKRET-Redaktion aber zurecht so kommentiert wird: „Das
bessere Lob ist, daß der Erneuerer, Publizist, Philosoph,
wichtigste Theoretiker und Denker dem Spiegel und dem ganzen Betrieb
bis zu seinem Todestag als Chaot und linker Spinner galt. Denn nur ein
toter Denker ist ihnen ein guter Denker.“
Ähnlich gelagert ist der Nachruf, der zwei Monate lang auf der
Internetseite www.krisis.org <http://www.krisis.org/>
prangte, als sei nichts gewesen und Robert Kurz immer noch einer von
ihnen. Auch wenn wenigstens angedeutet wird, dass es da so etwas wie
ein „Auseinandergehen“ gab, handelt es sich um den
offensichtlichen Versuch, aus der Prominenz des früheren
Mitstreiters für sich selber Kapital zu schlagen. Immerhin
bemerkenswert ist der Hinweis auf Robert Kurz'
„bahnbrechenden Text“ Die Krise des Tauschwerts.
Peinlich nur, dass dieser Text dem wenige Monate zuvor erschienen
krisentheoretischen Buch zweier Krisis-Redakteure keine
Erwähnung wert ist, so wie dort auch sonst die Bedeutung von
Robert Kurz für die von ihm entwickelte Krisentheorie geradezu
akribisch unter den Teppich gekehrt wird.
Von anderer Qualität sind die Nachrufe, die selbst noch dem
Toten gegenüber nicht einmal den Anschein von
Generosität aufkommen lassen und deren Urheber offenbar
glauben, nun endlich alte Rechnungen begleichen zu können.
Geradezu frappierend ist in dieser Hinsicht der Nachruf in der TAZ
eines gewissen Helmut Höge, von dem bis dato noch nie jemand
gehört hat, und zwar aus guten Gründen: In seinem aus
verschiedenen unerheblichen Details zusammengestoppelten Nachruf weist
Höge eigentlich nur nach, dass ihm die von Robert Kurz
vorangetriebene Gesellschaftskritik ein Buch mit sieben Siegeln
geblieben ist, was er dem Verstorbenen ernsthaft übel nimmt:
„Derlei scheinbare Gewissheiten machen auf Dauer
müde.“ Wenigstens gibt es dazu einen erfreulichen
Leserkommentar: „An der Leiche eines Löwen kann noch
jeder Pinscher gefahrlos sein Beinchen heben.“
Weniger überrascht als die Auslassungen in der TAZ haben uns
die der Streifzüge-Autoren Andreas Exner und Franz Schandl,
die auf bekannten Gleisen verlaufen, indem beide wie üblich
vor allem von sich selber reden und die eigenen Befindlichkeiten in die
zu würdigende Person projizieren. Exner beginnt seinen Nachruf
mit der „tiefgreifenden“ Wirkung, die Robert Kurz'
Texte auf ihn gehabt hätten. So nachhaltig kann die wohl nicht
gewesen sein. In einer langen, die Hälfte des Nachrufs
umfassenden Tirade wirft er Kurz dann mangelnden Bezug zur
gesellschaftlichen Praxis, die „Einmauerung in einen immer
höher aufragenden theoretischen Elfenbeinturm“ und
einen „Fetischismus der Theorie“ vor. Nun hat sich
Robert Kurz in vielen seiner Schriften zum Verhältnis von
Theorie und Praxis geäußert (siehe auch den
anschließenden Nachruf). Mit ihnen setzt sich Exner aber
überhaupt nicht auseinander. Sein Urteil begründet er
vielmehr mit angeblichen Schwächen im persönlichen
Umgang, dem „Gestus des Imponierens, der in Arroganz und
Kälte umschlägt“. Für jemanden,
der nach eigener Auskunft Robert Kurz persönlich nur
„flüchtig“ kannte, ist das mehr als dreist.
Er wird sich wohl bei Franz Schandl erkundigt haben, dessen eigener
Nachruf die Kombination aus Vereinnahmung und Nachtreten zur
höchsten Blüte treibt. Glaubt man ihm, so hatte
Robert Kurz seine besten Jahre in der Zeit, in der er mit Franz Schandl
zusammenarbeitete. Dass Robert Kurz das anders sah, tut nichts zur
Sache: „Früher spürte man seinen Texten
auch Frische und Wärme an, sie berührten nicht nur
intellektuell, sondern auch emotional. Wärme und Frische sind
ihm leider abhanden gekommen, vor allem auch, weil Bobbys Position sich
verhärtet und seine Stimmungslage sich in den letzten Jahren
ungemein verdüstert hat.“ So hätte er es
gern. Die zahlreichen jungen Leute, die in der
„Nach-Schandl-Zeit“ den Weg zu uns gefunden haben,
wissen es freilich besser. Robert Kurz befindet sich hier
übrigens in guter Gesellschaft, schwindende
„Frische“ hat Schandl bereits Marx angedichtet: In
den „Grundrissen“ habe er sie noch gehabt, aber
bereits im ersten Band des „Kapital“ sei sie ihm
verloren gegangen. Den angeblichen Verlust der
„Attraktivität der Wertkritik und ihrer
Zusammenhänge“ führt Schandl auf den Bruch
mit ihm selbst zurück: „Verschwiegen werden soll
daher auch nicht, dass diese Zusammenarbeit in einem ultimativen Bruch
endete, der nicht mehr gekittet werden konnte. Er kündigte mir
die Freundschaft, ich kündigte ihm die Feindschaft.“
Verschweigen möchte Schandl aber wohl doch lieber, dass er
seine Feindschaft erst dann angeblich kündigte, als er sie
ausgelebt, Robert Kurz und Roswitha Scholz aus dem gemeinsamen
Zusammenhang eliminiert und aller Welt verkündet hatte, Robert
Kurz sei leider verrückt geworden. Ein wahrhaft
„nobler“ Nachruf, wie ein Leser (ironisch?)
kommentierte.
Schandls Legendenbildung findet ihr Echo auch in dem Nachruf von
Andreas Baumgart, der bei dem Bruch der alten Krisis nicht mehr dabei
war, aber vom Hörensagen zu berichten weiß:
„Die letzte große Spaltung erfolgte dann 2004, als
Robert Kurz unversöhnlich die Krisis verließ und
Exit gründete.“ Ein letztes Mal sei darauf
hingewiesen, dass Robert Kurz die Krisis nicht
„verließ“, sondern zusammen mit Roswitha
Scholz von Schandl und anderen hinausgeworfen wurde. Dennoch
kann festgehalten werden, dass Andreas Baumgart - selbst
„Opfer“ einer der Brüche in der
Entwicklung der Wert- und Wertabspaltungskritik - einen angemessenen,
nicht nachkartenden Nachruf verfasst hat, der insbesondere die
Anfangsjahre, an denen er selber beteiligt war, adäquat
beschreibt und würdigt.
Und schließlich, die Antideutschen: Für manche von
ihnen, die sich geäußert haben, scheint Robert Kurz
eine - im positiven Sinne - gewichtigere Rolle gespielt zu haben, als
das in den wechselseitigen Polemiken zum Ausdruck kommen konnte.
Entsprechend versöhnlich und angemessen sind die Nachrufe
gestaltet. Nur eines, liebe Leute, ist ein Missverständnis:
Mit seinem Text Die Kindermörder von Gaza (EXIT! 6) hat Robert
Kurz keineswegs „endlich die Kurve gekriegt“ und
Positionen bestätigt, die Antideutsche bereits 2001
innehatten. Der Dissens bestand ja nie darin, dass der (linke)
Antisemitismus, auch in seiner Form des Antizionismus, nicht in aller
Schärfe zu kritisieren und zu bekämpfen sei. Er
besteht vielmehr in der begründeten Feststellung, dass
Antisemitismus und Antizionismus keineswegs im Gegensatz zu den
„westlichen Werten“ stehen, sondern aus der von den
Antideutschen oft und gern beschworenen Aufklärungsvernunft
selbst hervorgehen (vgl. den Beitrag von Daniel Späth in
diesem Band). Und davon hat Robert Kurz bis zu seinem Tod nichts
zurückgenommen.
Das vorliegende Heft beginnt mit einer Erinnerung an Robert
Kurz und einer darin enthaltenen Inhaltsangabe seines letztes Buches
„Geld ohne Wert“ sowie mit Nachrufen auf die
ebenfalls vor kurzem verstorbenen Alfred Schmidt und Eric Hobsbawm.
Bei dem ersten Text „KRISE UND KRITIK“ handelt es
sich um ein bereits im Frühjahr 2010 verfasstes Fragment aus
dem Nachlass von Robert Kurz. Robert Kurz hatte sich entschieden, aus
seinem ursprünglichen, großangelegten Buchprojekt
„Tote Arbeit“ eine Reihe von Büchern zu
machen. „Geld ohne Wert“ war das einzige, das er
tatsächlich noch hat fertigstellen können.
„Krise und Kritik“ wäre ein weiteres Buch
in dieser Reihe geworden, es liegt aber nur in Teilen vor. Der Text
versteht sich als Propädeutik zur Krisentheorie und zur
kategorialen Kritik, die den aktuellen Stand der einschlägigen
Diskussion im Rest- und Postmarxismus angesichts der hereinbrechenden
realen Weltwirtschaftskrise aufarbeitet. In den ersten vier Abschnitten
geht es um die Bedeutung der Krisentheorie in der Geschichte des
Marxismus, um die aus dem Mangel der historischen Zeitdimension
resultierende Krisenignoranz, um den Versuch, die
„Zusammenbruchstheorie“ durch Mythologisierung
abzuwehren, und um die Verwechslung des Endes des Kapitalismus mit der
Apokalypse. Die weiteren vorliegenden Abschnitte des Fragments werden
in EXIT! 11 veröffentlicht.
Elmar Flatscharts Text „EIN APOSTELBRIEF ZWISCHEN SZIENTISMUS
UND HISTORISMUS“ hat zwei Ziele. Erstens stellt er eine
nachträgliche Intervention in eine bestehende Debatte dar, die
im Wesentlichen zwischen Ingo Elbe, einem Vertreter der sog.
„Neuen Marxlektüre“ und einigen
„antideutschen“ Autoren um die Zeitschrift
„Prodomo“ geführt wurde. In dieser
Auseinandersetzung geht es um den Status kritischer Theorie
zwischen formaler Erkenntnisweise und negativ-spekulativem Moment. In
beiderlei Hinsicht ist ein Anschluss an die Frankfurter Schule
möglich und wird auch von den Proponenten hochgehalten, in der
Debatte erweist sich jedoch, dass diese Bezugnahme sehr
unterschiedliche, ja in vielerlei Hinsicht gegensätzliche
Resultate liefern kann. Elmar Flatschart möchte nun zeigen,
dass beide von den jeweiligen Seiten vorgebrachten Diffamierungen, jene
der emanzipatorisch leeren „akademischen
Erbsenzählerei“ (gegen Elbe) und der eines
quasi-religiöse Züge annehmenden
„marxistischen Mystizismus“ (gegen die
Prodomo-Fraktion) in gewisser Weise Berechtigung haben, in mancherlei
Hinsicht aber auch falsch sind. Zwischen diesen beiden Seiten eine
dritte Position zu suchen, ist nun auch der Anspruch des Autors und
kann als zweites, eigenständiges, über der reinen
Auseinandersetzung mit der geführten Debatte stehendes Ziel
betrachtet werden. Es geht dabei um nichts weniger als die
(Selbst-)Legitimation kritischer Theorie und somit auch der
wert-abspaltungskritischen Theoriebildung als genuin
negativ-dialektischem Zugang und eigenständiger Position
zwischen „Wissenschaft“ und
„(historischem) Standpunkt“. Diesbezüglich
wird im Artikel die Ansicht entwickelt, dass kritische Theorie an
wissenschaftliche Methode anschlussfähig und in mancher Weise
oft auch auf ihre formalen Erkenntnismodi angewiesen ist, jedoch
über jene hinausgeht und ein spezifisch-historisches und
materialistisches spekulatives Moment inkorporiert, das sich
wissenschaftlicher Formalisierung sperrt und den dialektischen Kern
nicht nur der Theorie, sondern auch der
„realabstrakten“ Verhältnisse des
warenproduzierenden Patriarchats ausmacht. Anzumerken bleibt, dass die
Auseinandersetzung mit diesem, gleichsam zwischen Wissenschafts- und
Gesellschaftstheorie stehenden Thema keineswegs als abgeschlossene
betrachtet werden kann, weder hinsichtlich der Position des Autors noch
der im Umfeld von EXIT andauernden, in manchen Punkten durchaus
kontroversen Diskussion.
Georg Gangl beschäftigt sich in seinem Aufsatz „IM
DSCHUNGEL“ mit linken Theorien moderner Biopolitik. Begriff
wie Untersuchungsfeld, zumindest in ihrer linken Gestalt, nehmen
Ausgang von Theoretisierungen von Michel Foucault. Der Text versucht
nachzuweisen, dass diese Theoretisierungen bereits bei Foucault
widersprüchlichen Charakter aufweisen, insbesondere was
grundlegende gesellschaftstheoretische und philosophische Grundannahmen
angeht. Diese Widersprüchlichkeit, die sich auf ein
postmarxistisch-poststrukturalistisches Grundverständnis von
Gesellschaft und Realität im Allgemeinen
zurückführen lässt, ist vielen AutorInnen im
Feld der Biopolitik eigen, darunter auch Giorgio Agamben, Roberto
Esposito und Michael Hardt / Antonio Negri, die im vorliegenden Text
ebenso genauer diskutiert werden. Dabei haben alle besprochenen Autoren
- allen voran Foucault, der eine komplexe Analyse moderner Biopolitik
vorgelegt hat, an die die restlichen TheoretikerInnen im Feld zumeist
nicht herankommen - einzelne phänomenologisch interessante
Momente der genuin modern-kapitalistischen Biopolitik analysiert; die
negative Dialektik der Biopolitik im Kapitalismus, die diese eng mit
der allumgreifenden Menschenverwaltung und dem Rassismus
zusammenschweißt, konnten sie aufgrund der genannten
theoretischen Grundlagen aber nicht als solche erfassen. Dazu bedarf es
eines umfassenderen gesellschaftstheoretischen Zugangs. Der Text endet
mit einer kurzen Reflexion über das ideologiekritische
Unterfangen von Theoriekritik.
In ihrem Aufsatz „DIE BEDEUTUNG ADORNOS FÜR DIE
FEMINISTISCHE THEORIEBILDUNG HEUTE“ zeigt Roswitha Scholz,
dass in der feministischen Theorie bis in die zweite
Hälfte der 1980er Jahre die Möglichkeit bestanden
hat, zu einer Formkritik des kapitalistischen Patriarchats zu gelangen.
Stattdessen ging man/frau zu formal-soziologistischen Denkmustern
über. Dabei macht Scholz deutlich, welche Bedeutung
Adorno für die Wert-Abspaltungskritik hat, auch wenn er
bloß vom Tausch und nicht vom (Mehr-)Wert als
gesellschaftlichem Grundprinzip ausgeht, geschweige denn das
hierarchische Geschlechterverhältnis in Gestalt der
Wert-Abspaltung in den Rang einer gesellschaftlichen
Basisbegrifflichkeit erhebt, sondern es bloß deskriptiv
behandelt und als solches kritisiert. Von Adorno übernimmt
Scholz dabei auch für die Wert-Abspaltungskritik die Ablehnung
eines identitätslogisch verengten Denkens, was u.a. bedeutet,
dass sie verschiedenen sozialen Disparitäten
stattgeben muss. Während dies zum Kern der
Wert-Abspaltungskritik gehört, lässt sich aus den
Widersprüchlichkeiten der Tausch- bzw. Wertlogik allein eine
Kritik der Identitätslogik allenfalls zwanghaft abgewinnen.
Die Wert-Abspaltungskritik treibt so nicht nur Adorno über
sich hinaus, sondern auch sich selbst. Sie muss sich selbst in Frage
stellen, um ihrem inneren Wesen gerecht zu werden. Damit steht die
Aufklärung zur Disposition. Obwohl auch die
Wert-Abspaltungskritik in gewissem Sinne selbst auf dieser beruht,
schließt sie eine radikale Kritik derselben nicht aus. In der
Wert-Abspaltungskritik ist nämlich gleichzeitig beschlossen,
über das aufklärerische Denken radikal hinaus zu
gehen, ja selbst noch über eine negative Dialektik Adornos, um
- zunächst einmal bloß gedanklich-abstrakt - die
Möglichkeit zukünftiger, nicht
kapitalistisch-patriarchaler Denk- und Existenzformen offen
zu halten.
Mit seinem Text „DAS ELEND DER AUFKLÄRUNG:
ANTISEMITISMUS / ANTIZIONISMUS, RASSISMUS UND ANTIZIGANISMUS BEI
IMMANUEL KANT“ schließt Daniel Späth seine
ideologiekritische Analyse der kantischen Philosophie ab. Dabei
trägt das erste Kapitel dem Übergang von dessen
Sexismus zu seinem Antisemitismus und Rassismus, sowie ihren
unterschiedlichen Bezugsebenen zur transzendentalen Vernunft
begrifflich Rechnung. So ist es Ergebnis einer vernunftimmanenten
Widersprüchlichkeit, dass Kant eine Identifikation von
Judentum und (der falsch aufgefassten) abstrakten Dimension des
Kapitals vornimmt. Diese mündet auf der Ebene der
theoretischen Vernunft ebenso in einen Antisemitismus wie auf der Ebene
des praktischen Subjekts. In diesem zweiten Kapitel wird
darüber hinaus kritisch analysiert, wie die kantische
Philosophie einer antizionistischen Ideologie Ausdruck verleiht, obwohl
Ende des 18. Jahrhunderts der Staat Israel bekanntlich in keiner Weise
auf der politischen Tagesordnung stand. Das dritte Kapitel wendet sich
dem kantischen Rassismus zu. In ihm wird, ebenso wie in der Kritik des
Antisemitismus/ Antizionismus, der Zusammenhang von Vernunftphilosophie
und Ideologie dargestellt. Der kantische Rassismus ist wesentlich ein
Produkt der Urteilskraft und ihrer paradoxen Konzeptualisierung. Das
vierte Kapitel widmet sich abschließend der Frage der
kritischen Historisierung Kants wie auch einer Einschätzung
seiner oftmals gepriesenen subjektiven Denkleistung.
Das Heft schließt mit drei kleineren Texten: Udo Winkels
Rezension „DAHMER SEZIERT DIE
»UNNATÜRLICHE WISSENSCHAFT«“
über Helmut Dahmers Auseinandersetzung mit der Psychonanalyse
in seinem Buch „Die »unnatürliche
Wissenschaft«“, Gerd Bedszents Rezension
„UNTER GEIERN“ des Buches „ Die Geburt
der Dritten Welt. Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im
imperialistischen Zeitalter“ von Mike Davis, das
über die Leichen im Keller der kapitalistischen Moderne
berichtet, und schließlich Udo Winkels Würdigung
„DER VERGESSENE KOMMUNISTENRABBI“ von Moses Hess zu
dessen 200. Geburtstag.
Wir danken Angela Aey für ihre umfangreichen Arbeiten am
Layout auch dieses Heftes.
Claus Peter Ortlieb für die EXIT!-Redaktion
im Oktober 2012