Zuerst veröffentlicht unter https://www.oekumenisches-netz.de
An Corona und am Kapitalismus vorbei…Anmerkungen zu „Corona und die Kirchen. Eine Kritik“Unter dem Titel „Kirchen und Corona. Eine Kritik“ veröffentlichte das Institut für Theologie und Politik (ITP1) einen Text von Julia Lis und Michael Ramminger, wissenschaftliche MitarbeiterInnen des ITP zum Umgang der Kirchen mit der Pandemie.2 Dazu formuliert der folgende Text des AK Theologische Orientierung des Ökumenischen Netzes Rhein-Mosel-Saar einige kritische Einwände.
Was nicht im Text steht...Zurecht fordern Julia Lis und Michael Ramminger, dass „wir als ChristInnen die gesellschaftlichen Widersprüche, die die Pandemie sichtbar gemacht hat, aufdecken, an einer messianischen widerständigen Gegenpraxis arbeiten und dabei aus unseren Traditionen schöpfen“ (S. 13). Dies muss auch die Grundlage einer Kritik an der Praxis der Kirchen in den Zeiten von Corona sein. Leider deckt der Text die gesellschaftlichen Widersprüche nur verkürzt auf. Zunächst einmal fällt auf, was alles nicht im Text steht: Es findet sich kein Satz, der sich mit der aktuellen Coronalage hier und global beschäftigt; kein Satz über die eskalierenden Todeszahlen; kein Satz über das Leid schwer erkrankter Menschen, die auf Intensivstationen – sofern sie dort überhaupt noch unterkommen können – Todesängste erleiden und um ihr Leben kämpfen; kein Satz, über den Einsatz von PflegerInnen und ÄrztInnen, der über alle Kräfte hinaus geht; kein Satz über die gravierenden Spätfolgen, die eine Covid-Erkrankung für Menschen hat. Es findet sich in diesem Text nicht einmal ein Hinweis darauf, was in anderen Zusammenhängen beim ITP berechtigterweise aufgezeigt wird, nämlich dass vor allem Prekär-Beschäftigte – oft Frauen –, Arme, Minderheiten und MigrantInnen zu den VerliererInnen und Opfern der Pandemie zählen.
Wenn wir, wie der Text fordert, „aus unseren Traditionen schöpfen“, müsste doch der erste Blick denen gelten, die unter der Corona-Pandemie als Arme und Kranke besonders zu leiden haben. Er müsste auf diejenigen fallen, die, wie vor allem Frauen, für geringen Lohn arbeiten, in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen und unter z.T. un- oder schlecht geschützten Bedingungen unter Druck stehen, auf all die prekär arbeitenden Selbstständigen oder FreiberuflerInnen und nicht zuletzt auf all die, die die Lasten an den Brennpunkten des Geschehens, vor allem in den Alten- und Pflegeheimen, in den Krankenhäusern, zu tragen haben. Es müsste deutlicher thematisiert werden, dass Corona hier und global die Ungleichheit und die Spaltung in Arm und Reich weiter eskalieren lässt.3 Wird all das ausgeblendet, kann es kaum gelingen, die „gesellschaftlichen Widersprüche“ in der Pandemie deutlich werden zu lassen. Corona und KapitalismusEin entscheidendes Grundproblem in der Argumentation des Textes liegt in der Gleichsetzung von Corona-Schutzmaßnahmen mit kapitalistischer Biopolitik. Er suggeriert, dass unter dem Deckmantel von Corona „Enthaltsamkeit und Abstinenz als letztem Schritt von einem langen Prozess des Kapitals“ (S. 5) durchgesetzt werden soll. Wenn es jedoch darum gehen soll die gesellschaftlichen Widersprüche, die der Pandemie zu Grunde liegen, aufzudecken, greift dies nicht nur wesentlich zu kurz, sondern lenkt auch auf falsche Fährten. Natürlich kann Corona nur vor dem Hintergrund der kapitalistischen Weltgesellschaft diskutiert und verstanden werden. Die Widersprüche sind dabei vor allem in der kapitalistischen Produktionsweise, nicht nur in deren politischer und kulturell-symbolischer Vermittlung zu suchen. Sie müssen in der Frage nach den strukturellen Begleitumständen des ‚Ausbruchs‘ der Pandemie wie des politischen Umgangs mit ihr sichtbar gemacht werden. Ebenso müssen die oben angerissenen sozialen Folgen in diesem Kontext betrachtet werden.
Was den Ausbruch der Pandemie angeht, spricht vieles für die sog. Zoonose/Zooanthroponose, eine Infektion, die von Tieren auf den Menschen übertragen werden kann. 75% der Neuinfektionen sollen einen tierischen Ursprung haben.4 Damit bewegen wir uns im Zusammenhang der Frage nach dem Verhältnis von Kapitalismus und Natur als einem Herrschaftsverhältnis. Darin ist die Natur Gegenstand kapitalistischer Verwertung. In der Krise des Kapitalismus wird sie trotz aller Klima- und Naturschutz-Beteuerungen gnadenlos in Wert gesetzt, ausgebeutet und weiter zerstört. Denn mit dem von der Konkurrenz erzwungenen Produktivitätsfortschritt schwindet die Arbeitssubstanz und damit die Möglichkeit Wert- und Mehr-Wert zu erzielen. Das Kapital wird substanzlos. Damit wächst der Druck des tendenziell leeren Kapitals, auf „ausnahmslos alle Dinge dieser Welt“ zuzugreifen: „von der Zahnbürste bis zur subtilsten seelischen Regung, vom einfachsten Gebrauchsgegenstand bis zur philosophischen Reflexion oder zur Umgestaltung ganzer Landschaften und Kontinente...“5. Die Natur ist im Kapitalismus der abstrakten Herrschaft der Verwertung des Werts und der Abspaltung der Reproduktion unterworfen. Dem Zweck, dem Kapital in der Krise neue Möglichkeiten zur Akkumulation zu erschließen, diente die neoliberale Wende des Kapitalismus zur Globalisierung von Produktion und Handel. Dies bereitete dem Überspringen der Viren von Tieren auf den Menschen und ihrer Verbreitung über die globalisierten Handels- und Verkehrswege den Weg. Denn: „Die Massenverstädterung, der Luftverkehr, die globale Erderwärmung und die ökologische Schwächung stellen eine giftige Brühe dar.“6 Insofern gehören Ausbruch und Verbreitung des Virus ebenso zu den Widersprüchen der kapitalistischen Weltsituation wie die Verhältnisse, auf die das Virus trifft: Armut und zerstörte Gesundheitssysteme, zerfallende Formen des sozialen und politischen Zusammenlebens bis hin zu nackten Kämpfen um das Überleben in den Zerfalls- und Krisenprozessen, in denen sich das Virus ungehindert ausbreiten kann und zu einer globalen Katastrophe zu werden droht. Kapitalismus, Staat und DemokratieDer Text reduziert die gesellschaftlichen Widersprüche zu sehr auf die Kritik eines autoritären Staates, der Corona-Schutzmaßnahmen zur Aufrechterhaltung des „Systems“ antidemokratisch durchsetzt und erwähnt nur unter ferner liefen und kryptisch die „menschengemachten Ursachen, die ... gehäuft zu Epidemien und Pandemien führen“ (S. 13). Die Probleme werden vor allem anderen in der „Aussetzung des Rechts“ und „der Demokratie“ (S. 7) gesehen. Diese Argumentation setzt voraus, Recht und Demokratie seien gegenüber dem Kapitalismus das befreiend Andere. Sie verkennt, dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Kapitalismus im Westen in der Regel demokratisch zustande kommen und erhalten werden. Das gilt nicht zuletzt für asoziale und repressive Maßnahmen. Beispielhaft seien genannt: die Agenda 2020 mit dem Hartz IV-System, Maßnahmen, die zum Abbau der Gesundheitssysteme und zu den bekannten Spaltungen in Arm und Reich, zur Abwehr von MigrantInnen und ihrer Internierung in Lagern führten, militärische Interventionen, die Rüstungspolitik oder die Militarisierung der Politik, die nicht zuletzt dem Zweck dienen ökonomisch und politisch zerfallende Regionen in Schach zu halten und ‚Überflüssige‘ bzw. kapitalistisch nicht Verwertbare von den Grenzen fernzuhalten. All das wurde demokratisch durchgesetzt. Demokratie ist eben nicht einfach ein über den kapitalistischen Verhältnissen schwebendes normatives Regulativ, sondern Teil der gesellschaftlichen Widersprüche des Kapitalismus – und der Hinweis auf eine kritische Betrachtung der „repräsentativen Demokratie“ (S. 8) reicht da auch nicht. Soziale Spaltung, Ausgrenzung und Repression sind nicht das Andere zu einer ‚eigentlichen Demokratie‘, sondern ihr innewohnend, was besonders in Krisenzeiten deutlich wird. Das „demokratische Denken jeglicher Couleur [kommt] von sich aus niemals auf die Idee …, die Ressourcen und den gesellschaftlichen Reichtum anders als in der Waren- bzw. Geldform mobilisieren und organisieren zu wollen; und daß somit seine vermeintliche Freiheitlichkeit und Humanität sich immer bewußtlos die Systemgrenze der modernen Warenform selber als harte Grenze setzt“7. Die Kritik an der „Aussetzung der Demokratie im Regelwerk der Verordnungen“, dem die Kirchen sich willig unterworfen hätten, beruft sich auf die biblische Geschichte als einer „Geschichte von Autonomie und Freiheit“ (S. 8). Nun berufen sich aktuell ausgerechnet die Gegner der Corona-Verordnungen auf Freiheitsrechte und Autonomie. Die mit den kapitalistischen Verhältnissen unvermittelte Berufung auf Autonomie und Freiheit ist kaum mehr dazu in der Lage, sich von den Rufen nach Autonomie und Freiheit zu unterscheiden, mit denen die Rückkehr zur kapitalistischen Normalität eingeklagt wird. Dieser Ruf bleibt konsequent selbstbezüglich, fordert Freiheit für die Individuen, für einzelne Branchen etc., ohne sich in ein Verhältnis zu denen zu setzen, die auf den Intensivstationen leiden und sterben. So bleibt er selbstbezüglich wie das Kapital, das sich zu nichts anderem in ein Verhältnis setzen kann als zu sich selbst.8
Nun besteht gerade die ‚politische Theologie‘ von J.B. Metz darauf, dass Autonomie und Freiheit in einem Leidensapriori, der Anerkennung der Autorität der Leidenden, verwurzelt sind. Ohne dieses Leidensapriori kommen die postmodernen Diskursgesellschaften, die auf ‚Aushandeln‘ (im Blick auf die aktuelle Situation etwa Alex Demirović9) zielen, weder über die „Marktlogik“ noch über ein vom „Tausch- und Konkurrenzverhältnis“ bestimmtes Verhältnis zwischen Menschen hinaus und bleiben blind für „asymmetrische Anerkennungsverhältnisse – als Zuwendung der einen zu den bedrohten und geopferten Anderen“10. Wenn der Ruf nach Freiheit nicht bei der Selbstbezüglichkeit kapitalistisch konditionierter und auf die kapitalistische Normalität vereidigter Einzelner und Branchen stehen bleiben soll, muss er sich vom Leid der Anderen unterbrechen und irritieren lassen. Erst der Bezug auf die ihnen vorenthaltene Freiheit kann Freiheit inhaltlich bestimmen. In diesem Sinn wäre Freiheit als negatives Bewusstsein verweigerter Freiheit zu verstehen und nur in Relation zu Herrschaft bzw. zu gesellschaftlichen Fetischverhältnissen zu bestimmen. Widerspruch gegenüber Metz wäre da anzumelden, wo er meint, der „Respekt vor den Leidensgeschichten“ könne zur „Grundlage der kulturellen Reserven freiheitlicher Demokratie“ (ebd.) werden. Er unterschätzt, dass die ‚freiheitliche Demokratie‘ konstitutiv mit der Freiheit zu Markt, Tausch und Konkurrenz, letztlich zur Vermehrung des Kapitals um seiner selbst willen und der mit ihr gleichursprünglich verbundenen Abspaltung der weiblich konnotierten Reproduktion einhergeht, sodass ihr nicht nachträglich das Eingedenken fremden Leids gleichsam ‚voraus‘-gesetzt werden könnte. Daran dürften auch alle Versuche „einer Neuerfindung der Demokratie angesichts der katastrophalen Zustände der Welt“ (S. 8) scheitern.
Nun fällt auf, dass in den Diskussionen um die Corona-Maßnahmen von Hinweisen auf das Leiden ein fast schon inflationärer Gebrauch gemacht wird. Sie kommen aus Zusammenhängen – wie z.B. FDP und BDI –, die ansonsten nicht gerade dafür bekannt sind, dass ihnen das Leiden von Menschen und soziale Benachteiligung am Herzen liegen. Ebenso fällt auf, dass von Einzelnen und Branchen meist selbstbezüglich auf das eigene Leiden hingewiesen wird, während fremdes Leid außerhalb der Forderungen bleibt. Hier wird das Leid der einen gegen das Leid der anderen ausgespielt. Dabei wird zumeist übersehen, dass die einen zwar ihre Existenz als Arbeitende zu verlieren drohen, während andere ihr Leben verlieren. Während für die einen der nächste Urlaub bedroht ist, droht den anderen der Verlust des Lebens und der Gesundheit. Auch die Maßnahmen der Regierungspolitik orientieren sich nicht an einem Leidensapriori. Angesichts der Pandemie versucht die Politik, die Funktionsfähigkeit der ‚Systeme‘ Wirtschaft und Gesundheit aufrecht zu erhalten. Das führt zu dem Widerspruch, dass Arbeit und Konsum weitergehen müssen. In diesem Zusammenhang dürfte auch die Aufrechterhaltung der mit der Notwendigkeit von Bildung und ‚Bildungsgerechtigkeit‘ (ausgerechnet von der FDP) begründeten ‚Verwahrung‘ der Kinder in Kitas und Schulen stehen. Einschränkungen werden vor allem in privaten Bereichen und der damit verwobenen Gastronomie und der Kultur- und Eventbranche durchgesetzt.
Diese Kritik darf jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass diese offensichtlich unzureichenden Maßnahmen angesichts des sich schnell verbreitenden Virus trotzdem gefährdete Menschen schützen und einem elenden Sterben auf den Intensivstationen ebenso entgegenwirken können wie einem überforderten Gesundheitssystems, das sein Personal weit über seine Kräfte hinaus belastet und kranke Menschen irgendwann nicht mehr versorgen kann. Vor diesem Hintergrund gibt es keinen Grund, das Tragen von Masken, das Abstand-Halten sowie andere Hygienemaßnahmen lächerlich zu machen, wie es im Text von Rammiger und Lis geschieht, und Menschen, die all das beachten, als „brave Staatsbürger“ (S. 12) abzuqualifizieren. So leistet der Text mit seiner zu kurz greifenden Kritik einen gefährlichen Beitrag zur Delegitimation von Schutzmaßnahmen, die auch dann, wenn es mit ihnen darum geht das kapitalistische System zu erhalten, in der aktuellen Situation wichtig sind, um das Leben von Menschen zu schützen. Die gesellschaftlichen Widersprüche, die in der Corona-Pandemie sichtbar werden, sind die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaftsform insgesamt. Sie sind nicht eng zu führen auf den Widerspruch Demokratie, Freiheit und Recht einerseits und autoritärer Verordnungsstaat andererseits. Die verkürzte Analyse der Widersprüche und die damit einhergehende falsche Unmittelbarkeit einer abstrakt-antiautoritären Kritik an den staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie bringt den Text in eine beunruhigende Nähe zu FDP, AfD, Coronaleugnern, Querdenkern und anderen Verschwörungsphantasten. Statt dessen ist eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen und ihrem Zusammenhang mit der alltäglichen Fremdbestimmung im Kapitalismus wichtig, die in der Corona-Krise auf staatliche Schutzmaßnahmen projiziert wird. Die „Empfänglichkeit für Verschwörungstheorien“ steigt „offensichtlich immer dann an, wenn die Auffassung überhand nimmt, dass keinerlei Chance mehr für eine eigenständige, selbstbestimmte Lebensgestaltung bestehen und stattdessen rundum nur noch anonyme Mächte im Geheimen schalten und walten. In solchen ausweglos erscheinenden Drucksituationen, die beispielsweise durch sozialen Abstieg und eine drastische Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation hervorgerufen sein können, eröffnen Verschwörungstheorien einen trügerischen Königsweg zur Deutung kompliziertester Zusammenhänge und vermitteln das sichere Gefühl endlich Bescheid zu wissen, was rund um einen herum und mit einem selbst geschieht...“11 Wo Verschwörungswahn sich ausdrückt, ist der Antisemitismus nicht weit, wie es in der Corona-Krise wieder überaus deutlich wird: „So stimmt beispielsweise rund jede fünfte Person in England mehr oder weniger der Ansicht zu, Juden hätten das Virus geschaffen, um die Wirtschaft kollabieren zu lassen und ein Geschäft aus der Situation zu machen.“ Auch konnte man antisemitische Selbstviktimisierungen auf den Anti-Corona-Demonstrationen in Deutschland beobachten, sogenannter ‚Impfgegner‘, die sich offenbar als die ‚Juden von heute‘ halluzinierten, die T-Shirts mit Judenstern(!) trugen, auf denen „ungeimpft“(!) geschrieben stand.12 Es wäre barer Unsinn, dem ITP unterstellen zu wollen, es teile solche Positionen. Davon ist es meilenweit entfernt. Statt aber diese Widersprüche aufzudecken und auf den Zusammenhang mit der kapitalistischen Krisengesellschaft zu reflektieren, bleibt die Kritik des Textes aus dem ITP in einem formalen Liberalismus stecken, der die gesellschaftliche Situation nur ausschnitthaft wahrnimmt. Erst wenn diese umfassend in den Blick kommt, können die Ambivalenzen und Widersprüche differenziert analysiert und kritisch ausgetragen werden. Vor diesem Hintergrund sind selbstverständlich Maßnahmen zu kritisieren, die persönliche Kontakte – z.B. zu Alten, Kranken und Sterbenden – einfach untersagen statt Rahmenbedingungen zu schaffen, die sie ermöglichen, während Arbeit und Konsum möglichst wenig eingeschränkt weiter gehen sollen. Gleichzeitig sollte deutlich geworden sein, dass ein konsequenterer Lockdown – wie ihn etwa verschiedene Null-Covid-Initiativen seit Dezember vorschlagen – weniger Tote bedeutet hätte und zugleich im Blick auf die gesellschaftlichen Auswirkungen weniger gravierend gewesen wäre als das vor allem aus Kreisen der Ministerpräsidenten und von der Springerpresse und des von ihr hofierten Virologen Streeck befeuerte Hin und Her zwischen Lockdown-Maßnahmen und ‚Lockerungen‘. Die als Alternative zum Lockdown immer wieder ins Spiel gebrachte Forderung nach Schutz der Risikogruppen war als Alternative falsch und eine durchsichtige Legitimation für ‚Lockerungen‘. Richtig wäre es gewesen bzw. ist es, Risikogruppen verstärkt zu schützen, verantwortbare Besuche bei Kranken und Sterbenden zu ermöglichen und zudem Anstrengungen zu unternehmen, die Fallzahlen nach unten zu drücken. Zur Rolle der KirchenDen Kirchen wirft der Text eine „Ekklesiologie der Unterwerfung“, „vorauseilenden Lockdown“, „Rückzug sowie das Aufrufen, sich den staatlichen Maßnahmen zu unterwerfen“, und eine kritiklose Übernahme der „Hygienepolitik“ vor. Darin sieht er eine Anpassung an die herrschenden Plausibilitäten. Es fragt sich, welche Implikationen diese Kirchenkritik hat. Sollen die Kirchen unabhängig von der gesellschaftlichen Gesamtsituation und den gesundheitlichen Folgen auf Religionsfreiheit pochen, um ihr kirchliches Leben uneingeschränkt fortsetzen und unirritiert vom Leid der Kranken, Armen und Ausgegrenzten die ‚memoria passionis‘ feiern zu können? Sollen Gottesdienste und Seelsorge ohne Schutzvorkehrungen stattfinden, weil ihr Einhalten ja Anpassung und Unterwerfung wäre? Wie soll in diesen Zusammenhängen eine „widerständige messianische Gegenpraxis“ aussehen? Sollen sich nur die Kirchen gegen die Schutzmaßnahmen wehren oder alle? Wird im Interesse liberaler Freiheitsrechte einschließlich der Religionsfreiheit das sozialdarwinistische Konzept der Herdenimmunität hingenommen, das noch mehr Menschen das Leben kosten würde? Wird in Kauf genommen, dass es zu Triage-Situationen kommt und das Gesundheitssystem auch hier kollabiert, wie es in anderen Ländern längst der Fall ist und was unglaubliches Leid verursacht? Richtig ist, dass der ‚Lockdown‘ viele kirchliche Probleme sichtbar macht: Sprachlosigkeit angesichts der Krisenzusammenhänge, unzureichende Parteinahme für diejenigen, die als Arme vor Ort und weltweit die ersten Opfer der Pandemie sind, die Ignoranz gegenüber der Kritik des Kapitalismus, die Flucht in klerikale und banale Inszenierungen samt vertröstender Esoterik und ‚positivem Denken‘… Die gottesdienstliche ‚Zurückhaltung‘ der Kirchen verdient jedoch Anerkennung. Sie entspricht der Rücksicht auf Gefährdete in der Gesellschaft. Zugleich ist sie Ausdruck des Vorrangs der Diakonie13 gegenüber der gottesdienstlichen Praxis. Diese Beurteilung entspringt nicht einer Unterbewertung der Eucharistie, sondern ergibt sich aus ihrem Inhalt. Im Zentrum ihres „subversiven Gedächtnisses“ stehen die Opfer der Verhältnisse. In der Corona-Krise sehen wir sie vor allem in denen, die als Alte und Kranke dem Virus und den kapitalistischen Verhältnissen zugleich zum Opfer fallen. Eine messianische Kirche kann zeitweilig auf Liturgie verzichten, wenn dies dem Schutz derer dient, die als Nicht-Verwertbare der kapitalistischen Normalität im Wege stehen. Aus dem in der Eucharistie gefeierten Gedächtnis ergibt sich zugleich, dass die Kirche nie auf Diakonie und prophetische Kritik verzichten kann. In aller Problematik des kirchlichen Verhaltens in der Pandemie sind Spuren einer messianischen Kirche da sichtbar geworden, wo die Sorge um Obdachlose nicht aufgegeben, sondern verstärkt wurde, weil auch sie zu den vorrangigen Opfern der Pandemie gehören. Eher peinlich hingegen war das sich auf die grundgesetzlich garantierte Religionsfreiheit berufende Drängen auf eine möglichst schnelle Wiederaufnahme der Gottesdienste. Den Kirchen darf es nicht darum gehen, ihre religiös-kultischen Interessen durchzusetzen. Ihre Aufgabe ist es, für diejenigen einzutreten, die mit Corona noch mehr als bereits in der kapitalistischen Normalität unter die Räder geraten: Kranke und Alte, Wohnungslose und MigrantInnen, Menschen in der Zweidrittelwelt, kurz: alle, deren ‚Humankapital‘ nicht verwertbar ist. Ihr Elend dürfte sich ‚nach Corona‘ noch einmal verschärfen, dann nämlich, wenn die Schulden bezahlt werden müssen. Genau darauf werden jene rechten und liberalen Kräfte drängen, die jetzt ihr Herz für die Freiheit, das Soziale und die unter den Maßnahmen Leidenden entdeckt zu haben scheinen. Kritik wie sie der Text von Lis und Ramminger an einem positivistischen Gesundheitswahns formuliert, der in der für Kranke diskriminierenden Parole ‚Hauptsache gesund!‘ zum Ausdruck kommt und der ihn begleitenden positivistischen Wissenschaftsgläubigkeit, wird für die Kirchen da zur Herausforderung, wo eine Politik der Resilienz durchgesetzt wird, die – wie sich das aktuell in der Gesundheitspolitik abzeichnet – darauf ausgerichtet ist, die Gesellschaft gegenüber künftigen Krisen belastbar, flexibel und widerstandsfähig zu machen. Es ist eine Politik der Immunisierung gegenüber vorhersehbaren, aber scheinbar unabänderlichen Krisen. Sie werden als ein Verhängnis akzeptiert, das nicht abgewendet werden kann, vor denen es nur die Möglichkeit von Schutzmaßnahmen zu geben scheint. Je weiter die Krise des Kapitalismus voranschreitet, desto autoritärer drohen die Schutzmaßnahmen zu werden. Unter dem Primat präventiver Resilienz kann dann alles das, was Corona befördert und künftige Ausbrüche von Infektionen befeuern wird, weiter getrieben werden: die Herrschaft über die Natur, Züchtung und Verwertung von Tieren, Globalisierung und Mobilität für Produktion und Handel… alles unter der abstrakten Herrschaft des irrationalen Selbstzwecks, Kapital um seiner selbst willen zu vermehren. Angesichts der logischen und historischen Schranke, auf die die Akkumulation des Kapitals stößt, greifen regulierende Maßnahmen zwecks Begrenzung der Akkumulation ins Leere bzw. verschärfen die Krise der Akkumulation. Als einzig realistische Alternative bleibt die Überwindung des Kapitalismus und die müsste mit Strategien seiner Abwicklung verbunden werden statt all der irrationalen Versuche, ihn auf Biegen und Brechen und um jeden Preis zu erhalten.
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