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Herbert Böttcher: Selbstbezüglichkeit... wie im Kapital so auch in uns selbst


Selbstbezüglichkeit...

… wie im Kapital so auch in uns selbst

Herbert Böttcher

 

„Eine Woche lang saßen Bund und Länder gemeinsam in einem Zug, der geradewegs auf einen Kontrollverlust der Pandemie zusteuerte“, kommentierte der Kölner-Stadt-Anzeiger1 das Ringen oder besser Gerangele um Maßnahmen gegen die Epidemie, die in Deutschland bereits die Rekordzahl von weit über 400 Toten an zwei aufeinanderfolgenden Tagen erreicht hat. Vom Elend auf den Intensivstationen, der Überlastung des Personals ist dabei noch gar nicht die Rede und schon gar nicht von dem, was das Virus im Rest der Welt bewirkt.

Ungetrübt davon verteidigen ‚Querdenker‘ ihre Freiheit, die FDP Seite an Seite mit der AfD die Demokratie. Dabei entdeckt ausgerechnet die FDP sogar soziale Benachteiligung und Bildungsungerechtigkeit, wenn es darum geht, Kitas und Schulen zwecks Entlastung der Arbeits- und Wirtschaftswelt am Laufen zu halten. Branchen verteidigen die Freiheit zu produzieren. Handelsketten und Einzelketten wollen, dass das Einkauferlebnis einschließlich seiner Sinnstiftung möglich bleibt – erst recht vor Weihnachten. Es können zwar keine Infektionsketten mehr nachverfolgt werden, dennoch wissen Fußballfunktionäre, dass der Bundesliga-Betrieb so hygienegesichert ist, dass er auch mit Zuschauern weiterlaufen könnte. Und das Böllern an Silvester ist wohl auch ein Freiheits- wenn nicht gar ein Menschenrecht. Und was wird nur aus der Böllerbranche, wenn nicht geböllert wird? Sie wäre so elendiglich dran wie die Rüstungsbranche, wenn keine Waffen mehr verkauft und keine Kriege mehr geführt würden. In der auf Erlebnis und Unterhaltung getrimmten Event- und Kulturbranche wird entdeckt, dass Kultur doch ‚Mehr‘ und ‚Höheres‘ ist als Unterhaltung, sozusagen einen sinnstiftenden Mehr-Wert hat...

Manche Einzelforderungen haben sehr wohl ihre Berechtigung. Nicht zu bestreiten ist die wirtschaftliche und soziale Not, die in den diversen Stellungnahmen zum Ausdruck kommt. Was aber auffällt und viele Stellungnahmen und politische Positionierungen miteinander verbindet, ist ihre ‚Selbstbezüglichkeit‘. Sie bleiben bei ‚sich selbst‘ und reflektieren sich weder in einem Verhältnis zu denen, die in den Krankenhäusern um ihr Leben kämpfen, noch zu denen, die sie – über ihre Kräfte hinausgehend – in einem überforderten ökonomisierten Medizinbetrieb zu versorgen suchen. Implizit droht solche Selbstbezüglichkeit auf das hinaus zu laufen, was in Hassmails an Karl Lauterbach formuliert wurde, „man könne doch nicht die ganze Wirtschaft lahmlegen und das öffentliche Leben stoppen, nur weil die Alten nicht sterben wollten. Wer das Virus für gefährlich halte, könne ja zu Hause bleiben“2. In Deutschland gehören inzwischen immerhin ca. 18 Millionen Menschen zu den über 65jährigen. Wenn sie zu Hause blieben, wäre das – auch rein ökonomisch gedacht – keine zu vernachlässigende Größe.

Nun wäre es weit gefehlt, solche Selbstbezüglichkeiten vom hohen moralisierenden Ross herab als Egoismus zu brandmarken und Umkehr zur Solidarität zu predigen. Das wäre so illusionär und verschleiernd wie Kants rein formale Moral und ihr inhaltsleerer kategorischer Imperativ – illusionär, weil es um gesellschaftliche Probleme geht, die mit individueller Moral nicht zu lösen sind, verschleiernd, weil moralische ‚Lösungen‘ das Problem der Selbstbezüglichkeit von der gesellschaftlichen auf die individuelle Ebene verlagern und seinen gesellschaftlichen Charakter der Reflexion entziehen.

Weit gefehlt wäre auch es auch, die Kritik der Selbstbezüglichkeit als schlichte Apologie der Regierungspolitik misszuverstehen. Sie steht weder für den Schutz von Kranken und Alten, also von der kapitalistischen Normalität ‚Überflüssigen‘, noch für ein gesellschaftliches ‚Allgemeininteresse‘. Die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems sowie des Großteils der Wirtschaft soll aufrechterhalten werden, damit weiter gearbeitet und konsumiert werden kann bzw. soll, während die Einschränkungen in privaten Bereichen ebenso wie in der Gastronomie, im Event- und Kulturbetrieb das Virus ausbremsen und das Gesundheitssystem vor Überlastung schützen sollen. Dass dabei die ‚Überflüssigen‘ mehr geschützt werden als bei einer sozialdarwinistisch verfolgten Strategie der Herdenimmunität ist ein zu begrüßender und nicht zu unterschätzender Nebeneffekt. Die Bezüglichkeit des Staates auf ein kapitalistisches Gesamtinteresse bricht aber nicht mit der Selbstbezüglichkeit, sondern verschafft ihr den Raum, den sie für ihr Agieren braucht.

‚Selbstbezüglich‘ ist der ‚Charakter‘ der gesellschaftlichen Verhältnisse insgesamt, einschließlich des Staates. Das ist durchaus wörtlich zu verstehen; denn ‚Charakter‘ meint im griechischen Ursprung des Wortes: Prägemal oder auch Stempel. Das Prägemal bzw. der Stempel der Selbstbezüglichkeit ist denen aufgedrückt, die darauf vergattert sind, sich in den kapitalistischen Krisenverhältnissen als ‚Ich-AG‘ in der Konkurrenz durchsetzen zu müssen. Dafür gibt es auch einen charakteristischen moralischen Begriff: ‚Eigenverantwortung!‘ Als ‚eigenverantwortliche Ich-AGs‘ und völlig auf der Höhe dessen, was Ratgeber-, Therapie- und Spiritualitätsexperten empfehlen, werden die Individuen auf die Sorge um sich selbst programmiert und darin trainiert. Es soll gar nicht bestritten werden, dass Sorge um sich selbst als kontextuell korrigierender Einwand gegen Fremdbestimmung durch Überforderung sinnvoll sein kann. Gesellschaftlich formuliert wird sie aber nicht kontextuell, sondern allgemein. Genau darin konvergiert der Boom der Selbstbezüglichkeit mit den sich verschärfenden kapitalistischen Krisenverhältnissen. Da gilt: Rette sich, wer kann. Bevor Du aus dem Rennen geworfen wirst, lass den anderen auf der Strecke bleiben.

Die Nähe zur Betriebswirtschaft ist nicht zufällig. Ich-AGs sind betriebswirtschaftliche Einheiten, die sich in der Konkurrenz behaupten müssen, um nicht in einen Fahrstuhl nach unten zu geraten, in dem es keine Notbremse mehr gibt. Das blinde Gesetz heißt: Weiter so! Weiter so! Dem unerbittlichen und tödlichen ‚Weiter so!‘ dient die permanente Veränderung, gesellschaftlich heißt das Reformen. So paradox es erscheinen mag: Solche Veränderungen sind gefordert, damit alles möglichst weiter gehen kann wie gewohnt, jedenfalls solange, bis es einen selbst erwischt bzw. bis es zum Absturz des Betriebssystems kommt. Die geforderten Veränderungen sind ja letztlich nichts anderes als immer neue bis zur Erschöpfung zu erbringende Anpassungsleistungen – begleitet von einer das abstürzende Selbst überhöhenden und beschwichtigenden Spiritualität und von Kirchen, die ihre Kompetenzen für Sterben und Neuanfang anbieten, blind für das, was offensichtlich ist: dass es für immer mehr Einzelne, Länder und Regionen nur noch Sterben und Untergang ohne immanenten Neuanfang gibt.

So langsam nähern wir uns der „verborgnen Stätte“3, an der Selbstbezüglichkeit in ihrem Kern produziert wird. Es ist jene Stätte, an der „man es selbst produziert, das Kapital“4. Es entsteht in strikter Selbstbezüglichkeit; es bezieht sich auf nichts anderes als auf sich selbst. Das Kapital entäußert sich in die Produktion von Waren, aber nur um – vermittelt über ihre Zirkulation, ihren Kauf und Verkauf – wieder zu sich selbst zurück zu kehren und den Kreislauf der eigenen Selbstbezüglichkeit von neuem zu beginnen, bis es an seiner eigenen Erschöpfung, dem Schwund seiner Substanz, der Arbeit, zu Grunde geht.

Die Selbstbezüglichkeit des Kapitals kann sich in kein anderes Verhältnis setzen als dem zu sich selbst. Die Waren, die es produziert, zählen nicht in ihrer stofflichen Inhaltlichkeit, sondern als quantitative Vergegenständlichung von Wert und Mehr-Wert. Das Kapital dient keinem anderen Zweck als dem irrationalen Selbstzweck der Vermehrung seiner selbst. Das konnte in der Aufstiegs- und Hochphase des Kapitalismus durch gesellschaftliche Prosperität, durch partiellen ‚Wohlstand‘ und die Mythologien von einem stetigen Fortschritt „an Erkenntnis und im Bewusstsein der Freiheit“ (Hegel) vernebelt werden. In der Krise wird die tödliche Irrationalität der kapitalistischen Selbstbezüglichkeit, der kapitalistischen Normalität ‚offenbar‘: Das Kapital „muss sich in alle Dinge dieser Welt entäußern, um sich als real darstellen zu können: von der Zahnbürste bis zur subtilsten seelischen Regung, vom einfachsten Gebrauchsgegenstand bis zur philosophischen Reflexion oder zur Umgestaltung ganzer Landschaften und Kontinente...“5 Es muss sich so entäußern, um zu sich selbst und seinem irrationalen Selbstzweck der Vermehrung um seiner selbst willen zurück zu kehren und wieder neu damit beginnen zu können.

Wem das zu theoretisch erscheint, mag sich daran erinnern, wie diese irrationale Selbstbezüglichkeit in der kapitalistischen Normalität funktioniert6:

„Seit Jahrzehnten wissen wir, dass die Meere überfischt sind. … Trotzdem gibt es inzwischen in jedem Dorf ein Sushi-Restaurant. In den letzten fünf 5 Jahren gibt es sogenannten Frischfisch vom Aldi – in jeder Filiale, bei jedem Netto, jedem Lidl, jedem xyz. … Das anzubieten ist das Eine – das Andere ist aber auch, dass die Absatzzahlen so grandios gut sind, dass unternehmerisch alles richtig gemacht wurde.“

„Damit … Trump keine höheren Einfuhrzölle auf unsere ehrlich produzierten Autos erhebt, hat sich die EU auf Betreiben Deutschlands dazu verpflichtet eine erkleckliche Menge an Rindfleisch zu importieren. Dieses Fleisch stammt von Tieren, die seit einigen Jahren schon nicht mal mehr mit Mais, sondern mit Popcorn gefüttert werden. ... Der verarbeitete Mais in Form von aufgepoppten Maiskörnern sorgt dafür, dass der gesamte Verdauungstrakt der armen Rinder zerstört wird. Und so setzen die armen Rinder sehr viel schneller Fett an, erreichen in der Hälfte der Zeit ihr Mastgewicht und können noch früher zu unserem Wohle geschlachtet werden. Interessiert eigentlich irgendjemand noch der Nährstoffgehalt des Fleischs? So mal völlig unabhängig vom Wohle des Tieres? Derart gemästetes Schlachtvieh hat rein gar nichts mehr von den Nährstoffen, Spurenelementen und ‚gesunden‘ Fetten – das ist ernährungstechnisch auch nur noch Müll!“

„SUVs, Kreuzfahrten und Inlandsflüge … haben … schon fast Grundrechtscharakter. Kapitalistische Lösungen in Krisenzeiten sind oftmals nur mehr oder weniger gut getarnte Substitutionslösungen. Akkus statt Verbrenner, Diesel statt Schweröl, Veggie-Wurst statt Rind.“

Die Beispiele des Irrsinns können bis zur Erschöpfung vermehrt werden. Dagegen hilft keine individuelle Moral – nicht einmal die über Selbstbezüglichkeit vermittelte Universalität des kategorischen Imperativs. Moral oder Ethik tangieren nicht die Selbstbezüglichkeit des Kapitals und seinen irrsinnigen Selbstzweck, sondern setzen sie voraus. Nichts scheint in Corona-Zeiten, und erst recht zu Weihnachten, sehnlicher gewünscht zu sein als die Rückkehr zur kapitalistischen Normalität und der Normalität ihres selbstbezüglichen Irrsinns.

Davor rettet uns kein ‚höheres Wesen‘, kein Staat und auch keine Moral… Das, was am ehesten Rettung verschaffen könnte, ist geradezu am meisten tabuisiert: gesellschaftskritische Reflexion, die auf ‚das Ganze‘, die ‚konkrete Totalität‘ der Verhältnisse ausgreift und dabei bis in die „verborgne Stätte der Produktion“ reicht. Sie kann die Selbstbezüglichkeit des Kapitals als zerstörerische Dynamik, die sich in unterschiedlichen Bereichen und auf unterschiedlichen Ebenen vermittelt, zum Gegenstand der Analyse und Kritik machen – als Voraussetzung seiner Überwindung. Nicht noch selbstbezüglicher und ‚Weiter so‘ – auch unter sich verschärfenden Krisenbedingungen –, sondern unterbrechende Reflexion einhergehend mit solidarischem Handeln, „Dialektik im Stillstande“ – wie Walter Benjamin das genannt und beschrieben hat7 – wäre angesagt.


  1. Eva Quadbeck, Das Vertrauen ist geschrumpft, Leitartikel im Kölner Stadt-Anzeiger vom 26.11.2020. ^

  2. So wurde es – wie der Kölner Stadt-Anzeiger vom 21./22.11.2020 berichtet – in Hassmails an Karl Lauterbach, Gesundheitsexperte der SPD, formuliert. ^

  3. Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, Berlin 1984, 189. ^

  4. Ebd. ^

  5. Robert Kurz, Weltordnungskrieg. Das Ende der Souveränität und die Wandlungen der Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung, Bad Honnef 2003, 69f. ^

  6. Beispiele aus: Christoph Nüse, Geld – Zeit – Emmergenz. Unveröffentlichtes Manuskript von 2020. ^

  7. Walter Benjamin in den Anmerkungen zu Über den Begriff der Geschichte, in: Gesammelte Schriften, Band I 3, Frankfurt am Main 7/2015, 1223 – 1266, 1236; vgl. auch ders., Über den Begriff der Geschichte, in: Gesammelte Schriften I 2, Frankfurt am Main 7/2015, 691 – 704, vor allem 702ff. ^




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