Zum Zusammenhang zwischen Warenform und DenkformSohn-Rethels Kritik der NaturwissenschaftenThomas Meyer 1. EinleitungSeit einigen Jahren bemüht sich der ça ira Verlag, die Werke Alfred Sohn-Rethels herauszugeben. Konzentrierten sich die ersten Bände eher auf seine ökonomiekritischen Werke (zum ersten Band vgl. Ortlieb 2013), so ist das Thema des Doppelbandes der angehenden Werkausgabe (Schriften IV.1 und IV.2) »Geistige und Körperliche Arbeit«. Neben Interviews und autobiographischen Skizzen sind dort zum größten Teil Werke und Aufsätze, teilweise in englischer Sprache, zum Themenkomplex Warenform und Denkform versammelt, mit dem sich Sohn-Rethel zeit seines Lebens beschäftigt hat. Insbesondere ist Sohn-Rethels Hauptwerk Geistige und Körperliche Arbeit (1970/73/89) zu nennen, welches in einer textkritischen Edition abgedruckt wurde. Von den Aufsätzen sind z.B. zu erwähnen: Warenform und Denkform – Versuch einer Analyse des gesellschaftlichen Ursprungs des »reinen Verstandes« (1961), Die Formcharaktere der zweiten Natur (1974) und Das Geld, die bare Münze des Apriori (1976/1990). Die Schwierigkeit des Themas spiegelt sich auch in der Langwierigkeit seiner Auseinandersetzung. Beim neu zugänglich Machen ist allerdings dem Leser bzw. der Leserin nahezulegen, die durch diese Werke angegangenen theoretischen Probleme wieder aufzugreifen und nicht dort stehen zu bleiben, wo Sohn-Rethel aufhörte bzw. sich in Aporien verstrickte. Denn bei einer Neuherausgabe ist nicht auszuschließen, dass man sich in Nostalgie oder Philologie verliert. Nicht dass Letzteres grundsätzlich unwichtig wäre: Problematisch wäre es aber, wenn man dabei stehenbliebe und das von Sohn-Rethel angegangene Problemfeld bei sich beließe und nicht mehr den Anspruch formulierte, die Kritik Sohn-Rethels zu aktualisieren und weiter zu denken. Dies zu betonen ist deswegen notwendig, da Sohn-Rethel in jüngerer Zeit durchaus wieder rezipiert wurde, so etwa in dem Sammelband »Geld! Welches Geld? – Geld als Denkform« (vgl. Brodbeck 2016). Auch dort ist eine Verkürzung auf die Zirkulationssphäre (Tausch und Geld) evident.1 Daher soll es im folgenden Rezensionsessay darum gehen, einige wesentliche Punkte Sohn-Rethels aus verschiedenen Texten aufzusammeln, anschließend sollen insbesondere die zirkulative Verkürzung Sohn-Rethels, d.h. seine Bestimmung gesellschaftlicher Synthesis durch den Tausch und damit seine marxistische Arbeitsontologie kritisiert werden. Von wert-abspaltungs-kritischer Seite wurde dazu schon einiges geschrieben (vgl. Bockelmann 2008, Kurz 2004, 69ff., vgl. ebenso: Postone 2003, 242, 275ff.). Zur Kenntnis zu nehmen wäre auch das Buch von Christine Woesler, die Sohn-Rethels Werk bereits 1978 umfassend einer Kritik unterzogen hat (wobei Sohn-Rethel das Vorwort zu diesem Buch lieferte, vgl. 829–832). 2. Denkform als vergesellschaftetes Denken – Zu Sohn-Rethels Versuch, den Zusammenhang zwischen Warenform und Denkform zu bestimmenEine Kernmotivation Sohn-Rethels bestand darin, die gesellschaftlichen Ursprünge moderner Naturwissenschaft zu ergründen. Dieser Zugang weist damit jede Behauptung zurück, die Naturwissenschaften und ihre technologischen Anwendungen wären in irgendeiner Weise ›neutral‹. Den Marxisten hingegen warf er vor, die Naturwissenschaften unhistorisch zu sehen: »Die Naturwissenschaft jedoch wird weder dem ideologischen Überbau noch der gesellschaftlichen Basis zugerechnet und bleibt derart geschichtlich außer Ansatz« (195). Kein Wunder also, dass in der Sowjetunion die technologischen Resultate der Naturwissenschaften unkritisch gesehen wurden: »Allein die geschichtsmaterialistische Ursprungserklärung dieser Wissenschaft und ihres Erkenntnisvermögens aus den zugrundeliegenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen ergibt diese Einsicht in die Nichtneutralität der Wissenschaft. In der UdSSR fehlt diese Einsicht. Man steuert auf eine Endphase der Automation zu, als habe diese mit dem Kapitalverhältnis nichts zu tun. Man erhofft sich davon die technologischen Grundlagen des Kommunismus [...]« (796). Sohn-Rethels Themenstellung, den Zusammenhang zwischen Warenform und Denkform zu ergründen, soll dem Anspruch nach das ›Apriori‹ der von Kant dargelegten Verstandeskategorien, und damit die Naturwissenschaften, auf eine gesellschaftliche Praxis zurückführen. Die Denkformen der Naturwissenschaften, so Sohn-Rethel, finden sich nicht in der Natur selbst, sondern sie sind der Naturbetrachtung vorausgesetzt; ebenso entspringen sie nicht dem menschlichen Bewusstsein, auch wenn die Denkformen im Bewusstsein enthalten sind (732). Sie sind kein Resultat »eines dem Menschen spezifisch eingepflanzten Gehirnvermögens« (721). Sohn-Rethel sieht vielmehr den Ursprung naturwissenschaftlicher Denkformen in dem, was die Menschen in einer Tauschgesellschaft tun, nämlich sich als Tauschende verhalten: »Das Wesen der Warenabstraktion aber ist, daß sie nicht denkerzeugt ist, ihren Ursprung nicht im Denken der Menschen hat, sondern in ihrem Tun« (215). Die Abstraktionsleistung, die in jedem Tauschakt zu leisten ist, also die Abstraktion vom Gebrauchswert, und die Reduktion auf den Tauschwert haben den gleichen gesellschaftlichen Ursprung, wie die Abstraktionen modernen naturwissenschaftlichen Denkens. Beide abstrahieren von »jeglicher Wahrnehmungsrealität« (724) und beide unterstellen eine gewisse Invarianz: dass die Waren in der Zirkulation bis zum Verkaufsabschluss mit sich selbst identisch bleiben, ebenso Münzen, die trotz realer Abnutzung einen invarianten Wert darstellen sollen ( 650), analog dazu, wie in der Physik von Galilei2 vorgestellt wird, dass »der sich bewegende Körper von seiner Bewegung in keiner Weise affiziert [wird]« (Koyré zit. nach Sohn-Rethel, 735). Sohn-Rethel konstatiert also eine gewisse Formgleichheit zwischen der Tauschabstraktion und der galileischen Physik, so habe »Galilei […] die beobachtbare Bewegung auf die reine oder inertiale Bewegung [reduziert], welche die abstrakte, mathematisierbare Bewegung der Tauschabstraktion ist« (842). Und: »Die klassische Mechanik fußt auf der aus dem Warentausch stammende Voraussetzung, daß zeitliche Ortsveränderung eines Körpers keine materielle Veränderung für diesen Körper bedeuten kann« (81). Sowohl die Tauschhandlung als auch die galileische Physik fordern und implizieren eine spezifische Form des Denkens. Sie sind Sohn-Rethel zufolge damit als gleichursprünglich anzusehen: »Der Trägheitsbegriff der Bewegung ist aber vom gleichen Ursprung wie das Kapital. Es ist die begriffliche Indikation des Bewegungsschemas, wie sie der Kapitalfunktion des Geldes entspricht« (660). Dieses Denken ist »von den Formen der gesellschaftlichen Synthesis bestimmt. Die Privatpersonen denken unabhängig voneinander, aber dennoch in den gleichen identischen Formen der Tauschabstraktion« (80). Damit sind auch die »Abstraktionen des mathematisch-naturwissenschaftlichen Denkens […] Vergesellschaftungsformen des Denkens« (654). Diese Form besteht eben darin, Bewegung von aller Sinnlichkeit und zeitlichen Vergänglichkeit des Bewegten abzusehen. Dabei ist »der vom Tausch verlangte Stillstand der Natur in den Dingen ein rein gesellschaftliches Postulat« (100). Durchgehend behauptet Sohn-Rethel, die gesellschaftliche Synthesis im Kapitalismus bestände in der Realabstraktion des Tausches, so heißt es beispielsweise in Warenform und Denkform von 1961: »Die im Austausch stattfindende Abstraktion entspringt aus dem Austauschverhältnis selbst. Sie entspringt nicht der dinglichen Natur der Waren, weder ihrer Natur als Gebrauchswerte, noch ihrer Natur als Arbeitsprodukte. Sie entspringt somit auch nicht dem Verhältnis der Menschen zu dem Warengegenstand in der Produktion oder in der Konsumtion. Die Abstraktion erwächst also weder aus den Dingen noch aus einem unmittelbaren Verhältnis der Menschen zu den konkreten Dingen. Der Ursprung ist rein relationaler Natur, liegt scheinbar im Verhältnis von Dingen zueinander, jedoch nicht von Dingen als Naturobjekte wie in physikalischen Vorgängen, sondern von Dingen als Waren in dem rein gesellschaftlichen Verhältnis des Austauschs; der Ursprung liegt in Relationen der Menschen« (93). Unzählige andere Formulierungen bekräftigen seine offenkundige Reduktion der Realabstraktion auf den Tausch, so weiter in Die Formcharaktere der zweiten Natur: »Unsere Gesellschaft ist ein Austauschzusammenhang […]. Die Tauschhandlung ist objektiv gesellschaftlich, das Bewußtsein der Tauschenden ist die solipsistische Subjektivität jedes einzelnen für sich […] Wenn Marx sagt, daß sich vom Standpunkt der Konkurrenz alles verkehrt darstellt, muß mitberücksichtigt werden, daß die Grundform der Konkurrenz eben der Tausch ist« (643f.) Und in Das Geld, die bare Münze des Apriori schreibt Sohn-Rethel: »Die Elemente der wissenschaftlichen Theoriebildung, d.h. die Erkenntnisbegriffe des Verstandes und die Mathematik, entspringen nicht aus der Produktion, nicht aus den Prozessen des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, auch nicht im Wege der Widerspiegelung oder Abbildung ihrer jeweiligen Gegebenheiten, sondern allein aus dem Austausch- und Zirkulationsprozeß, auf welchem auf Basis der Warenproduktion der ›Zusammenhang der gesellschaftlichen Arbeit‹ oder in meiner Ausdrucksweise die ›gesellschaftliche Synthesis‹ beruht‹« (731, Hervorh. i. O.). Folgerichtig ist die Arbeitsabstraktion für Sohn-Rethel nur etwas aus dem Tausch Abgeleitetes, so schreibt Sohn-Rethel an anderer Stelle: »Andererseits bringt der Austausch seine Objekte nicht hervor, sondern setzt die Produktion und die Arbeit voraus. Es kann nicht mehr ausgetauscht werden, als produziert wird. Die Summe aller Preise (Aneignungspreise) muß essentiell gleich der Summe aller Werte (Arbeitswerte) sein, und auch innerhalb dieser globalen Gleichung ist die Relation zwischen Aneignung und Produktion eine Sache der kausalen und blindwirkenden ökonomischen Naturnotwendigkeit. Aber die Wertform der Waren, d.h. die Warenabstraktion, steht in keinem inhärenten Zusammenhang mit der zur Produktion der Waren erforderlichen Arbeit. […] Anders gesagt, die Warenabstraktion ist Tauschabstraktion, nicht Arbeitsabstraktion« (245). An dem Zitat wird deutlich, dass bei Sohn-Rethel der Fixierung auf die Zirkulationssphäre eine Arbeitsontologie zugrunde liegt. Eine Arbeitsontologie wird auch deutlich in der von Sohn-Rethel oft aufgeführten Trennung zwischen Kopf- und Handarbeit. Diese Trennung hat den Hintergrund, dass es in der Tat in unzähligen Sozietäten unterschiedliche ›soziale Schichten‹ bzw. marxistisch gesprochen, Klassen gab, von denen, die einen zeit ihres Lebens den Hammer schwangen, andere dagegen sich mit Philosophie befassten, also mit dem ›Denken des Denkens‹ beschäftigt waren. Eine Trennung zwischen Kopf- und Handarbeit ist Sohn-Rethel zufolge immer ein Ausdruck von Klassenherrschaft. Eine solche Trennung stellt Sohn-Rethel auch im Kapitalismus fest und der Sozialismus wäre für ihn dann angebrochen, wenn diese Scheidung zwischen Kopf- und Handarbeit abgeschafft wäre (474).3 Hierbei wird deutlich, dass durch die Herangehensweise Sohn-Rethels, die Art und Weise der Arbeit und der Arbeitsteilung durch die Kritik der Trennung zwischen Kopf- und Handarbeit anzugehen, historisch viel zu unspezifisch ist und eine Kritik der Arbeit verunmöglicht. Meines Erachtens ist die Ursache für seine Dualisierung von Kopf- und Handarbeit vor allem darin zu suchen, dass er die Naturwissenschaft als durch das Kapital geformte gesellschaftliche Abstraktionspraxis unbedingt in das Klassenkampfschema des Arbeitermarxismus fassen möchte. Eine Kritik geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung kommt damit schon gar nicht in den Blick; kein Wunder also, dass diese bei ihm erst gar nicht thematisiert wird.4 Sohn-Rethel versucht naturwissenschaftliches Denken als ein reines Denken zu bestimmen, das abgetrennt von der Handarbeit sei. Somit ist für Sohn-Rethel auch das naturwissenschaftliche Experiment ein Akt reinen Denkens, das nichts mit Handwerklichem, d.h. mit Handarbeit zu tun habe: »Auch das Experiment eliminiert die Hand. Erstens müssen die zu konfrontierenden Fakten nach dem genauen Modell der Hypothese konstruiert, d.h. aus ihrem sonstigen Naturzusammenhang herausgelöst und in aller Reinheit ›isoliert‹ werden. Zu dieser Isolierung verhilft nicht etwa die menschliche Hand, vielmehr eine instrumentelle Anordnung, die so konstruiert ist, daß keine Einmischung der Hand mehr erfolgt. Zweitens wird auch aus dem Meßvorgang selbst die Subjektivität des ›Faktors Mensch‹ sorgfältig ausgeschaltet. Die Natur selbst wird vom Experimentator in die Schranken gefordert, indem der fragliche Vorgang mit der aufgestellten Hypothese ohne jegliche Vermittlung [durch die Hand?, TM] durch exakte Messung konfrontiert wird, worin ein Apparat das menschliche Sinnesorgan ersetzt bzw. kontrolliert. Es verhält sich keineswegs so, daß im Experiment der Arbeiter oder gar der verschwundene Handwerker auf den Plan tritt, um mit seiner praktischen Erfahrung dem intellektuellen Urheber der mathematischen Hypothese auszuhelfen. Der experimentelle Meßvorgang erfüllt seinen Zweck nur dann, wenn er mit der Hypothese in demselben Kopfe zur Vergleichung gelangt. Dabei kommt alles darauf an, daß die Person gänzlich irrelevant gemacht wird. Es soll ein Meßresultat erzielt werden, das durch eine kunstvoll herbeigeführte Anordnung die Natur in Anwendung auf sich selbst zustandebringt. Die Einmischung einer menschlichen Hand würde das Experiment zuschanden machen, es seines ganzen Erkenntniswertes berauben« (792). Und 1981 heißt es in Produktionslogik gegen Aneignungslogik: »Die Leistung des Wissenschaftlers ist in allen methodologisch essentiellen Teilen Sache pure Kopfarbeit in extremer Scheidung von jeglicher Handarbeit. Diese Scheidung wird auch durch das Experiment nicht durchbrochen, da der Ausschlag des Meßinstrumentes, auf den es abstellt, der Handlung der Natur alleine, ohne alle Einmischung der menschlichen Hand, muß zugeschrieben werden können. Der Handarbeit fällt nur die konstruktive Vorarbeit zum Experiment zu: Der Bau der Meßapparate, die Herstellung der Versuchsanordnung etc. [...]« (842). Hier tritt nicht wenig Konfusion zu Tage. Dass dem Experimentator an seiner Person und seinem Handeln eine Abstraktionsfähigkeit abverlangt wird, um so die Möglichkeit ›objektiver Erkenntnis‹ sicherzustellen, einen »Blick von Nirgendwo« zu ermöglichen (vgl. Pernkopf 2006), ist einleuchtend und auch von wert-abspaltungs-kritischer Seite ist dies kritisierend aufgegriffen worden (vgl. Ortlieb 1998). Alles andere als einleuchtend ist aber, warum das Experimentieren schlussendlich doch etwas rein Geistiges sein soll, obgleich die experimentelle Anordnung einen technischen Vorgang darstellt, der nicht nur einfach ein reines Kopfprodukt ist, sondern Resultat einer spezifischen, in Technik vergegenständlichten Umformung von ›Naturstoff‹ (und zu erwähnen wäre auch, dass sich die Natur nicht einfach rein passiv in einem Experiment verhält, also durch einen ›Kopfarbeiter‹ nicht beliebig formbar ist). Gleichzeitig soll die ›Hand‹ Vorarbeit zum Experiment leisten, also z.B. in Form (industrieller) Herstellung von Gerätschaften. Warum dies anscheinend wiederum nichts mit Kopfarbeit zu tun haben soll, bleibt unklar. Die ›Hand‹ scheint für Sohn-Rethel eine gewisse Privilegiertheit inne zu haben und sie wird vom Kapital offenbar nur von Außen tangiert. Aufgrund von Arbeitsteilung gibt es auch im Kapitalismus Handarbeit (v.a. am Fließband), die durch Wert und Abspaltung strukturiert wird wie entsprechende Kopfarbeit. Damit ist Handwerkliches keineswegs so unproblematisch, wie offenbar Sohn-Rethel meint. Eine Nichtkritik der Arbeit wird vor allem dann überaus deutlich, wenn sich Sohn-Rethel auch noch zu Aussagen hinreißen lässt, die eine Naturalisierung der Arbeit nahelegen: »Der Trennung von Kopf- und Handarbeit liegt die Trennung von Gesellschaft und Natur zugrunde« (80). Wenig überraschend, dass Sohn-Rethel Engels protestantischem Diktum, die Arbeit habe wesentlich zur Menschwerdung beigetragen (wobei hier Arbeit mit Stoffwechsel mit der Natur überhaupt gleichgesetzt wird), zustimmt (274A). Und noch erbaulicher wird es in einer Art marxistischer Genesis-Erzählung: »Ursprünglich im Anfang der Menschheitsgeschichte, müssen Arbeit und Gesellschaft eine unzertrennliche Einheit gebildet haben, da allein die Arbeit in der Produktion seiner Lebensmittel den Menschen vom Tier unterschieden und das menschliche Dasein überhaupt erst zu einem gesellschaftlichen gemacht hat. Daß diese Einheit jetzt zerrissen ist und die Arbeit, als unabhängige Privatarbeit betrieben, ihre ursprüngliche gesellschaftliche Potenz eingebüßt und an die Mächte des Eigentums über den Warentausch verloren hat, diese ungeheuerliche Verwandlung ist die Grundlager aller Entfremdungen, Verkehrungen, Verdinglichungen, die von da an die Menschenwelt beherrschen, darunter auch die Entstehung eines von der Arbeit getrennten Intellektes und die Begriffsform des menschlichen Denkens ›in seiner allgemeinen Form‹ (Marx)« (728f.). Folgerichtig sieht Sohn-Rethel Gesellschaften, in denen die Warenproduktion von großer Bedeutung sei5, nicht als »Produktionsgesellschaften«, sondern als »Aneignungsgesellschaften« (294f.). In den Produktionsgesellschaften werde die gesellschaftliche Synthesis durch die Arbeit vollbracht, in den Aneignungsgesellschaften durch den Tausch: »Wo die Synthesis der Vergesellschaftung auf Tätigkeiten beruht, welche von der Produktionsarbeit verschieden und getrennt sind, nämlich in der Aneignung (ob einseitig oder wechselseitig) von Arbeitsprodukten durch Nichtarbeitende (!) bestehen, dort herrscht Ausbeutung und Klassenherrschaft und die Scheidung von Kopf- und Handarbeit; wo hingegen die Synthesis der Vergesellschaftung als Funktion des Arbeitsprozesses selbst statthat, dort ist die Grundlage für eine klassenlose Gesellschaft« (389). Solche Positionen werfen in der Tat »ein schlechtes Licht« (Postone 2003, 276) auf Sohn-Rethels Theoriegebäude. Offensichtlich bedingen Zirkulationsideologie und Arbeitsontologie bei Sohn-Rethel einander. Da, wie er meint, »die Logik des abstrakten und einseitigen Intellektes aus dem Geld [stammt]« (755), d.h. er Denkformen anhand von Zirkulation von Waren bestimmen möchte, ist auch einleuchtend, dass er, wo auch immer er Warenzirkulation zu erblicken meint, die historische Spezifität des warenproduzierenden Patriarchats und seiner Denkformen verfehlen muss: So ist die Antike für Sohn-Rethel eine Gesellschaft einfacher Warenproduktion, bei der sich das Kaufmannskapital noch nicht des Produktionsapparates bzw. der Arbeit bemächtigt habe (z.B. 773f.). Sowohl Mittelalter als auch die Antike wären Gesellschaften gewesen, bei denen die »Produktion zu nicht unwesentlichen Teilen für den Markt bestimmt war und daß in ihre Denkweisen bei aller Vorherrschaft des Gebrauchswerts charakteristische Elemente des Tauschwerts und der Tauschabstraktion eingegangen sind, die zwischen ihnen [den beiden Gesellschaften, TM] eine begriffliche Vergleichsbasis und philosophische Gemeinschaft der Denkform herstellen« (737). Sohn-Rethel sieht den Ursprung wissenschaftlicher Denkformen bereits in der Antike: konzentriert er sich dazu auf den Tausch und schlussfolgert, die naturwissenschaftlichen Denkformen würden der Tauschabstraktion entspringen, daher müssten sich diese Denkformen gebildet und Verbreitung gefunden haben, seit es die ersten Münzen gab (7. Jh. v. Chr.) und Handel in einem nennenswerten Umfang stattgefunden hat: »Die Einführung und rasche Ausbreitung der Münzprägung ist ein sicherer Gradmesser der starken Handelsvermehrung in jener Epoche, durch die die Warenproduktion, mit Engels zu reden, ›ins Stadium ihrer vollen Entfaltung eintrat‹« (157). Somit ist alles im Wesentlichen das Gleiche. Ob in der Antike oder im westdeutschen Reich der 50er Jahre: Es wurden immer Waren getauscht! Die zu kritisierenden Punkte an Sohn-Rethels Theorie sollten hiermit bereits deutlich geworden sein: Eine zirkulationsideologische Verkürzung, die die Realabstraktion des Kapitalverhältnisses als Tauschabstraktion begreift. Die Realabstraktion der abstrakten Arbeit fällt damit unter den Tisch. Damit zusammenhängend kommt Sohn-Rethel zu einer ungenügenden Bestimmung der historischen Spezifität des Kapitalismus, indem er eine Warengesellschaft bis in die Antike retrojiziert. Daher ist auch eine Abgrenzung und Unterscheidung zwischen den modernen Denkformen in den Naturwissenschaften und denen der antiken Naturphilosophie unklar. Weiterhin ist Sohn-Rethels Auffassung zu kritisieren, die modernen Wissenschaften würden entscheidend auf einer Trennung von Kopf- und Handarbeit basieren, wobei diese auf klassenspezifische Unterschiede verweise. Damit ist die neuzeitliche Naturwissenschaft für Sohn-Rethel vor allem etwas Geistiges, getrennt vom Handwerklichen. Die Bedeutung des wissenschaftlichen Laborexperimentes wird dabei unterschätzt und die historisch spezifische Vergegenständlichung der Naturwissenschaften in Technik bleibt unverstanden. 3. Sohn-Rethels zirkulative Verkürzungen und die Realabstraktion der ArbeitDa Sohn-Rethel der marxistischen Geschichtsontologie und Ontologie der Arbeit verhaftet bleibt, gelingt es ihm nicht überzeugend, die historische Spezifität moderner Denkformen und den Bruch zwischen Vormoderne und Moderne klar herauszustellen. Somit wird bei Sohn-Rethel abstraktes Denken überhaupt mit Tauschhandlungen und den dazu nötigen Abstraktionsanforderungen kurzgeschlossen, so dass es einerlei ist, ob man nun auf den Schultern Kants oder Parmenides’ steht. Wie oben bereits angedeutet, kritisierte Christine Woesler bereits 1978 die zirkulativen Verkürzungen Sohn-Rethels. Mit einer Reduktion der gesellschaftlichen Synthesis auf den Tausch könnte weder der Kapitalismus begriffen noch die historische Spezifität der modernen Naturwissenschaften im Unterschied zur antiken Naturphilosophie bestimmt werden.6 Auch habe Sohn-Rethel »das experimentelle Moment der objektiven Naturerkenntnis sehr stiefmütterlich behandelt […] Zwar ist richtig, daß das Experiment dem theoretisch-mathematischen Apriori nachgeordnet ist […], andererseits findet Materie nicht als bloß Gedachtes, sondern als reale Natur Eingang in die Wissenschaft. Die Herausbildung der wissenschaftlichen Praxis des messenden Experiments, vor allem in der Newtonschen Physik, kann Sohn-Rethel aufgrund seiner eingrenzenden Problemstellung der geschichtsmaterialistischen Ursprungserklärung der theoretischen Grundlagen der Erkenntnis nur schwer leisten. Vor allem macht ihm seine strikte Trennung von Produktion und Austausch, die er in dieser Striktheit auch für die Entstehung der klassischen Physik annimmt, Schwierigkeiten in der Erklärung des experimentellen Charakters der objektiven Naturerkenntnis« (Woesler 1978, 240f.) Er kann damit nicht erklären »wie durch das Kapital in seiner Eigenbewegung Produktion und Zirkulation vermittelt [werden], und wie die Grundlagen der objektiven Naturerkenntnis sich im Produktionsprozess vergegenständlichen« (ebd., 150). In seiner Begründung der gesellschaftlichen Synthesis »verwendet er entweder das Argument, daß sich die Realabstraktion des Tausches in allen warenproduzierenden Gesellschaften im Kern identisch verhalten, wobei er in die Schwierigkeit kommt, die griechische Naturphilosophie und die exakten Naturwissenschaften nicht mehr in ihren qualitativen Differenzen bestimmen zu können, oder er geht so vor, daß er die Differenz aus dem Unterschied von einfacher und kapitalistischer Warenzirkulation erklärt, ohne Berücksichtigung der Produktion. Die Ausklammerung der Produktion ist meines Erachtens nicht möglich, denn die mit dem Kapital gegebene veränderte Konstitution der gesellschaftlichen Synthesis muß erkenntnistheoretisch reflektiert werden, sollen die kopfwerklichen Kategorien aus der wirklichen ökonomischen Bewegung erklärt werden. Ich vertrete also im Unterschied zu Sohn-Rethel die These, daß das Kapital seiner Selbstbewegung und seinen verschiedenen Erscheinungsformen nach die widersprüchliche Einheit von Produktion und Zirkulation konstitutiert, daß die beiden Sphären sich nicht antithetisch und ausschließlich zueinander verhalten, sondern lediglich die Differenz von Mehrwertproduktion und -realisation darstellen« (ebd., 154). Die Reduktion der Realabstraktion der warenproduzierenden Gesellschaft auf die Zirkulation, d.h. auf den Warentausch, nimmt also »klammheimlich die Produktion aus der Realabstraktion« heraus (Kurz 2004, 71). Und weiter Robert Kurz: »Der Marxismus tut sich auf seine ›Fundierung in der Produktion‹ nur im positiven Sinne einer ontologischen ›Ehre der Arbeit‹ etwas zugute, während seine Kapitalismuskritik in Wahrheit bloß eine ›Fundierung in der Zirkulation‹ hat und gerade deswegen verkürzt bleibt. Denn den Vorgang der Realabstraktion als erst im Nachhinein am Arbeitsprodukt als Ware auf dem Markt vorgenommen zu verstehen, heißt nicht anderes, als die Kritik an der Realabstraktion und damit am warenproduzierenden System, so weit sie überhaupt geleistet wird, auf die Zirkulationssphäre zu beschränken. Das Problem der kapitalistischen Negativität wird so ganz auf die Sphäre der Zirkulation sowie der damit verbundenen Distributionsweise verengt [...]« (ebd., 69). Eine zirkulative Verkürzung besteht also darin, die Destruktivität des Kapitalismus eben nicht in der Produktion selbst und damit der Arbeit zu verorten, sondern im Abstraktionsprozess der Tauschhandlung, der Distributionsweise und in juristischen Eigentumsverhältnissen usw. Dass die Zirkulation Moment eines Gesamtprozesses ist und der Realisation des produzierten Mehrwerts dient, also nicht einfach eine Tauschhandlung zwischen zwei Tauschenden darstellt, kommt bei Sohn-Rethel nicht zum Ausdruck; also ist die ›Zirkulation‹ in der Antike keineswegs ein Phänomen, das sich bis heute fortlaufend entwickelt hat. Was hier scheinbar isoliert als Einzelhandlung nach dem Gleichen aussieht, ist doch etwas Anderes: ›Tauschhandlungen‹ in der Antike haben nichts mit Tauschhandlungen in der Moderne zu tun. Anhand einer Tauschhandlung den Kapitalismus zu erklären, führt in die Kalamitäten des methodologischen Individualismus (vgl. Kurz 2012, 167ff.), wodurch ein Verständnis der kapitalistischen Totalität verfehlt wird. Mit der Fixierung auf die Zirkulation und der Bestimmung der gesellschaftlichen Synthesis durch diese wird der negative Begriff der abstrakten Arbeit positiviert, als Definition angesehen, als menschliche Bestimmung überhaupt, als entscheidendes Moment der ›Menschwerdung des Affen‹. Damit leistete der Marxismus, wie auch Sohn-Rethel, eine »Kritik des Kapitalismus von Standpunkt der Arbeit« (vgl. Postone 2003, 25f., Hervorh. i. O.). Die Realabstraktion der Arbeit besteht gerade darin, von dem konkreten Inhalt abzusehen, jeden Inhalt dahingehend zu formen, zu entwickeln und zu mobilisieren, dass dieser der Zweckbestimmung kapitalistischer Verwertung genügen kann. Die Wareneigenschaft wird einem Produkt nicht erst im Tausch verliehen, sondern das Produkt wird bereits als Ware produziert. Die reale Abstraktionszurichtung findet schon in der Produktion statt. Der Produktionsprozess als real werdende Zurichtung, als Geltend-Machen der abstrakten Arbeit, besteht genau darin, dass der einzelne Produzent dergestalt und genau das produziert, sodass eine Nachfrage auf dem Markt bedient werden kann und er möglichst in der Konkurrenz gegen andere besteht. D.h. der einzelne Produzent eignet sich einen Teil der gesamtgesellschaftlich produzierten Mehrwertmasse an, wodurch sich seine Einzelarbeit als gesellschaftliche Arbeit bewähren würde. Dieser abstrakte ›Markterfolg‹ ist schlussendlich das einzige gesellschaftlich gültige Kriterium. Dabei ist die Perspektive natürlich die, dass von allen Folgen und Nebenwirkungen der Produktion abstrahiert wird (selbst wenn diese allseits bekannt sind); sie erscheinen dann als externalisiertes Umweltproblem usw., das dann bestenfalls der Staat im Nachhinein bearbeiten kann, ohne natürlich die Gesamtveranstaltung infrage zu stellen oder in irgendeiner Weise zu ›gefährden‹. Der reale Abstraktionsprozess impliziert also eine spezielle Zurichtung der stofflichen wie auch der sozialen Seite. Es wird von konkreten sozialen und leiblichen Belangen abstrahiert, indem die Arbeitenden einem uniformen Verwertungsimperativ unterworfen werden durch die abstrakte betriebswirtschaftliche Fließzeit und die Homogenisierung des Raumes. Letztere und wie diese mit der absoluten Zeit und dem absoluten Raum Newtons zusammenhängen werden von Sohn-Rethel nicht thematisiert.7 Die Realabstraktion besteht Sohn-Rethel zu folge darin, dass im Abstraktionsprozess des Tausches vom Gebrauchswert von aller Sinnlichkeit, von allem Bedürfnis abstrahiert wird und es wird unterstellt, die Ware bleibe immer mit sich selbst identisch (die Zirkulation habe keinen Einfluss auf das Zirkulierende). Sohn-Rethel macht sich aber keine Gedanken darum, wie die Ware hergestellt wurde, von was bei der Produktion des Gebrauchswertes abstrahiert wurde und inwieweit der Gebrauchswert selbst real gewordene Abstraktion ist. Schon gar nicht interessiert sich Sohn-Rethel für den geschlechtsspezifischen Charakter der Unterwerfung unter die abstrakte Arbeit. Auf welche Weise der Produktionsprozess Abstraktionsprozess ist, kommt bei Sohn-Rethel also nicht in den Fokus (vgl. auch den Abschnitt »Was ist real abstrakt an der abstrakten Arbeit« in: Kurz 2004, 100ff.). Sohn-Rethel problematisiert zwar den Taylorismus, aber auch dort wird das Hauptproblem in der Scheidung zwischen Hand- und Kopfarbeit gesehen, wenngleich die Entfremdung der Arbeit im Taylorismus »zur Vollendung« gebracht worden sei (398). Allerdings, aufgrund seiner Trennung zwischen Arbeit und Tausch und aufgrund seiner zweierlei gesellschaftlichen Synthesis (durch Arbeit in Produktionsgesellschaften und durch Tausch in Aneignungsgesellschaften), erblickt Sohn-Rethel im Taylorismus doch »die potentielle Basis, den ›materiellen Unterbau‹ einer sozialistischen Produktionsweise« (397). Somit ist auch folgerichtig, wenn Sohn-Rethel das tayloristische Zeitregime positiv sieht: »In der funktionellen Notwendigkeit einheitlicher Zeitordnung, welche den modernen kontinuierlichen Arbeitsprozeß kennzeichnet, sind die Elemente einer neuartigen Synthesis der Vergesellschaftung enthalten« (389). Hier rächt sich die Ausblendung der Abspaltungsdimension. Hat Sohn-Rethel eine Kritik geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung nie wirklich zum Thema gemacht, so kommt er folgerichtig in seiner Lobpreisung des Taylorismus nicht darauf, dass es Lebensbereiche gibt, die sich keineswegs in der Logik der Betriebswirtschaft und ihrer abstrakten Raum-Zeit fassen und organisieren lassen. Die krassen Zumutungen einer einheitlichen Zeitordnung werden in ihrer Tragweite gar nicht wahrgenommen. Mit einer Ontologisierung der Arbeit, wie sie mit einer Reduktion der Realabstraktion auf den Tausch zwangsläufig einhergeht, kann Sohn-Rethel die Disziplinierung und Zurichtung zur Arbeit nicht kritisieren. Ebenso entgeht ihm auch der patriarchale Charakter der Arbeit selbst. Dass die Verwissenschaftlichung der Arbeit, d.h. die Arbeitswissenschaft, wie sie vom Taylorismus und Fordismus angegangen wurde, einen zutiefst androzentrischen Charakter hat, kommt Sohn-Rethel ebenso wenig in den Fokus (vgl. Krell 1984). Eine zirkulative Verkürzung der Realabstraktion ist des Weiteren nicht in der Lage, die Zerstörung der Umwelt, die Destruktivität oder Absurdität so mancher der sog. ›Gebrauchswerte‹ zum Kritikgegenstand zu machen. Robert Kurz schrieb dazu: »Unter dem Diktat dieser Produktion und Realisation des abstrakten Reichtums werden tagtäglich Produktionen selbst für elementare Bedürfnisse mangels Rentabilität und Zahlungsunfähigkeit stillgelegt, während die Produktion destruktiver Produkte für destruktive Bedürfnisse (nicht allein qua Rüstungsindustrie) sogar noch forciert wird. Aber nicht nur in diesem Sinne macht sich die Abstraktion von Bedürfnisinhalten im Produktionsprozess selbst massiv geltend. Auch die scheinbar an sich nicht destruktiven Produktionsinhalte werden im Sinne abstrakter Arbeit destruktiv zugerichtet. Ob Tomaten ohne Rücksicht auf Geschmack nach Verpackungsnormen für kontinentale Distributionen gezüchtet, Äpfel zwecks längerer Haltbarkeit atomar bestrahlt oder überhaupt Lebensmittel ausschließlich im Sinne des Verwertungszwecks denaturiert werden und der ganze historisch aufgehäufte Reichtum einer Vielfalt von Nutzpflanzen und Nutztieren verloren geht zugunsten einer reduzierten ›Sortenarmut‹ zwecks betriebswirtschaftlicher Vereinfachung, ob beim Bau von Häusern unter dem Diktat der betriebswirtschaftlichen Kostensenkung gesundheitsschädliche Bauteile zum Einsatz kommen, eine dysfunktionale Raumaufteilung und ästhetische Zumutungen entstehen: Der stoffliche Inhalt richtet sich an der Verwertungsbestimmung aus, nicht umgekehrt; und zwar mit fortschreitender kapitalistischer Entwicklung in historisch wachsendem Ausmaß« (Kurz 2004, 119). Die absurden Distributionsketten sind den ebenso absurden globalen betriebswirtschaftlichen Zersplitterungen des Produktionsprozesses keineswegs äußerlich, bzw. keineswegs sind letztere nur als Folge von ersteren anzusehen. Vor allem hat die Globalisierung deutlich gemacht, dass die transnationale Zersplitterung vorwiegend dadurch zustande kommt, dass minimale Kostengefälle ausgenutzt werden, sodass das einzelne Unternehmen Kosten reduziert und sich somit in der Konkurrenz durchsetzt (bzw. durch den Entwertungsdruck die Überkapazitäten usw. auf andere verschiebt). Sohn-Rethels Feststellung, dass zwar nicht nur die Eigentumsverhältnisse ein Problem wären, sondern auch die Scheidung von Kopf- und Handarbeit, führt zu nichts, wenn die Destruktivität der Arbeit und die Verrücktheit bestimmter Arbeitsteilung usw. dadurch gar nicht erst in den Fokus kommen. Eine mit der Reduktion der Realabstraktion auf die Zirkulation einhergehende Ontologisierung der Arbeit verhindert eine umfassende Kapitalismuskritik. Die zirkulative Verkürzung Sohn Rethels findet sich auch in seiner Analogisierung der inertialen Bewegung, wie sie von der galileischen Physik gedacht wird, mit dem Tausch. Gemeint ist eine sich selbst erhaltende Bewegung eines Körpers, der sich aufgrund seiner eigenen Trägheit konstant bewegt (gleichförmig und gradlinig); gemeint ist also der Fall einer kräftefreien Bewegung, wie sie später im 1. Newtonschen Axiom formuliert worden ist. Der zirkulativen Bewegung, mit Blick auf eine Tauschhandlung zwischen Käufer und Verkäufer, wird eine Invarianz unterstellt. Diese Invarianz ist nicht nur das Identischbleiben der Waren hinsichtlich ihrer physischen Eigenschaften, sondern auch hinsichtlich ihrer Werte. Wenn aber die Zirkulation als Moment eines Gesamtprozesses bestimmt wird (G-W-G’), statt nur als ein Äquivalenztausch zwischen Käufer und Verkäufer, so ist der Vergleich mit einer kräftefreien Bewegung irreführend. Die Zirkulation als Moment des kapitalistischen Gesamtprozesses, als Realisationssphäre des produzierten Mehrwerts, bleibt nie bei sich selbst und kehrt nie zu sich selbst zurück, ist also keine ›ewige Bewegung‹ wie der gedachte kräftefreie Fall. Das fällt Sohn-Rethel zwar in der Tat auch auf, er verbleibt aber in Widersprüchen (vgl. Woesler 1978, 153). Man kann also zusammenfassen8, dass die zirkulative Verkürzung Sohn Rethels, d.h. die Reduktion der gesellschaftlichen Synthesis auf den Tausch, eine Ontologisierung der Arbeit zur Voraussetzung hat. Die marxistische Geschichtsontologie schlägt sich dann auch in der Trennung zwischen Kopf- und Handarbeit nieder, indem diese ahistorisch klassensoziologisch fixiert wird, sodass seine Argumentation auf das Skandalon hinausläuft, die Arbeiter würden von denjenigen beherrscht, die angeblich nicht arbeiten. Des Weiteren blendet Sohn-Rethel die Abspaltungsdimension aus, was sich z.B. darin äußert, dass er nicht einmal geschlechtsspezifische Arbeitsteilung ernsthaft zum Thema macht. Die Fixierung auf die Zirkulationsebene verfehlt die Kritik der Destruktivität der Kapitalismus grundsätzlich; es genügt eben nicht, Ausbeutung und fehlende Verfügungsgewalt zu skandalisieren. Sohn-Rethels Bestimmung der Naturwissenschaften als Kopfarbeit und seine stiefmütterliche Behandlung der experimentellen Praxis, tun sich schwer damit, die reale Praxis der Naturwissenschaften, ihre technischen Anwendungen und die entsprechende kapitalistische Naturumformung (bzw.- -destruktion) zu einem Gegenstand der Kritik zu machen. Obgleich Sohn-Rethels Anliegen und sein Versuch die Konstitution der Naturwissenschaften geschichtsmaterialistisch zu erhellen anerkennenswert sind (nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer positivistischen Neutralsetzung von Wissenschaft und Technik, die gleichermaßen im Osten wie im Westen gang und gäbe war bzw. ist), sind auch die Grenzen dieses Versuchs zur Kenntnis zu nehmen, die sich ja aus der Verengung des Blickwinkels der Kritik auf die Zirkulationssphäre mit Folgerichtigkeit ergeben.
Alfred Sohn-Rethel: Geistige und Körperliche Arbeit – Theoretische Schriften 1947–1990 Teilband I und II herausgegeben von Carl Freytag, Oliver Schlaudt und Françoise Willmann, ça ira Verlag, Freiburg/Wien 2018. LiteraturBockelmann, Eske: Die Synthesis am Geld: Natur der Neuzeit – Eine Antwort auf Sohn-Rethels Frage nach dem Zusammenhang zwischen Warenform und Denkform, in: exit! – Krise und Kritik der Warengesellschaft Nr.5, Bad Honnef 2008, 25–57. Brodbeck, Karl-Heinz: Geld als Denkform – Sprache, Mathematik und die Einheit der monetären Vergesellschaftung, in: Brodbeck, Karl-Heinz; Graupe, Silja (Hg.): Geld! Welches Geld? – Geld als Denkform, Marburg 2016, 19–70. Krell, Gertraude: Das Bild der Frau in der Arbeitswissenschaft, Frankfurt/New York 1984. Kurz, Robert: Die Substanz des Kapitals – Abstrakte Arbeit als gesellschaftliche Realmetaphysik und die absolute innere Schranke der Verwertung. Erster Teil: Die negative historisch-gesellschaftliche Qualität der Abstraktion »Arbeit«, in: exit! – Krise und Kritik der Warengesellschaft Nr.1, Bad Honnef 2004, 44–129. Kurz, Robert: Geld ohne Wert – Grundrisse zu einer Transformation der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 2012. Ortlieb, Claus Peter: Bewusstlose Objektivität – Aspekte einer Kritik der mathematischen Naturwissenschaft, 1998, auf exit-online.org. Ortlieb, Claus Peter: Täuschungen des Individualismus – Sohn-Rethels Frühschriften, in: exit! – Krise und Kritik der Warengesellschaft Nr.11, Berlin 2013, 210–213. Pernkopf, Elisabeth: Unerwartetes erwarten – Zur Rolle des Experimentierens in naturwissenschaftlicher Forschung, Würzburg 2006. Postone, Moishe: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft – Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx, Freiburg 2003. Woesler, Christine: Für eine be-greifende Praxis in der Natur – Geldförmige Naturerkenntnis und kybernetische Natur, Lahn-Gießen 1978.
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