»Aspekte des neuen Rechtsradikalismus« und die totalitäre DemokratieThomas Meyer
Der Aufstieg des Rechtspopulismus der letzten Jahre weckt das Bedürfnis nach Erklärung. An verschiedenen Stellen ist darauf hingewiesen worden, dass die rechten Bewegungen der letzten Jahre nicht einfach vom Himmel gefallen, sondern vielmehr im Zusammenhang mit dem Neoliberalismus und seinen sozialen Verwerfungen der letzten Jahrzehnte zu sehen seien. Wilhelm Heitmeyer zufolge (vgl. dazu Heitmeyer 2018) sei der Autoritarismus, wie er von den Rechtspopulisten bzw. Rechtsradikalen ausgedrückt und eingefordert wird, bereits im Neoliberalismus, der stets als alternativlos hingestellt wird, enthalten. Die Aushöhlung demokratischer Prozesse, die Abwicklung des Sozialnetzes, der Ausbau des Polizeistaates, die grundsätzliche soziale Unsicherheit und die unmittelbare Auslieferung des Einzelnen an die Verwertungsimperative des Kapitals machen den Autoritarismus des neoliberalen Regimes deutlich (vgl. dazu auch Wacquant 2013). Nicht zuletzt sei der Anteil der Bevölkerung, dem man ein rassistisches Weltbild u.ä. nachweisen kann, über die Jahre konstant hoch. Stets war also ein hohes Potential an ›gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit‹ vorhanden und ist daher keineswegs ein Novum der letzten Jahre (Heitmeyer 2018). Die Strategien der Rechten zielen darauf ab, die ›Grenzen des Sagbaren zu verschieben‹. Dazu trug zweifellos auch die »rohe Bürgerlichkeit« (Heitmeyer) bei, wie sie etwa in den Werken Sloterdijks (vgl. Kurz 2005, 387ff., 458ff., sowie Winkel 2010) und Sarrazins (vgl. Lux 2012 sowie Konicz 2015a) deutlich wurde. Es ist, wie Heitmeyer schreibt, »eine Tatsache, dass unter einer dünnen Schicht zivilisiert-vornehmer (›bürgerlicher‹) Umgangsformen autoritäre Haltungen verborgen sind, die immer deutlicher sichtbar werden, meist in Form einer rabiater werdenden Rhetorik« (Heitmeyer 2018, 310). Diese Verborgenheit wurde in den letzten Jahren fortlaufend aufgebrochen. Einen Anlass (nicht Ursache!) lieferte die »Abschottungskrise« (David Goeßmann) vom Herbst 2015. Die ›rohe Bürgerlichkeit‹ zeigte sich damit in der Debatte um die Flüchtlinge, bei der auch sog. Gegner der AfD rechte Argumente bzw. ›Narrative‹ mitaufnahmen, die sich von denen der AfD nur geringfügig oder gar nicht unterschieden (vgl. Goeßmann 2019).1 Schlussendlich wurden ›Argumente‹ rassistischer Agitation vom Mainstream aufgenommen: Die feine bürgerliche Mitte ist es selbst, die rechts steht; sie gebiert den »Extremismus der Mitte« (Konicz 2016, 158ff.). Wie Heitmeyer betont, ist die Normalität selbst das Problem: »Es liegt nahe, dass das Extreme mit seinen offen brutalen Kommunikations- und Handlungsformen untrennbar mit der Normalität des sozialen und politischen gesellschaftlichen Lebens verbunden ist und aus ihr heraus erst entsteht. […] das Normale [ist also] nicht als Sicherheitsgarantie zu verstehen, sondern als potentiell gefährlich. […] Deshalb ist die Frage aufzuwerfen, wie sich das Destruktive in der Normalität entwickelt (und nicht nur gegen sie)« (Heitmeyer 2018, 279, Hervorh. i. O.). Man kann also mit Heitmeyer davon reden, dass die bürgerliche Normalität es ist, die das Autoritäre in sich birgt und autoritäre Haltungen stets von neuem aktualisiert. In dem Zusammenhang erlangen die Kritischen Theorie und ihre Untersuchung zur autoritären Persönlichkeit erneutes Interesse (Ziege 2019, 135ff.). Angesichts der anhaltenden Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien und des Erstarkens rechtsradikaler Bewegungen wurde zudem ein öffentlich gehaltener Vortrag Adornos von 1967 zum Rechtsradikalismus erstmalig gedruckt herausgegeben. Was moderne Rechtsradikale ausmache und was faschistische Agitation antreibe und erfolgreich werden lasse, hat Adorno in diesem aufgeführt. Dieses kleine Buch »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus« schlug recht hohe Wellen: Es wurde in bürgerlichen Feuilletons und im staatlichen Rundfunk diskutiert. Hervorgehoben wurde dabei, dass Adornos Ausführungen sehr aktuell seien und so klängen, als habe Adorno bereits die AfD besprochen. Hintergrund des Vortrages waren die damaligen Wahlerfolge der NPD.2 Adorno betonte u.a. in dem Vortragstext, dass der Faschismus seinen Erfolg vor allem dem Umstand verdanke, dass seine Ursachen nach wie vor gegeben seien. Eine zentrale Ursache faschistischer Agitation sah Adorno vor allem in der Konzentration des Kapitals und der damit einhergehenden oder drohenden Deklassierung von Kleinbürgern u.a. Ein drohender Absturz der Mittelklasse werde auch damit ›verarbeitet‹, dass nach nationaler Souveränität gerufen werde. Diese nationale Souveränität werde umso mehr eingefordert, als ihre objektiven Bedingungen nicht mehr gegeben seien. Zur dieser Einschätzung kam Adorno vor dem Hintergrund der Blockkonfrontation und der EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) (vgl. Adorno 2019a, 9–13). Die Ähnlichkeiten zur Gegenwart sind offensichtlich: Auch heutige Rechtsradikale und Rechtspopulisten streben nach einer Wiedererlangung nationaler Souveränität3, vor allem in ihrer Kritik gegen die Europäische Union. Die objektiven Bedingungen für ›nationale Souveränität‹ sind heute jedoch aufgrund der Transnationalisierung des Kapitals noch weniger als in den 60er Jahren gegeben und daher vollkommen illusionär (vgl. Kurz 2005). Obgleich Adornos Vortrag aufgrund seiner analytischen Triftigkeit gelobt wird, wird auch angemerkt, dass die Unterschiede zu den 1960er Jahren zur Kenntnis zu nehmen seien. Volker Weiß, der ein Nachwort schrieb, bemerkt dazu Folgendes: »Welchen Wert haben diese Analysen für die Gegenwart? Zunächst gilt es, die Unterschiede zu beachten. Adornos Warnung vor einer schlichten Rückbindung des Rechtsradikalismus an die Konjunkturbewegungen der Wirtschaft ist ernst zu nehmen. Die Auswirkungen der Rezession von 1966/67 als unmittelbarer Hintergrund der beschriebenen Entwicklungen lassen sich weder mit den Folgen der Weltwirtschaftskrise von 1929 noch mit denen gegenwärtiger Finanz- und Währungskrisen vergleichen. […] Auch die politischen Frontlinien sind nicht ohne Weiteres vergleichbar. In der Auseinandersetzung mit dem globalen Dschihadismus, einem agitatorischen Schlüsselelement des Rechtspopulismus, geht es anders als im Antisemitismus nicht allein um pathische Projektion. Der politische Islam ist realer Akteur und muss selbst als Produkt einer kollektiven narzisstischen Kränkung gesehen werden.« (vgl. Adorno 2019a, 74f.)4 In der Tat ist eine Theorie oder eine Kritik immer auf ihren ›Zeitkern‹ zu untersuchen, was auch Adorno betonte. Worin dieser aber bestehen soll, bleibt in der jetzigen ›Adorno-Debatte‹ recht unklar. So wird die gegenwärtige Krise nur sehr oberflächlich wahrgenommen. Von akkumulations- oder krisentheoretischen Ausführungen findet sich bei liberalen Publizisten wie Volker Weiß nichts. Daher müssen die Unterschiede zu den Krisen der 1960er Jahren und denen von 1929 und 2008ff. mit Weiß mehr geraten werden, als dass sie bestimmt wären. Adorno weist zwar auf den damals schon objektiven Anachronismus des Nationalismus hin, aber mit Adorno allein würde nicht klar, warum die nationalstaatliche Souveränität heute als solche erodiert, warum die politische Regulationsfähigkeit des transnationalisierten Kapitals an Grenzen stößt, warum die Demokratie sich selbst fortlaufend entdemokratisiert (Polizeistaat, Freihandelsabkommen), warum die Staatsapparate verwildern (vgl. Kurz 1993 sowie Scholz 2019 und Konicz 2018), warum immer mehr Staaten zerfallen (vgl. Kurz 2003, Bedszent 2014 und Konicz 2016). Insofern ist die gefeierte Aktualität des Vortrages übertrieben, nicht zuletzt deswegen, weil die Kommentatoren, wie Weiß, weit davon entfernt sind, eine Kritik auf der Höhe der Zeit formulieren zu können. Bei Weiß wird auch deutlich, dass er die neuen Rechten vor allem auch wegen ihrem Antiliberalismus kritisiert. Nun hat diese Kritik zwar ihre Berechtigung, jedoch speist sich ein rechter Antiliberalismus auch aus einem gewissen ›Unbehagen in der Moderne‹. Statt das Unbehagen in der Moderne, die Zumutungen von Modernisierung, bürgerlicher Freiheit und Gleichheit zum Thema zu machen, begeht Weiß den Fehler »zu meinen, die Welt des globalen Marktes wäre in Ordnung, gäbe es bloß die braun-faschistischen (oder aktuell: grün-islamistischen) ›Barbaren‹ nicht« (Hanloser 2018, 167). Nicht nur ein rechter ›Antimodernismus‹ (der selbst sehr modern ist) wäre also zurückzuweisen, sondern auch eine bürgerliche Apologetik von ›Freiheit und Gleichheit‹, nicht zuletzt vor dem Hintergrund von Polizeistaat und Ausnahmezustand, die die bürgerlichen Demokratien von sich aus forcieren (man denke nur an die neuen Polizeigesetze). Adornos Warnung, dass das Fortleben des Faschismus in der Demokratie statt gegen diese gefährlicher sei, ist daher weiter zu denken.5 D.h.: Rechtsradikalismus wäre heute als Krisenideologie, als Fortsetzung der demokratischen Krisenverwaltung mit anderen und/oder den gleichen Mitteln anzusehen.6 Der Ignoranz gegenüber der Krise entspricht das umstandslose Einklagen der Demokratie. Das kann an eine problematische und anachronistische Seite von Adornos Vortrag anknüpfen. So legt Adorno den Gedanken dar, der auf eine noch zu verwirklichende wirkliche Demokratie zielt: »Man hört ja sehr oft, gerade mit Rücksicht auf solche Kategorien wie ›Die ewig Unbelehrbaren‹ und wie solche Trostphrasen sonst lauten mögen, die Behauptung, es gebe so einen Bodensatz von Unbelehrbaren oder von Narren, einen sogenannten lunatic fringe, wie man in Amerika es nennt, in jeder Demokratie. Und es steckt dann darin so ein gewisses quietistisch bürgerlich Tröstendes, wenn man sich das so vorsagt. Ich glaube man kann darauf nur antworten: Gewiß sei in jeder sogenannten Demokratie auf der Welt etwas Derartiges in variierender Stärke zu beobachten, aber doch nur als Ausdruck dessen, daß dem Inhalt nach die Demokratie eben bis heute nirgends wirklich und ganz sich konkretisiert hat, sondern formal geblieben ist. Und die faschistischen Bewegungen könnte man in diesem Sinn als die Wundmale, als die Narben einer Demokratie bezeichnen, die ihrem eigenen Begriff eben doch bis heute noch nicht voll gerecht wird« (Adorno 2019a, 17f.) Heute ist es aber ganz und gar verfehlt, bürgerliche Ideale gegen die bürgerliche Realität einzuklagen, vor allem, wenn man sich genauer anschaut, worin diese bürgerlichen Ideale bestehen und was der vorausgesetzte Rahmen ist, in dem sie sich realisieren (sollen) und dies insbesondere unter Bedingungen der Krise. Die Gefahr, sich von den bürgerlichen Idealen blenden zu lassen, hat Marx bereits beschrieben.7 So heißt es in den Grundrissen: »Es ergibt sich daher der Irrtum jener Sozialisten, namentlich der französischen, die den Sozialismus als Realisation der von der französischen Revolution nicht entdeckten, sondern historisch in Umlauf geworf[e]nen bürgerlichen Ideen nachweisen wollen, und sich mit der Demonstration abmühen, daß der Tauschwert ursprünglich (in der Zeit) oder seinem Begriff nach (in seiner adäquaten Form) ein System der Freiheit und Gleichheit aller, aber verfälscht worden sei durch Geld, Kapital etc. […] Das Tauschwertsystem und mehr das Geldsystem sind in der Tat das System der Freiheit und Gleichheit. Die Widersprüche aber, die bei tieferer Entwicklung erscheinen, sind immanente Widersprüche, Verwicklungen dieses Eigentums, Freiheit und Gleichheit selbst; die gelegentlich in ihr Gegenteil umschlagen. […] Was diese Sozialisten von den bürgerlichen Apologeten unterscheidet, ist auf der einen Seite das Gefühl der Widersprüche des Systems, andererseits der Utopismus, den notwendigen Unterschied zwischen der realen und idealen Gestalt der bürgerlichen Gesellschaft nicht zu begreifen, und daher das überflüssige Geschäft zu übernehmen, den idealen Ausdruck, das verklärte und von der Wirklichkeit selbst als solches aus sich geworf[e]ne reflektierte Lichtbild, selbst wieder verwirklichen zu wollen« (Marx 1953, 916). Wenn rückblickend auf frühere Zeiten möglicherweise noch demokratischere Verhältnisse im Unterschied zu heutigen wahrgenommen werden, so hat dies auch damit zu tun, dass die politische ›Gestaltungsfähigkeit‹ in früheren Zeiten noch gegeben war, in Zeiten fordistischen Booms, in denen Reformen in der Tat noch die Möglichkeit sozialen Aufstieges eröffneten und Handlungsspielräume der Politik noch wesentlich größer waren. Wenn diese allerdings zusammenschrumpfen, nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer Krise der Staatsfinanzen, dann verliert die Demokratie auch ihre ›Gestaltungsfähigkeit‹ (vgl. dazu Konicz 2016, 180ff.). Stößt also die Verwertung auf Grenzen, erodiert auch die Demokratie. Dagegen wird heute von nicht wenigen eine ›wirkliche Demokratie‹ eingeklagt8, ohne dass dabei die Herrschaftslogik der Demokratie wirklich durchschaut wird: »Am wenigsten einsichtig ist das herrschende Bewußtsein […] natürlich hinsichtlich des totalitären Charakters der geheiligten Demokratie selbst« (Kurz 1999, 574). Denn auch der früheren ›Gestaltungsfähigkeit‹ der Demokratie waren stets enge Grenzen gesetzt: Die Unterwerfung der Subjekte unter die Verwertungsimperative des Kapitals sind dem demokratischen Diskurs vorausgesetzt und als solche nicht verhandelbar. Alles demokratische Handeln hat sich in diesem Rahmen zu bewegen. Das »demokratische Denken jeglicher Couleur [kommt] von sich aus niemals auf die Idee […], die Ressourcen und den gesellschaftlichen Reichtum anders als in der Waren- bzw. Geldform mobilisieren und organisieren zu wollen; und daß somit seine vermeintliche Freiheitlichkeit und Humanität sich immer bewußtlos die Systemgrenze der modernen Warenform selber als harte Grenze setzt« (Kurz 1993, 18). Des Weiteren »impliziert die abstrakte Freiheit der abstrakten monadisierten Individuen, die sich immerzu ›selbstverwerten‹ müssen, den gnadenlosen Konkurrenzkampf aller gegen alle«. Und: »die reale Aktionsfähigkeit als Freier und Gleicher [ist] auf die Zahlungsfähigkeit beschränkt« (ebd., Hervorh. i. O.). Wird dies nur ansatzweise und punktuell praktisch infrage gestellt, stehen die Bluthunde Schlange und die Demokratie macht ihren repressiven Kern offenbar. Dies ist die verwirklichte Demokratie und sie ist daher nicht nur eine formale oder formal beschränkte, die sich selbst bloß noch nicht verwirklicht hat. Ihre Verwirklichung besteht genau darin, formal Rechte zuzugestehen, diese aber auch wieder zu suspendieren oder einzuschränken, wenn sie sich für die Krisenverwaltung und Kapitalverwertung (oder -entwertung) als dysfunktional erweisen. Daher ist Polizeistaatsterror auch kein Widerspruch zur Demokratie. Da man sich als Freier und Gleicher nur dann verwirklichen kann, wenn man sich als kapitalproduktives Subjekt bewährt hat, ist die verwirklichte Demokratie auch mit enormen sozialen Ungleichheiten vereinbar. Das Gegenteil der Freiheit und ihre Widersprüche gehören damit zu dieser Freiheit selbst, wie Marx schon betonte. Dies wird erstaunlicherweise auch gar nicht geleugnet. So formulierte Friedrich August von Hayek, dass zur Freiheit »zu hungern« gehöre, ja sogar, dass »freiwillige Konformität eine Bedingung für wohltätige Auswirkungen der Freiheit« sei. Folgerichtig kann nach Hayek eine »Demokratie […] totalitäre Gewalt ausüben, und es ist vorstellbar, daß eine autoritäre Regierung nach liberalen Prinzipien handelt« (Hayek 1960, 25, 82, 132). Liberale Grüße an Pinochet! Wenn es kriselt, können soziale Proteste und jeder Widerspruch überhaupt sich schon als ›störend‹ erweisen. Nicht zufällig wurde in der Griechenlandkrise davon geredet, dass das Spardiktat Deutschlands nicht demokratisch verhandelt werden dürfe (Konicz 2015b). Nicht zufällig hieß es von Merkel, Demokratie müsse »marktkonform« sein. Wenn der ›Markt‹ immanente Entscheidungsmöglichkeiten nicht mehr zulässt, dann laufen alle Entscheidungen auf ›Spar und stirb‹ hinaus und demokratische Freiheit besteht dann in nichts anderem mehr, als per Dekret und Parlament die eigene Hinrichtung mitzugestalten. Die Rechtsfähigkeit ist in einer Demokratie an die Verwertungsfähigkeit gebunden. Können Arbeitsverträge nicht mehr geschlossen werden, erodiert das Recht selbst (vgl. Kurz 2003, 324ff.) Menschen, die der Verwertungsfähigkeit verlustig gehen durch Entwertung ihrer Arbeitskraft o.ä., werden faktisch Bürger minderen Rechts, wie das Hartz-IV-Regime beweist (vgl. Rentschler 2004). Menschen, deren Entwertung weiter fortgeschritten ist, wie z.B. Flüchtlinge, wird am Ende das bloße Lebensrecht abgesprochen oder ihr Sterben hingenommen. Dies zeigt nicht nur die Abschottungspolitik des ›freien und demokratischen Westens‹, das anhaltende Sterben im Mittelmeer, sondern auch das mehr oder weniger ›Endlagern‹ von Menschen in KZ-ähnlichen Einrichtungen, in sog. ›Auffanglagern‹. Die gröbste Schweinearbeit dabei überlässt man gerne anderen.9 Da Demokratie als staatliche Form an die Form von Wert und Abspaltung gebunden ist und damit in der Krise der Verwertung erodiert, macht es weder Sinn den Verlust von Demokratie zu beklagen, noch die Verwirklichung einer ›eigentlichen‹ Demokratie einzuklagen. Keinesfalls würde es also in irgendeiner Weise genügen, die Demokratie als bloß formal anzuklagen, um einzufordern, sie möge sich nun endlich verwirklichen: vielleicht durch mehr ›direkte Demokratie‹, wie es auch Rechtspopulisten fordern. Es reicht also nicht, eine unzureichende Teilhabe oder Repräsentanz oder ungleich verteilten Reichtum zu kritisieren. Gegenstand der Kritik müsste vielmehr die Interessen- und Willensform des bürgerlichen Subjekts und damit die kapitalistische Form des Reichtums und der (Re)-Produktion selbst sein. Es wäre deutlich zu machen, dass Demokratie eben kein freier Diskurs ist, kein »Verein freier Menschen« (Marx), in dem alle angehalten sind, über den sinnvollen Einsatz der Ressourcen sich zu verständigen. Ganz im Gegenteil: dies ist genausowenig Gegenstand demokratischen Diskurses wie auch einer autoritären Kommandowirtschaft oder eines völkischen Ethnoregimes. Die Unterwerfung unter die Fetischkonstitution der Wert-Abspaltungs-Gesellschaft, unter die Warenform und die Verwertungsbewegung des Kapitals ist eben die Basis einer jeden Demokratie. Diese immer wieder vorkommende falsche Gegenüberstellung von liberalen Demokraten und autoritärer, roher bis faschistischer Bürgerlichkeit ist also zurückzuweisen.10 Wenn, wie Marx sinngemäß meinte, die Wahrheit der bürgerlichen Gesellschaft in ihren Kolonien zu sehen ist11, so die Wahrheit der wirklichen Demokratie in der Krise und im Ausnahmezustand. Eine Kritische Theorie auf der Höhe der Zeit muss dies zur Kenntnis nehmen oder sie ist keine. Literatur Adorno, Theodor W.: Aspekte des neuen Rechtsradikalismus, 4. Aufl., Berlin 2019a. Adorno, Theodor W.: Bemerkungen zu ›The Authoritarian Personality‹, Berlin 2019b. Bedszent, Gerd: Zusammenbruch der Peripherie – Gescheiterte Staaten als Tummelplatz von Drogenbaronen, Warlords und Weltordnungskriegen, Berlin 2014. Davis, Mike: Die Geburt der Dritten Welt – Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter, Berlin/Hamburg/Göttingen 2011, 3. Aufl., zuerst London/New York 2001. Feit, Margret: Die »Neue Rechte« in der Bundesrepublik – Organisation, Ideologie, Strategie, Frankfurt/New York 1987. Goeßmann, David: Die Erfindung der bedrohten Republik – Wie Flüchtlinge und Demokratie entsorgt werden, Berlin 2019. Hanloser, Gerhard: Die libertäre und die liberale Linke und die Neue Rechte – Bemerkungen zu einer drängenden Frage, in: Ne znam: Zeitschrift für Anarchismusforschung, Nr.7, Lich 2018, 157–168. Hayek, Friedrich A. von: Die Verfassung der Freiheit (Gesammelte Schriften Bd. 3), Tübingen 2005. Heitmeyer, Wilhelm: Autoritäre Versuchungen – Signaturen der Bedrohung I, 3. Aufl., Berlin 2018. Jäger, Margarete; Wamper, Regina (Hg.): Von der Willkommenskultur zur Notstandsstimmung – Der Fluchtdiskurs in deutschen Medien 2015 und 2016, Duisburg 2017, online: http://www.diss-duisburg.de/wp-content/uploads/2017/02/DISS-2017-Von-der-Willkommenskultur-zur-Notstandsstimmung.pdf. Konicz, Tomasz: Failed State BRD, 2018, online: https://www.heise.de/tp/features/Failed-State-BRD-4232674.html. Konicz, Tomasz: Generation Sarrazin – Eine kurze Skizze der Genese der neuen deutschen Rechten, 2015a, online: https://www.streifzuege.org/2015/generation-sarrazin/. Konicz, Tomasz: Kapitalkollaps – Die finale Krise der Weltwirtschaft, Hamburg 2016. Konicz, Tomasz: Willkommen in der Postdemokratie, 2015b, online: https://www.heise.de/tp/features/Willkommen-in-der-Postdemokratie-3374458.html. Kurz, Robert: Das Weltkapital – Globalisierung und innere Schranken des modernen warenproduzierenden Systems, Berlin 2005. Kurz, Robert: Die Demokratie frisst ihre Kinder – Bemerkungen zum neuen Rechtsradikalismus, in: Rosemaries Babies – Die Demokratie und ihre Rechtsradikalen, Unkel/Bad Honnef 1993, 11–87. Kurz, Robert: Schwarzbuch Kapitalismus – Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft, Frankfurt 1999. Kurz, Robert: Weltordnungskrieg – Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung, Bad Honnef 2003. Lenin, W.I.: Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, in: Ausgewählte Werke Band III, Berlin 1970, 69–163. Lux, Vanessa: Verschiebungen in der biologistischen Diskussion: das Beispiel Sarrazin, in: Schulze, Annett; Schäfer, Thorsten: Zur Re-Biologisierung der Gesellschaft – Menschenfeindlichen Konstruktion im Ökologischen und im Sozialen, Aschaffenburg 2012, 129–152. Marx, Karl; Engels, Friedrich: MEW Band 9, Berlin 1960. Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953. Rentschler, Frank: Der Zwang zur Selbstunterwerfung – Fordern und Fördern im aktivierenden Staat, in: exit! – Krise und Kritik der Warengesellschaft, Nr.1, Bad Honnef 2004, 201–229. Scholz, Roswitha: ›Die Demokratie frisst immer noch ihre Kinder‹ – heute erst recht, in: exit! – Krise und Kritik der Warengesellschaft, Nr. 16, Springe 2019, 30–60. Trenkle, Norbert: Der Demokratische Mauerbau – Elendsmigration und westlicher Abgrenzungswahn, in: Rosemaries Babies – Die Demokratie und ihre Rechtsradikalen, Unkel/Bad Honnef 1993, 227–262. Wacquant, Loic: Bestrafen der Armen – Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit, Berlin/Toronto 2013, zuerst Paris 2004. Weiß, Volker: Die autoritäre Revolte – Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, Stuttgart 2018. Winkel, Udo: Der Geist geistloser Zustände – Sloterdijk u. Co.: Zum intellektuellen Abstieg der postkritischen deutschen Elitedenker, in: exit! – Krise und Kritik der Warengesellschaft, Nr.7, Bad Honnef 2010, 251–259. Ziege, Eva-Maria: Nachwort der Herausgeberin, in: Adorno, Theodor W.: Bemerkungen zu ›The Authoritarian Personality‹, Berlin 2019b, 133–160.
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