»Die andere Querfront« – Ein Nachtrag zu linker AntideutschenkritikThomas Meyer
Der antideutsche Szenebetrieb ist mittlerweile in die Jahre gekommen. Eine kritische Bilanz derselben zu ziehen beansprucht das neue Buch von Gerhard Hanloser mit dem einschlägigen Titel »Die andere Querfront – Skizzen des antideutschen Betrugs« (Münster 2019, Unrast-Verlag). Der Titel deutet schon an, dass es sich bei der antideutschen Theorie schlussendlich um eine Mogelpackung handelt. Eine Mogelpackung insofern, da ihre Kritik keine sei, die die bestehenden kapitalistischen Verhältnisse einer radikalen Kritik unterziehe, so der Autor. Wenn man sich den Werdegang der Bahamas anschaut, die mittlerweile ganz offen im rechtspopulistischen Sumpf angekommen sind, kann man dem nur zustimmen. Dieses Buch »stellt zuallererst eine kritische Gesamtbilanz nach 30 Jahren dar« (12). Unter Antideutsche fasst Hanloser eine Reihe von Publizisten, wie Matthias Küntzel, Wolfgang Pohrt und Joachim Bruhn u.a., diverse Gruppierungen, wie im Wesentlichen die ISF (Initiative Sozialistisches Forum), die Bahamas und natürlich Borderliner wie Jürgen Elsässer. »Die andere Querfront«, so Hanloser »besteht aus Linkenhassern und im Zweifelsfall antisozialistischen Extremismusforschern, schuldbeladenen Maoisten und ewigen Antikommunistinnen, NATO-Apologetinnen, Atlantizisten und Amerikafreundinnen ohne Kenntnis des ›anderen Amerika‹. Die andere Querfront umfasst in Kollektivkategorien denkende Palästinenserhasser, so vergangenheitsbewältigende wie bedingungslose Israelsolidarische und akute Migrationsfeinde, Abendlandverteidiger und Islamkritikerinnen […].1 Wichtiger Bestandteil ist auch die Glaubensgemeinschaft der vermeintlich Guten, die dadurch nicht antisemitisch sein will, indem sie den Antisemitismus begriffs- und schamlos anderen anhängt. In Kürze: jene, die eine an Kapitalismus- und Imperialismuskritik geschulte linke Kritik dieser Verhältnisse dämonisieren und delegitimieren wollen« (10f., Hervorh.i.O.). Zwar ist Querfront »freilich ein überspannter Begriff und kann nur augenzwinkernd (!) benutzt werden.« Jedoch sind »die oben skizzierten Querbezüge, Gemeinsamkeiten und Affinitäten […] frappierend« (ebd.). Allerdings sind die Kritikpunkte, die in dem Buch genannt werden, so neu nicht, so etwa die faktische Verabschiedung der Antideutschen von jeglicher Sozial- und damit Kapitalismuskritik, die Affirmation krisenimperialistischer Kriege, vor allem nach dem 11.9., ein Hochidealisieren der bürgerlichen Gesellschaft, ein denunziatorisches Vorgehen gegen alle, die in ihre identitätslogischen Schablonen nicht hineinpassen. Übrigens alles Punkte, die auch Robert Kurz in seinem bereits 2003 erschienenen Buch »Die antideutsche Ideologie«2 aufgeführt an, auf den sich auch Hanloser mehrfach zustimmend bezieht.3 Dies alles soll im Folgenden gar nicht weiter wiederholt werden. Allerdings ist zu erwähnen, dass sich Hanloser mit der Leugnung der Krise, der Mystifikation der Krise seitens der Antideutschen, wie dies insbesondere im antideutschen Pamphlet »Der Theoretiker ist der Wert« formuliert wurde, nicht nennenswert befasst. Er erwähnt kaum mehr, als dass dieses Pamphlet, welches »sich mit der Krisentheorie der Krisis-Gruppe4 auseinanderzusetzen vorgibt […] sich gar bei näherer Betrachtung bloß als aufgeblasener Nonsens [entpuppt] (110/109)«. Dass er sich nicht detaillierter mit der Mystifikation und Leugnung der Krise der Antideutschen auseinandersetzt, liegt daran, dass Hanloser sich selbst als Klassenkampfmarxist5 versteht und offenbar nur oberflächlich mit Wertkritik befasst hat (mit Wert-Abspaltungskritik schon gar nicht). So sind die »Nürnberger Tradition der Krisis« (103) und die Antideutschen Hanloser zufolge zwei mögliche Ausrichtungen der Wertkritik.6 Sein Verständnis des Begriffes »automatisches Subjekt« ist allerdings eher dem ISF7 entlehnt als der (alten) Krisis und erst recht als der Exit. So heißt es: »Das Kapital sei ein ›automatisches Subjekt, das sich wie ein göttliches Wesen allein aus sich heraus bewegt und unangreifbar über die Menschen herrscht. Damit wurde aber auch die Marx’sche Erkenntnis suspendiert, dass das Kapital als soziales Verhältnis eine spezifische gesellschaftliche Vermittlungsform ist, die die lebendige Arbeit benötigt und sie in der Mehrwertproduktion ausbeutet, um sich profitgetrieben zu reproduzieren. Ohne Zugriff und Verwertung der lebendigen Arbeit keine Kapitalbewegung, ohne Proletarisierte keine Ausbeutungsordnung, so könnte man etwas altbacken formulieren. Doch genau diese Erinnerung an und Einsicht in die Klassenstruktur des Kapitalismus wollten ja die antideutschen und wertkritischen Neomarxisten verabschieden« (102). Einen Kommentar erspare ich mir (vgl. Kurz 2004/2005). Seltsamerweise kommt in dem Buch keine Kritik des antideutschen Androzentrismus bzw. Antifeminismus vor. Dabei gibt die Bahamas mit ihren antifeministischen Exzessen mehr als genug Anlass dazu.8 Wünschenswert wäre es auch gewesen, den Rassismus der Bahamas ausführlicher zu kritisieren (207f.).9 Schwerpunkte des Buches sind also die Themenkomplexe (Anti)-Antiimperialismus, der antideutsche Bellizismus, linker Antisemitismus und Antizionismus (wenn auch recht schlecht, s.u.) und der Werdegang diverser Publizisten. Auch wenn an den Linken es viel aussetzen gab und gibt, wie auch Hanloser mehrfach betont, so ist seiner Meinung nach die Auseinandersetzung der Antideutschen mit den Defiziten der Linken mehr als fragwürdig. Er nennt z.B. die Kritik des Antiimperialismus und stellt dar, dass die antideutsche Kritik an ihm keinesfalls der Vielfalt an Positionen und Widersprüchen gerecht wird, die den Antiimperialismus und die antikolonialen Bewegungen durchzogen. Eine oberflächliche Auseinandersetzung mit dem Antiimperialismus stellt er z.B. bei Thomas Haury fest (31ff).10 Haury unterstelle den Antiimperialisten der 68-Linken einen Manichäismus, der so nicht stimme. Es gab durchaus kritische antiimperialistische Positionen, die keineswegs antikoloniale Bewegungen hofierten und idealisierten. Besonders ärgerlich ist nach Hanloser, wenn eine Kritik des Antiimperialismus am Ende nur dazu führt, im bürgerliche Hafen anzukommen und es also dabei gar nicht mehr darum geht, Krieg, Imperialismus, Ausbeutung usw. zu kritisieren oder defizitäre Kritiken zu überwinden, wenn also eine Kritik an den Linken zum Selbstzweck gerät, zu einem Spektakel11 verkommt. Äußerst unappetitlich ist es schlussendlich, wenn Aspekte dieser Kritik von konservativen Leuten aufgegriffen werden, als Argument für eine Gleichsetzung und Links und Rechts und als Ausrede dient, jeden Gedanken an Emanzipation von nun an als totalitär denunzieren zu können. Jedoch ist zu betonen, dass die Positionen gegen die Antideutschen, also meist von Antiimperialisten formulierte, genauso falsch und affirmativ sein können. Wenn also die Antideutschen immer wieder denunziatorisch vorgegangen sind und durchaus den Antisemitismusvorwurf formal und instrumentell eingesetzt haben (siehe z.B. Joachim Bruhns Auseinandersetzung mit Robert Kurz: Bruhn 2002/200312; zum antideutschen »Verfahren der denunziatorischen Zuschreibung« vgl. Kurz 2003, 273ff.), so ist auf der anderen Seite festzustellen, dass die Ideologie der Antiimperialisten nicht nur in vielen Punkten anachronistisch ist (vgl. etwa Kurz 2003b, 363ff., ders. 2003c, ders. 2006), sondern immer wieder Antisemitismus und Islamismus von Antiimperialisten verharmlost werden (vgl. Kurz 2009). Das hat auch bis heute leider nicht aufgehört. Knut Mellenthin etwa bringt es in der Jungen Welt Ende 2019 fertig, die Hisbollah in Schutz zu nehmen, wohlgemerkt eine vom iranischen Regime kontrollierte antisemitische Terrororganisation.13 Leider kann man Hanloser von einer gewissen Verharmlosung nicht freisprechen, obgleich er die den Islam und Islamismus verharmlosenden Linken kritisiert (155, Fn. 287). Seine Auseinandersetzung mit dem »eliminatorischen Antizionismus« (Stephan Grigat) ist mehr als dürftig. Grigat, den Hanloser beiläufig als »Anti-Iran-Aktivist« etikettiert, kritisierte Wolfgang Benz dahingehend, er habe »eine ganze Karriere darauf aufgebaut, den Antisemitismus als Vorurteil zu verharmlosen und dadurch mit allen möglichen anderen Vorurteilen gleichzusetzen« (Grigat zit.n. Hanloser, 250). Grigat habe, so Hanloser im Anschluss, »offensichtlich einen Gutteil seiner Karriere auf solche Unterstellungen aufgebaut« (ebd.). Grigat suche schlussendlich »eine im Kern kriegerische Konfrontation mit dem iranischen Regime« (251). Offenbar geht vom Iran, Hanloser zufolge, keine ernste Bedrohung für Israel aus. Wäre wohl wieder nur eine weitere böse »Unterstellung«. Des Weiteren echauffiert er sich darüber, dass gegen die BDS-Bewegung u.a. von Jutta Ditfurth Front gemacht wird, obgleich Hanloser zugesteht: »Tatsächlich können sich in BDS notorische Israelfeinde und Antisemitinnen tummeln« (265). Vermutlich sind dies nur Einzelfälle oder es ist schlicht nur Zufall, dass in der BDS-Bewegung Antisemiten Zulauf finden. Mit Ziel und Inhalt der BDS-Kampagne hat dies sicherlich nichts zu tun. Im Übrigen ›tummeln‹ sich ›tatsächlich‹ auch in der AfD Antisemiten. Schaut man sich allerdings an, für welche Ziele die BDS-Kampagne steht, so z.B. für das Rückkehrrecht der palästinensischen ›Flüchtlinge‹, mit dem die Zerstörung Israels beabsichtigt wird, so kann man den BDS nicht anders als antisemitisch einordnen (Ditfurth 2019, 148ff.). Die sog. Gewaltlosigkeit des BDS, auf die Hanloser verweist, ist so gewaltlos nicht, wie Ditfurth dazu schreibt: »Der BDS ist kein gewaltfreies Projekt. Überall wo er auftaucht, wie etwa schon seit Jahren an US-amerikanischen Universitäten, erleben jüdische Studierende und anderen junge Linke, die Israel nicht vernichtet sehen wollen, signifikant mehr antisemitische Angriffe, Schmähungen, Sachschäden, körperliche Angriffe. Sie werden von BDSlern gezielt und aggressiv aus antirassistischen und internationalistischen Bündnissen gedrängt. Teil der BDS-Strategie ist es, die akademisch gebildete Jugend in den USA, Kanada und Europa, die morgen in einflussreichen Positionen arbeiten könnte, gegen Israel in Stellung zu bringen« (ebd., 178f., Hervorh. i. O.). Dass Hanloser sich gegen Ditfurth echauffiert, die Linke kritisiert, die den BDS unterstützen oder sich nicht von ihm distanzieren (wollen), wirkt schon äußerst absurd. Dies zeigt einmal mehr, dass der Antideutschen »›antiimperialistischer‹ Widerpart […] um kein Deut besser [ist]« (Kurz 2003, 7). Beide sind als »Gegensatz zweier Verwahrlosungsformen des traditionellen linksradikalen Bewußtseins« einzustufen (ebd.). Auch wenn Karrierestreben, biographische Befindlichkeiten und Brüche bei dem einen oder anderen eine Rolle spielen mögen (Wer bitte schön, kann denn von sich behaupten, von so etwas vollständig frei zu sein?), so sind die Werke besagter Publizisten doch auf ihren Wahrheitsgehalt ganz unabhängig von irgendwelchen persönlichen Marotten zu prüfen. So etwa Matthias Küntzels Forschungen zum islamischen Antisemitismus und wie dieser durch die Nazi transportiert und angeheizt wurde.14 Das aber unterlässt Hanloser. Statt dessen heißt es, der Nahostkonflikt werde Küntzel (und Dieter Kunzelmann) »zum Objekt ihrer eigenen deutschen Konfliktbewältigung« (168). Es kommt noch besser: Er parallelisiert Küntzel mit Jürgen Elsässer: »Vom Kommunismus des Kommunistischen Bundes, in dem beide bis in die frühen 90er organisiert waren, haben sie sich weit wegbewegt, um nun in die ihnen angemessen erscheinende Rolle des ›guten Deutschen‹ zu schlüpfen. Der eine bekämpft als Vertreter der anderen, westlich orientierten Querfront den eliminatorischen Antisemitismus der Araber, der andere als Kämpfer gegen die Islamisierung Deutschlands in Form von Migrationsbewegungen und als Chefredakteur des rechtsradikalen Compact-Magazins« (142f.). Einen ›linksbürgerlichen‹ Antisemitismuskritiker mit einem Faschisten auf eine Stufe zu stellen ist schon harter Tobak. Es stimmt zwar, dass in der antideutschen Szene Begriffe als denunziatorische Knüppel verwendet wurden, um jede Sozialkritik zu unterbinden, dass also z.B. Proteste gegen Hartz-IV als solche als antisemitisch unterstellt werden, so ist aber andererseits der Standpunkt zurückzuweisen, Begriffe wie »linker Antisemitismus« oder »struktureller Antisemitismus« seien mehr oder weniger Quatschbegriffe, obwohl sie in der Tat, wie auch »Antiamerikanismus«, als »Begriffsjoker« oder »Diskurs-Joker« (173 und 259) oft in denunziatorischer Absicht verwendet werden. Jedoch bleibt seine Auseinandersetzung mit linkem Antisemitismus und Antizionismus schwach, wenn nicht gar theoretisch unterbelichtet. Er leugnet keineswegs, dass es unter Linken Antisemitismus gibt und gab, vor allem in der radikalen Linken nach 1967. Dennoch meint er, scheint die »Chiffre ›linker Antisemitismus‹ […] mehr zu verdunkeln, als zu erhellen« (273) Dass aus ehemals glühenden linken Antizionisten nicht wenige später stramme Antideutsche wurden, deutet Hanloser dergestalt, dass der »linke Antizionismus […] also etwas anderes beinhaltet haben [muss] als bloß widerwärtigen Judenhass« (277). Als Argument dafür führt er weiter an, dass es linke antizionistische Positionen gab, die sowohl Israel als auch alle arabischen Staaten abschaffen wollten, damit an ihrer Stelle eine sozialistische Gesellschaft tritt, »die von Arbeiter- und Bauernräten regiert wird« (Cohn-Bendit 1969, zit. n. Hanloser, ebd.). Hanloser zufolge macht es daher wenig Sinn linken Antizionismus einfach mit Antisemitismus gleichzusetzen. Es wäre allerdings redlich von ihm gewesen sich heutigen linken Antizionisten zuzuwenden und die sog. Palästinasolidarität einer Kritik zu unterziehen. Wenn Linke auf Demos gegen Israel zusammen mit Islamisten marschieren, auf denen Sprüche fallen wie »Hamas, Hamas, Juden ins Gas«15, wenn manche Linke über den ›Wahlsieg‹ der Hamas von 2006 frohlocken (vgl. Fn.13), wenn Israels prekäre Sicherheitslage ignoriert wird, und irre trotzkistische Sekten das Recht Irans, Atomwaffen zu bauen einfordern16 oder behauptet wird Vernichtungsdrohungen gegen Israel seien bloß »Übersetzungsfehler«17, dann kann man schon folgern, dass es einen linken Antizionismus, der einen sozialistischen Nahen Osten erkämpfen will, längst nicht mehr gibt und was heute als linker Antizionismus läuft, nichts anderes ist als eine barbarische Verfallserscheinung der Linken selbst, die sehr wohl antisemitisch ist (vgl. Kurz 2009). Wenn es antizionistische Positionen gab, die nicht antisemitisch waren, so spielen diese längst keine Rolle mehr (vgl. Ditfurth 2019, 104ff.). Sich auf diese Weise herauszureden, sich nicht wirklich mit heutigem Israelhass auseinanderzusetzen ist schon eine Leistung. Theoretisch bleibt mit Hanloser unklar, was die ›Anfälligkeit‹ für antisemitische Ideologeme befördert (hier wäre der Begriff »struktureller Antisemitismus« hilfreich, s.u.), warum Linke meinen ausgerechnet jene verharmlosen zu müssen, von denen sie an die Wand gestellt werden würden (was mit säkularisierten Linken in Gaza gemacht wurde)18. Hanloser beschwert sich über allzu prompte Antisemitismusvorwürfe, wenn er kritisiert, »es gebe einen ›strukturellen Antisemitismus‹, der bereits dort vorliege, wo komplexe gesellschaftliche Situationen mit Namen und Anschrift versehen werden. Allein das Benennen von Personifikationen im Kapitalismus, nicht etwa nur falsche Personifizierungen und Personalisierungen (wie der Börse, des Geldes, der Spekulation im ›Juden‹) seien antisemitisch. Linke Politik, die symbolhafte Zeichen verwendet, wird schon wegen ihrer Parolenhaftigkeit oder symbolhaften Reduktion als antisemitisch markiert. Kritik am Kapitalismus dürfe nicht zu konkret ausfallen. Dieses an Postone anknüpfende Fehlurteil führte auf den Stelltafeln zu kuriosen Behauptungen, wenn beispielsweise das reformistische Einklagen einer gerechten Bezahlung von bäuerlichen Produkten als dem Antisemitismus nahekommende Politik bezeichnet wird« (253). Wieder einmal wird klar, welchen Bärendienst die Antideutschen der radikalen Kapitalismuskritik geleistet haben, wenn mit ihrer allzu instrumentellen und denunziatorischen Verwendung wichtiger Begriffe, jene Probleme, die man eben mit genau diesen Begriffen zu erfassen versucht, nicht mehr recht ernst genommen werden. Ähnlich war es übrigens mit der Israel-Solidarität. Robert Kurz schrieb, dass die Antideutschen den Standpunkt ausgebreitet haben, dass Israel-Solidarität nur mit einer prowestlichen bzw. proimperialistischen Haltung einhergehen kann und dass man, um israelsolidarisch zu sein, zugleich antiarabischer Rassist sein müsse.19 Robert Kurz schreibt in dem Buch »Weltkapital«, dass die antideutsche Verwendung des Begriffs »struktureller Antisemitismus« dazu führt, dass der Krisenprozess selbst nicht mehr thematisiert werden kann bzw. soll. Hier geht es also nicht darum, verkürzte oder regressive Kapitalismuskritik zurückzuweisen, sondern Kapitalismuskritik überhaupt, so heißt es also: »In der Tat ist die ›antideutsche‹ Vorgehensweise dadurch gekennzeichnet, daß allein schon der sachliche Begriff des Finanzkapitals mit Tabu belegt und jede Analyse des Zusammenhangs von Realakkumulation und den Strukturen des fiktiven Kapitals völlig unabhängig von ihrem Inhalt als ›antisemitisch‹ denunziert wird. Der ausdrückliche Verzicht auf jede konkrete Analyse des Krisenprozesses der dritten industriellen Revolution, der Globalisierung und aller damit zusammenhängenden finanzkapitalistischen Erscheinungen wird zum Credo eines grundlosen Selbstbewußtseins, heroisch gegen eine Welt der ideologischen Verblendung zu stehen. Ideologie wird tautologisch aus Ideologie hergeleitet statt aus der Vermittlung zum konkreten historischen Prozeß des Fetischsystems. Der Antisemitismus soll gewissermaßen durch theoretische und analytische Ignoranz gebannt und die Kritik der politischen Ökonomie müßte demzufolge geradezu den Antisemitismus fördernd ›verboten‹ werden […]« (Kurz 2005b, 343f.). Hanloser führt allerdings nicht aus, inwieweit der Begriff ›struktureller Antisemitismus‹ jenseits antideutscher denunziatorischer Verwendungen nicht doch analytisch erhellend sein kann. Das zeigt auch seine dürftige Auseinandersetzung mit Postones Antisemitismustext (vgl. 118f.). Kurz hat im Zuge der Antisemitismusdebatte bei Attac vor einigen Jahren schon bemerkt, dass es jenen Traditionslinken gar nicht darum geht, Defizite und Unausgeführtes (also die sozialpsychologische Ebene und die spezifische deutsche Geschichte, vgl. Scholz 2005, 85ff., sowie Dornis 2006) in Postones Text auszubügeln, »sondern ihnen paßt die ganze Richtung nicht« (Kurz 2005b, 361). Robert Kurz analogisiert den Begriff »struktureller Antisemitismus« mit dem Begriff der »strukturellen Gewalt«. Struktureller Antisemitismus meint aber etwas anderes, als was mit sekundärem Antisemitismus u.a. beschrieben wird (Antisemitismus trotz Auschwitz usw.): »Beim strukturellen Antisemitismus geht es um etwas anderes, nämlich um ideologisch-diskursive Strukturen, die dem Antisemitismus zu Grunde liegen« (ebd., 347, Hervorh. i. O.). Und Kurz weiter: »Es gibt freilich eine Differenz zum Begriff der strukturellen Gewalt: Im Unterschied zu letzterem bezieht sich derjenige des strukturellen Antisemitismus nicht auf objektivierte Strukturen der gesellschaftlichen Reproduktion, an denen sogar deren Kritiker zwangsweise teilhaben, sondern auf Strukturen der subjektiven ideologischen Verarbeitung« (ebd.). Ideologische Verarbeitungs- und Interpretationsmuster sind im Kapitalismus oft solche, die den einen Pol kapitalistischer Vergesellschaftung gegen den anderen ausspielen: So z.B. den Markt gegen den Staat oder umgekehrt (ebd., 348f.). Der strukturelle Antisemitismus spielt nun die konkrete Seite der Wertabstraktion gegen die abstrakte aus, oder genauer: die vermeintlich konkrete Seite, die Arbeit und die ›konkreten‹ Gebrauchswerte, die selbst nur Erscheinungsweise der Wertabstraktion sind, damit also gar nicht wirklich ›konkret‹, sondern gemäß der Wertabstraktion entsprechend zugerichtet, werden gegen das Geld ausgespielt. Ein ›Unbehagen im Kapitalismus‹ äußert sich als Hass gegen das Abstrakte. Die Arbeit und die Gebrauchswerte werden damit naturalisiert und das Geld, vor allem in seiner zinstragenden Form, wird als das eigentliche Übel hingestellt. In seiner zinstragenden Form scheint das Geld »unmittelbar selbstbezüglich« (ebd., 365): Hier werde angeblich ›leistungslos‹ Reichtum erworben, der dem Arbeitendem durch ›finstere Mächte‹ vorenthalten wird. Schlussendlich sollen die Arbeit und die Gebrauchswerte vom Geld bzw. Zins ›befreit‹ werden. Das zinstragende Kapital »wird subjektiviert als Ausdruck einer ›Macht‹. Durchschlagkräftig für das Massenbewußtsein macht diese Ideologie, wenn in einem letzten Verarbeitungsschritt die ›Macht des Bösen‹ mit den Juden identifiziert wird. Eine solche Identifikation folgt keineswegs automatisch aus dem Verarbeitungsvorgang des ›Hasses auf das Abstrakte‹ und schon gar nicht aus dem Warenfetisch als solchem. Vielmehr handelt es sich, und das sagt auch Postone, um eine historische ›Fundsache‹ – nämlich die lange westliche Tradition des Judenhasses, in die schon seit Jahrhunderten die Identifikation der Juden mit dem Geldwucher und der Geschäftemacherei (aus wiederum spezifisch historischen Gründen der jüdischen Existenz in der christlichen Gesellschaft) eingegangen war« (ebd.). Daher nimmt es nicht Wunder, wenn alle modernen Antisemiten auch Zinskritiker waren. Natürlich ist dabei nicht nur an Gottfried Feder zu denken, sondern auch an so manchen utopischen Sozialisten des 19. Jahrhunderts. Diese argumentierten, die Warenproduktion, die Arbeit, könnten wunderbar sein, wenn nur der Zins bzw. die ihn ausheckenden Juden nicht wären.20 Eine Argumentation, die die Metamorphose des Kapitals (G-W-G’) und die tatsächliche Verwertungsdynamik nicht zur Kenntnis nimmt, sondern sich am Finanzkapital aufhängt und es als Ausdruck perfider Machenschaften hinter den Kulissen operierenden Cliquen ansieht; eine solche Argumentation ist strukturell antisemitisch. Juden müssen damit nicht explizit genannt werden, die Diskursstruktur ist aber eine solche, die sie anschlussfähig an den Antisemitismus bzw. kompatibel zu diesem macht, da der Antisemitismus von der Struktur her genauso ›argumentiert‹, also schlussendlich im Sinne eines Verschwörungswahns. Wenn traditionelle, (rest)marxistische Linke, wie Kurz in dem Buch »Weltkapital« aufführt, vom Finanzkapital reden, das »Massaker« anrichtet und über Eigentumstitel sich »leistungslos (!) […] gesellschaftlichen Reichtum« (ebd., 328) aneignet, dann ist das eine Kritik, die als »neo-kleinbürgerlich[]« (ebd., 337) einzustufen ist und weit hinter dem zurückfällt, was die marxistische Kritik zu dem Thema bereits erarbeitet hat (vom Kapital Bd. III bis Rudolf Hilferding). Es ist nur folgerichtig, wenn Gestalten wie Ernst Wolff (ein gern gesehener Gast bei Ken Jebsen und Redner bei der »Antizensurkoalition«21) den Finanzsektor mit einem Tumor, also mit einer Krebserkrankung, vergleicht, die die Realwirtschaft befallen hat (Wolff 2017, 152). Der Selbstzweck und Irrationalität der kapitalistischen Produktionsweise werden von Wolff in den Zins verlagert, »denn das globale Wirtschafts- und Finanzsystem ist auf Krediten aufgebaut und wegen der ständig anfallenden Zinszahlungen auf ununterbrochenes Wachstum angewiesen« (ebd., 26). Damit wird einmal mehr deutlich, dass eine »›Kritik der Finanzmärkte‹ […] ungefähr so sinnvoll [ist] wie eine Kritik des Imports, der bürgerlichen Betriebsabrechnung oder des Kapitalismus in Thüringen. Man kann den Kapitalismus nur ganz oder gar nicht kritisieren« (Kurz 2005, 359). In seiner Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus kritisiert Hanloser, dass jede konkrete Benennung von Verantwortlichkeiten bereits als antisemitisch denunziert wird, wobei er auch schreibt, dass es klarerweise auch falsche Zuschreibungen gibt. Diese Unmittelbarkeit des Antisemitismusvorwurfes der Antideutschen in dem Zusammenhang ist darauf zurückzuführen, dass sie jede Kapitalismuskritik unmöglich machen wollen, aber auch darauf, dass bei den Antideutschen durchaus die Position vorkommt, Wertform und Ideologie in eins zu setzen. Dass Ideologie eine kontingente Eigenleistung beinhaltet wird ausgeblendet (vgl. Kurz 2003, 258ff.). Kurz betont, dass man sehr wohl den Kapitalismus als Fetisch-System dahingehend verstehen kann, dass die gesellschaftlichen Strukturen, der kapitalistische Gesamtprozess (G-W-G’) ein automatisches Subjekt ergeben, das alle einzelnen Handelnden übersteigt und ihnen vorausgesetzt ist, als Zwang und Verhängnis gegen sie, und dennoch sind die Handelnden nicht determiniert in ihrem Handeln, d.h. man kann sie sehr wohl kritisieren und der Verantwortung überführen. Die kapitalistischen Subjekte sind eben keine Marionetten des automatischen Subjekts, was immer wieder gern unterstellt wurde, nicht zuletzt von einigen Wertkritikern selbst (vgl. Kurz 2013, 83ff.). »Wer aber handelt, das sind immer die Individuen selbst. Konkurrenz, künstlich erzeugter Überlebenskampf, Krisen usw. treiben die Potenz der Barbarei hervor, aber praktisch vollstreckt werden muß diese Barbarei von den handelnden Menschen, also auch durch ihr Bewußtsein hindurch. Und deshalb sind die Individuen auch subjektiv verantwortlich für ihr Tun, der häßliche Manager und der schmutzige Politiker ebenso wie andererseits der rassistische Arbeitslose und die antisemitische alleinerziehende Mutter« (Kurz 2006b, 233). Hanloser aktualisiert mit diesem Buch die intellektuelle und ideologische Verwahrlosung der Antideutschen. Jedoch wird klar, dass aufgrund seiner traditionsmarxistischen Schlacken seine Kritik an einigen Stellen unzureichend bleibt; der Androzentrismus der antideutschen Theorie und neuere antifeministische Ausbrüche werden von ihm noch nicht einmal erwähnt. Eine argumentative und theoretische Tiefe wie Robert Kurz sie mit »Die antideutsche Ideologie« ausgebreitet hat, erreicht Hanloser mit diesem Buch bei weitem nicht.
Literatur Bruhn, Joachim: Derivatenhändler der Kritik – Robert Kurz und das Deutschtum des Marxismus, 2002, https://www.ca-ira.net/verein/positionen-und-texte/bruhn-kritik-kurz/. Bruhn, Joachim: Die niedere Kunst der Demagogie – Ein letztes Standbild aus dem Leben des Theoretikers Robert Kurz, 2003, https://www.ca-ira.net/verein/positionen-und-texte/bruhn-kunst-demagogie/. Ditfurth, Jutta: Haltung und Widerstand – Eine epische Schlacht um Werte und Weltbilder, Hamburg 2019. Dornis, Martin: Von der Harmoniesucht zum Vernichtungswahn – Antisemitismus als basale Krisenideologie der Wertabspaltungsvergesellschaftung. Einige Überlegungen, in: exit – Krise und Kritik der Warengesellschaft, Nr.3, Bad Honnef 2006, 103–156. Feministische Intervention: Antifeministische Regression und einseitige Ideologiekritik – Von Mutterimagines und der selbstverschuldeten Unmündigkeit der Frau, in: phase 2 – Zeitschrift gegen die Realität Nr. 57, Leipzig 2020, 53–57. Grigat, Stephan: Die iranische Bedrohung – Über die Freunde der Mullah-Diktatur und den Existenzkampf des jüdischen Staates, in: Grigat, Stephan; Hartmann, Simone Dinah (Hg.): Der Iran – Analyse einer islamischen Diktatur und ihrer europäischen Förderer, Innsbruck 2008, 16–36. Hanloser, Gerhard: Die andere Querfront – Skizzen des antideutschen Betrugs, Münster 2019. Initiative Sozialistischen Forum: Der Theoretiker ist der Wert – Eine ideologiekritische Skizze der Wert- und Krisentheorie der Krisisgruppe, Freiburg 2006, zuerst 2000. Küntzel, Matthias: Djihad und Judenhass, 2. Aufl., Freiburg 2003 zuerst 2002. Kurz, Robert: Das Weltkapital – Globalisierung und innere Schranken des modernen warenproduzierenden Systems, Berlin 2005b Kurz, Robert: Der schwarze Frühling des Antiimperialismus – Eine unheilige Allianz von Irrläufern der Modernisierung, 2006, online: https://exit-online.org/textanz1.php?tabelle=autoren&index=31&posnr=238&backtext1=text1.php. Kurz, Robert: Die antideutsche Ideologie – Vom Antifaschismus zum Krisenimperialismus: Kritik des neuesten linksdeutschen Sektenwesens in seinen theoretischen Propheten, Münster 2003. Kurz, Robert: Die Kindermörder von Gaza – Eine Operation »Gegossenes Blei« für die empfindsamen Herzen, in: exit – Krise und Kritik der Warengesellschaft, Nr.6, Bad Honnef 2009, 185–242, auch online: https://exit-online.org/textanz1.php?tabelle=schwerpunkte&index=13&posnr=209&backtext1=text1.php. Kurz, Robert: Die Substanz des Kapitals I, in: exit – Krise und Kritik der Warengesellschaft, Nr.1, Bad Honnef 2004, 44–129. Kurz, Robert: Die Substanz des Kapitals II, in: exit – Krise und Kritik der Warengesellschaft, Nr.2, Bad Honnef 2005, 162–235. Kurz, Robert: Geschichtsverlust – Der Golfkrieg und der Verfall marxistischen Denkens, 1991, online: https://exit-online.org/textanz1.php?tabelle=autoren&index=31&posnr=72&backtext1=text1.php, zuerst in: Krisis – Zeitschrift für revolutionäre Theorie, Nr.11. Kurz, Robert: Krise und Kritik – Die innere Schranke des Kapital und die Schwundstufen des Marxismus Teil II, in: exit – Krise und Kritik der Warengesellschaft, Nr.11, Berlin 2013, 64–111. Kurz, Robert: Krisenimperialismus – 6 Thesen zum Charakter der neuen Weltordnungskriege, 2003c, online: https://exit-online.org/textanz1.php?tabelle=autoren&index=31&posnr=99&backtext1=text1.php. Kurz, Robert: Marx lesen! – Die wichtigsten Text von Karl Marx für das 21. Jahrhundert, Herausgegeben und kommentiert von Robert Kurz, 2. Aufl., Frankfurt 2006b. Kurz, Robert: Schwarzbuch Kapitalismus – Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft, Frankfurt 1999. Kurz, Robert: Weltordnungskrieg – Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung, Bad Honnef 2003b. Tarach, Tilman: Der ewige Sündenbock – Heiliger Krieg, die »Protokolle der Weisen von Zion« und die Verlogenheit der sogenannten Linken im Nahostkonflikt, Freiburg/Zürich 2010, 3. überarb. Aufl. Poliakov, Leon: Vom Antizionismus zum Antisemitismus, Freiburg 2006, zuerst 1992. Portmann, Werner: Proudhon und das Judentum, ein kompliziertes Verhältnis, in: Mümken, Jürgen; Wolf, Siegbert: »Antisemit, das geht nicht unter Menschen« – Anarchistische Positionen zu Antisemitismus, Zionismus und Israel, Bd.1, Lich 2013, 39–79. Scholz, Roswitha: Differenzen der Krise – Krise der Differenzen: Die neue Gesellschaftskritik im globalen Zeitalter und der Zusammenhang von ›Rasse‹, Klasse, Geschlecht und postmoderner Individualisierung, Bad Honnef 2005. Silberner, Edmund: Sozialisten zur Judenfrage, Berlin 1962. Wolff, Ernst: Finanz-Tsunamie – Wie das globale Finanzsystem uns alle bedroht, 2017 o.O.
|