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Herbert Böttcher: Rückkehr zur kapitalistischen Normalität?


Rückkehr zur kapitalistischen Normalität?

Herbert Böttcher

 

Diskussionen und Aktionismus um Corona nehmen immer schnellere Fahrt auf und mit ihnen Züge eines Irrationalismus an, der erschrecken lässt.

Wer bietet mehr?

Bei den Lockerungen zwecks Rückkehr zur kapitalistischen Normalität gibt es offensichtlich kein Halten mehr. Die Ministerpräsident_innen in den einzelnen Bundesländern überbieten sich mit Lockerungsübungen. Politiker geben wirtschaftlichem und psychologischem Druck nach und/oder bauen welchen auf. Mit der pauschalen Diskreditierung von Virolog_innen hat sich offensichtlich eine inhaltliche Auseinandersetzung mit virologischer Expertise erledigt. Aus der FDP war zu hören, dass nicht ausgelastete Krankenhäuser der Beweis dafür seien, dass ‚die Virologen‘ Horrorszenarien an die Wand gemalt hätten. Da braucht kein Gedanke mehr darauf verschwendet zu werden, dass die Horrorszenarien vermieden werden konnten, weil die Politik – auch unter dem Druck der Bilder aus Italien und Spanien – aus Erkenntnissen von Virolog_innen richtige Schlüsse gezogen hatte.

An die Stelle einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Erkenntnissen treten Bauchgefühl und ein vermeintlich ‚gesunder Menschenverstand‘. Das Publikum will Freiheit, ‚freie Fahrt für freie Bürger‘ in kapitalistischer Normalität. Dazu gehören Geschäfte, Shoppingmalls, Möbelhäuser usw. und nicht zuletzt die Angebote der Unterhaltungs- und Eventindustrie – einschließlich der von den Ministerpräsident_innen besonders umsorgten Fußballbundesliga. Über den Verkauf ihrer Spiele an das Bezahlfernsehen hat sie viele Fans ausgeschlossen und hebt jetzt ihre soziale Bedeutung für den Zusammenhalt der Gesellschaft hervor.

Das alles kann nicht mehr warten, weil die Wirtschaft wieder losgehen soll, aber auch weil viele es bei dem esoterisch so hochgelobten Selbst nicht aushalten und vor der eigenen Leere flüchten. Dafür sollen Lehrer_innen und Erzieher_innen wieder ihren Job machen, und ausgerechnet die FDP sorgt sich um soziale Benachteiligung bei der Bildung. Wenn pädagogische Berufsorganisationen vor gesundheitlichen Gefahren warnen und die Fürsorgepflicht der Arbeitgeber einklagen, laufen sie Gefahr, dass ihr Klientel als unflexibel, asozial und unsolidarisch diskreditiert wird. Das Chaos, das mit dem Hochfahren von Schulen und Kitas angerichtet wird, spielt keine Rolle. Nicht das Leben ist absolut, wie Bundestagspräsident Schäuble – assistiert von Sarrazin bis hin zu den Grünen – zu berichten wusste, wohl aber die Rückkehr zur kapitalistischen Normalität. Und das ‚Wort zum Sonntag‘ in Anne Wills Runde kam dazu dann wieder aus der FDP: Wer Angst hat, solle zu Hause bleiben, so Kubicki. Diesem liberalen Ratschlag sollten Wanderarbeiter_innen, Pflegekräfte, Kita- und Schulpersonal mal folgen – und dabei die zur Verwirklichung liberaler Ratschläge nötigen sozialen Sicherheiten bei der FDP einklagen.

Mit der Kritik am Lockerungswahn ist nicht in Abrede gestellt, dass Corona eine Zumutung ist für Alte und Kranke, vor allem für Sterbende, für das schlecht bezahlte und überforderte Pflegepersonal, für Kinder und Jugendliche samt deren Eltern, für das Personal in Kitas, Schulen und Supermärkten, die Wanderarbeiter_innen in Fleischindustrie und Landwirtschaft, die Inhaftierten und Abschiebehäftlinge, die Wohnungslosen und Asylsuchenden, die Geflüchteten in den Lagern. Sie, die in der Normalität des Krisenkapitalismus diejenigen sind, die unter Nicht-Beachtung und Ausgrenzung zu leiden haben, trifft es umso mehr in der Corona-Situation. Diese trifft also nicht alle gleich, sondern – wie im Normalzustand – zuerst Menschen ohne oder mit geringem Einkommen, Familien, die unter beengten Wohnverhältnissen leben, prekär Beschäftigte, Kleinselbständige.

Es fällt auf, dass sie nur begrenzt oder gar nicht im Blick der Debatten und Demonstrationen stehen. Im Vordergrund steht das ‚autonome‘ Otto-Normalsubjekt des kapitalistischen Normalzustandes. Zu seinem Anwalt machen sich vor allem die Liberalen aus CDU und FDP. Sie sorgen sich darum, dass dieses Subjekt die mit Corona verbundenen Zumutungen nicht mehr aushält. Es klagt ja auch seine Grundrechte und Freiheiten lautstark und zuweilen drastisch ein und macht dabei deutlich, wem sie im Kapitalismus gehören.

Orte, wo Lockerungen am dringendsten wären, rangieren aber in der politischen Agenda auf den Abstiegsplätzen. Es fehlt an Konzepten, Tests und Material wie Mundschutz und Kittel für sichere Besuche in Alten-, Pflegeheime und auf den Intensivstationen. Und bis jetzt haben wir noch keinen Gedanken verloren über die Widersprüche zwischen der Ignoranz gegenüber armen Ländern und dem Anstieg der deutschen Kriegswaffenexporte, zwischen dem Rückgang der Stickoxide und dem Drängen der Autoindustrie auf Kaufprämien und Konjunkturhilfen.

Haltlose Wut ohne Abstand

Das Wochenende zwischen dem 7. und 10. Mai zeigte ein wütendes Deutschland. Auf die Straße ging – so ‚Köln gegen rechts‘ – „eine Melange aus Liberalen, Esoterikern, Impfgegnern, Pandemieleugnern und rechten und rechtsextremen Akteuren“. Bei den Demonstrationen wurden Abstandsregeln nicht nur nicht eingehalten, sondern lächerlich gemacht und Passant_innen aufgefordert, den Mundschutz abzunehmen. Mit Sprüchen wie „Der Mundschutz ist ein Maulkorb“ und „Wir müssen Ordnungsdiskussionsorgien feiern, das die Fetzen fliegen“, holte sich Hans-Thomas Tillschneider, Mitglied des aufgelösten ‚rechten Flügels‘ der AfD, den Beifall auf einer von der AfD veranstalteten Anti-Corona-Kundgebung in Magdeburg ab. In der Wut gegen die mit Corona verbundenen Einschränkungen scheinen rechte und linke Positionen zusammen zu finden. Selbstbestimmung, Widerstand gegen staatliche Bevormundung und Forderungen nach Basisdemokratie scheinen gemeinsame Nenner zu sein.

Basis des Aktionismus ist eine ‚falsche Unmittelbarkeit‘, die sich auf die Unmittelbarkeit von Erfahrungen und Einzelphänomenen stützt, ohne sie einer kritischen Reflexion auf den gesellschaftlichen Zusammenhang zu unterziehen. Wo kritische Reflexion und kritische Theoriebildung aussetzt, setzen Verschwörungsfantasien ein. Das Virus wird für ungefährlich und die Pandemie für eine Inszenierung dunkler Mächte erklärt. Auch die Verschwörungserzählungen reklamieren die bürgerlichen Grund- und Freiheitsrechte für sich und wittern deren Bedrohung durch einen gezielten Angriff des Staates. Wie tief damit Stimmungen in weiten Teilen der Bevölkerung getroffen sind, zeigt Ken Jebsens Youtube-Video, „Gates kapert Deutschland“, das die gängigen Verschwörungsfantasien verbreitet, und nach wenigen Tagen mehr als drei Millionen mal angeklickt wurde.

Der Zerfall des männlichen ‚autonomen Subjekts‘

Das ‚autonome Subjekt‘ hält die Kränkungen durch die Corona-bedingten Einschränkungen nicht mehr aus und drängt in narzisstischem Größenwahn darauf auszubrechen, um zur Normalität der ‚autonomen‘ Unterwerfung unter den kapitalistischen Normalzustand zurückkehren zu können. Als Handlungsträger der ‚abstrakten Arbeit‘ stößt es ja schon im Normalzustand der Krise auf seine Grenzen, weil seine Freiheit und seine autonomen Entscheidungen an die Verausgabung der in der Krise wegbrechenden Arbeit gebunden sind. Die Versprechen auf ‚Selbstverwirklichung‘ können nicht eingelöst werden. Und wer im Konkurrenzkampf um die schwindenden Möglichkeiten nicht aufgeben will, muss sich in Wahrnehmung mündiger Eigenverantwortung anpassen und zu einem permanent konkurrierenden ‚unternehmerischen Selbst‘ werden – mit schwindenden Aussichten auf Erfolg und steigendem Stress.

Mit Corona verschärfen sich auch all die Probleme, die mit der Konstitution des Subjekts verbunden sind. Sein Zerfall wird drastisch vor Augen geführt. Es hält die Einschränkungen nicht aus und drängt zurück zur als ‚Freiheit‘ gefeierten Unterwerfung unter den kapitalistischen Normalzustand. Dessen Unterhaltungs- und Eventindustrie versprechen immerhin entlastende Vergnügungen. Auch zu diesem Zweck muss der stotternde Motor kapitalistischer Verwertung wieder angeworfen werden.

Zum Angriff freigegeben ist alles, was dem Drang nach Normalität entgegen steht. Dazu gehören Wissenschaft und Wissenschaftler_innen. In der sich auch bei Politikern ausagierenden Wissenschaftsfeindlichkeit zeigt sich besonders drastisch die zur Normalität des Kapitalismus gehörende Theorie- und Reflexionsfeindlichkeit.

Es zählt das, was in ‚falscher Unmittelbarkeit‘ den Ausbruch aus dem Corona-Gefängnis legitimiert. Das ‚autonome Subjekt‘, das nur im Rahmen der reflexionslos vorausgesetzten kapitalistischen Normalität denken und handeln kann, stellt lieber die Reflexion ein, als das Ende der kapitalistischen Verhältnisse und damit sein eigenes Ende zu begreifen. Das Begreifen der gesellschaftlichen Verhältnisse und damit des Zusammenhangs zwischen dem Corona-Gefängnis und dem Gefängnis der kapitalistischen Normalität scheint zu komplex, vor allem aber für den Drang nach Ausbruch nicht zielführend. Als Erleichterung bieten sich Verschwörunsideologien an – die dank Kardinal Müller & Freunden ja auch im Vatikan trotz Papst Franziskus hoffähig sind. Mit ihnen können die eigenen unmittelbaren Bedürfnisse und Interessen legitimiert werden – ob Freiheit für kirchliche Macht- und Prachtentfaltung, völkisch-nationalistischer Wahn („Angst heißt Verrat“) als Freiheit ‚des Volkes’ oder Freiheit zur Wahrnehmung der Angebote der Freizeit- und Unterhaltungsindustrie.

Wer Lockerungen hintertreibt, wird zum Feind der Freiheit, zum/zur theoretischen Bedenkenträger_in und wissenschaftlichen Verhinderer_in. Vor allem aber lassen sich negative Erfahrungen identifizierbaren Täter_innen zuschreiben. Wer gegen sie diffamierend, drohend oder auch handgreiflich vorgeht, braucht nicht ohnmächtig zu bleiben, sondern kann seine männliche Macht- und Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen. Was bleibt, ist männliche Selbstsetzung – klerikal wie profan. Darin werden Rollen und Bewertungen verschoben. Stark ist, wer lockert, schwach, wer zaudert. Mutig ist, wer sich den Gefahren stellt oder sie leugnet. Als ängstlich und zugleich unsolidarisch gelten diejenigen, die angesichts der diffusen Lockerungen um ihre Gesundheit besorgt sind.

Das ‚autonome Subjekt‘ läuft unter dem Zwang männlicher Selbstsetzung ins Leere und dreht durch – bis hin zu Amok und Selbstvernichtung. Hier zeigt sich die letzte Konsequenz dessen, was im männlichen ‚autonomen Subjekt‘ steckt. Unter dem Zwang sich selbst zu setzen, es aber angesichts der kapitalistischen Krisenverhältnisse nicht mehr zu können, treibt es in Vernichtung als letztem Akt verzweifelter Selbstsetzung. Der Verschwörungen fantasierende Gastro-Unternehmer Attila Hildmann bewegte sich ganz in der Nähe von Phänomenen, die von Amokläufen bekannt sind, als er sagte: „Geh ich im Kampf für unsere Freiheit drauf, dann nur mit der Waffe in der Hand und erhobenen Hauptes.“ Die Bereitschaft zum Tod wird zum Ausdruck der verblieben Möglichkeit, sich als männliches autonomes Subjekt selbst zu setzen und zu inszenieren und dabei noch „ein paar meiner Feinde mitzunehmen“.




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