Startseite
Aktuelles
zurück
Druckversion
Glossar
Deep Link

Gerd Bedszent: Vom Marsch in die Barbarei oder Der Osten als Buhmann


Dieser Text stammt aus der exit! 17 die im April 2020 erscheint

Vom Marsch in die Barbarei oder Der Osten als Buhmann

Gerd Bedszent

(Wenzel, 2001)

Runde Jubiläen sind willkommene Anlässe, vergessene oder erfolgreich aus dem kollektiven Bewusstsein verdrängte historische Ereignisse medial wieder aufzuwärmen. Sollte dies tatsächlich zum Zwecke einer kritischen Neubewertung erfolgen, ist gegen Medienhypes an sich nichts einzuwenden. Beim 30-jährigen Jubiläum der Öffnung einer Grenze zwischen zwei deutschen Staaten durch einen ostdeutschen Apparatschik ist mit einer kritischen Bilanz allerdings nicht zu rechnen. Im Gegenteil: Politikern und Medienmoguln bietet sich mal wieder die Chance, sämtliche derzeitige Scheußlichkeiten zu relativieren. Stacheldraht, Mauerschützen und Stasispitzel seien doch allemal schlimmer gewesen als sämtliche Weltordnungskriege, Bürgerkriegsmassaker und mordende Rechtsradikale unserer schönen neuen Gegenwart zusammen. Und aus dem Westen importierte Funktionäre einer rechtsradikalen Partei nutzen die mediale Aufmerksamkeit nun auch noch aus, sich dem dumm glotzenden Ost-Volk als »Vollender der Revolution von 1989« zu präsentieren.

Der eingangs zitierte Liedermacher Hans-Eckardt Wenzel ist einer der wenigen Ostdeutschen, die schon sehr früh die nationalistische Konsumorgie der Jahre 1989/90 gnadenlos verspotteten. Der 1990 unter seiner maßgeblichen Mitwirkung entstandene Kultfilm »Letztes aus der Da Da eR« war ein surrealistischer Abgesang auf den untergehenden Staat.

1. Was war die DDR?

Nein, eine nachträgliche Idealisierung des schon seit Jahrzehnten nicht mehr existierenden Staates DDR soll hier nicht betrieben werden. Dessen Niedergang und Verschwinden hatte systemische Ursachen und war keinesfalls das Resultat fieser Verschwörer oder westlicher Geheimagenten. Das Ergebnis dieses Zusammenbruchs ist allerdings eine bleibende Deindustrialisierung der meisten Regionen Ostdeutschlands, ein daraus resultierender Verfall von öffentlicher Infrastruktur sowie die weitgehende Demoralisierung der verbliebenen Bevölkerung inklusive ihrer Anfälligkeit gegenüber dumpfbackigen Parolen der radikalen Rechten. Der Vormarsch dieser Rechtsradikalen wird in den meisten deutschen Medien unserer Gegenwart ausschließlich als Erblast des verschwundenen Staates dargestellt.

Es ist sinnvoll, anlässlich des derzeitigen Medienspektakels und der Ergebnisse der jüngsten Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg einige schon ältere Texte von Robert Kurz hervorzukramen und noch einmal neu zu lesen. Kurz hatte Anfang der 1990er Jahre die deutsche Wiedervereinigung publizistisch begleitet. Eine erste Analyse des damals gerade anlaufenden Prozesses des Zusammenbruchs großer Teile der ostdeutschen Wirtschaft lieferte er bereits im Mai 1990 unter dem Titel Deutschland einig Irrtum in der Ausgabe 8/9 der damals noch von ihm maßgeblich geprägten Zeitschrift Krisis. Der Verleger Klaus Bittermann brachte dann 1991 und 1993 weitere Beiträge zum Thema in Buchform heraus.

Einige der in diesen Texten nur kurz angerissenen Ansätze und Erklärungen hat Kurz in seinen später erschienenen Hauptwerken zwar wesentlich ausführlicher behandelt. Und verschiedene in den Frühwerken geäußerte Vermutungen sind mittlerweile überholt oder aber längst Realität geworden. Auch liegen für das von Kurz reichlich zitierte Zahlenwerk inzwischen genauere und aktuellere Werte vor. Insgesamt gesehen vermitteln diese frühen Texte einen interessanten Einblick in die damaligen Geschehnisse samt ihrer wirtschaftlichen Hintergründe. Letztere werden von den meisten Kommentatoren komplett ausgeblendet.

Robert Kurz war gewiss kein Fan der DDR und auch keiner des osteuropäischen Sozialismusmodells insgesamt. In seinen Büchern polemisierte er heftig gegen Stechschritt-Sozialisten sowie gegen die im Inneren der DDR-Gesellschaft konservierten Reste eines stockreaktionären Frühkapitalismus. Sein Fazit lautet, der Sozialismus habe »die kapitalistische Form der Arbeit nicht überwunden, sondern auf dem Totalisierungsniveau der Kriegswirtschaft historisch eingefroren« (Kurz 1991, 31). Auch der in der DDR propagierte Arbeitsfetischismus verweise eher »in die Vergangenheit des deutschen Kapitals und nicht auf eine postkapitalistische Zukunft« (ebd., 23). Eine durchaus zutreffende Beschreibung.

Das Resultat der im 20. Jahrhundert unter sozialistischen Vorzeichen umgesetzten politischen Umstürze in verschiedenen Staaten Osteuropas, Asiens, Afrikas und Lateinamerikas war keine von Zwängen freie Gesellschaft. Eine solche wäre – so Kurz – unter den damaligen Bedingungen auch gar nicht realisierbar gewesen. Bei diesen Zuspätkommern kapitalistischer Entwicklung habe vielmehr eine nachholende Modernisierung stattgefunden, die Formierung einer repressiven frühkapitalistischen Staatsökonomie, die in den hochentwickelten Industriestaaten bereits der Vergangenheit angehörte. Ausgeschaltet war in der DDR und in ähnlich strukturierten Staaten die binnenökonomische Konkurrenz, an deren Stelle jeweils eine rigide Steuerung durch Planungsbehörden trat. Diese bürokratische Staatsplanung entstammte, wie Robert Kurz schrieb, nicht einer »nach-, sondern einer vorbürgerlichen Logik, deren relative historische Sinnstiftung […] längst jede Legitimation eingebüßt hatte« (Kurz 1990, 15). Eben dieser vor- und frühbürgerlichen Logik des 17. und 18. Jahrhunderts entstammte auch die Strategie, sich mittels eines rigiden Grenzregimes von den benachbarten stärkeren Ökonomien abzuschotten. Eine Strategie, die in unserer Gegenwart von marktradikalen Hardlinern und radikalen Rechten in trauter Gemeinschaft wieder ganz unverhohlen propagiert wird. Abschotten will man sich heute allerdings nicht von einer wirtschaftlich stärkeren Konkurrenz, sondern von der sozialen Konkursmasse der Verliererregionen.

Den anscheinend unüberwindbaren Systemwiderspruch zwischen Ost und West, zwischen Kapitalismus und Sozialismus charakterisierte Kurz als Konflikt zwischen den wirtschaftlich entwickelten kapitalistischen Mächten und diversen Newcomern, die damals per Gewaltakt den Anschluss an die Moderne zu gewinnen suchten. Wie er weiter meinte, sei »der deutsche Arbeiter- und Bauernstaat ungeachtet dieser militärischen Abschottung über den Weltmarkt mit den westlichen Ökonomien kompatibel« geblieben (ebd., 32).

Der 1989/90 gefeierte Sieg des Marktes über den Etatismus war allerdings kein, wie oft fälschlich dargestellt, Sieg des Fortschritts über rückständige Verhältnisse. Wie Kurz an anderer Stelle schreibt, bedingen die »abstrakte Knechtschaft der Staatsökonomie und die abstrakte Freiheit der Marktökonomie […] sich wechselseitig und wechseln sich ab in der historischen Akzentsetzung von Modernisierungsschüben« (Kurz 1993b, 13). Nur so ist es erklärbar, dass verschiedene repressive Staatsökonomien, die sich damals einer marktradikalen Öffnung widersetzt hatten (bekanntes Beispiel: China), später doch noch eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte (auf Zeit) hinlegen konnten. Andere Staaten, deren Regierungen sich damals neoliberalen Diktaten zu eilfertig gebeugt hatten, erlebten hingegen ein wirtschaftliches Desaster.

Die Mehrzahl der unter sozialistischem Vorzeichen agierenden Newcomer schaffte es jedenfalls unter den Bedingungen des Ende des 20. Jahrhunderts anstehenden Modernisierungsschubes nicht, die kriegswirtschaftlichen Strukturen ihrer Aufbauphase abzuschütteln. Auf den unvermeidlichen wirtschaftlichen Niedergang folgte dann ein Kollaps des politischen Systems, nicht selten gefolgt von einer Staatskrise bis hin zum Staatszerfall. Der Zusammenbruch der DDR und ihrer Volkswirtschaft vollzog sich demzufolge, so Kurz, »innerhalb einer vom Kapitalismus selber gesetzten Logik, die sie niemals verlassen hatte« (Kurz 1991, 8).

2. Revolutionäre Farce

Die sogenannte Revolution des Jahres 1989 in der DDR war für Robert Kurz eine Farce; für die Mehrzahl ihrer Akteure hatte er nur Spott übrig: »Die bürokratische Kaste oder Nomenklatura der DDR […] ist nicht verjagt worden, auch wenn die oppositionellen Mahnwachen, Hilflosigkeitsdemos und Bittgottesdienste inzwischen zur ›deutschen demokratischen Revolution‹ hochstilisiert worden sind. Sie ist schlicht abgetreten, und zwar auf die sozusagen dämlichste Art, weil sie nicht mehr weiter wusste […]« (Kurz 1991, 8). Den viel gerühmten und gefeierten Mauerfall charakterisierte er als ein Symptom des wirtschaftlichen Zusammenbruchs: »Der Eiserne Vorhang zerbarst unter dem Druck nicht mehr durchhaltbarer Defizite in den Handels- und Kapitalbilanzen der nachholenden Nationalökonomien« (Kurz 1993b, 121).

Tatsächlich vollzog sich damals der politische Umsturz in den meisten osteuropäischen Staaten bemerkenswert unblutig (Ausnahmen: Rumänien und etwas später Jugoslawien). In der DDR entfernte die herrschende Staatspartei versteinerte Hardliner aus führenden Positionen, gewährte Oppositionellen eine Regierungsbeteiligung auf Zeit und kündigte freie Wahlen sowie die Ausarbeitung einer neuen Verfassung an. Diese trat allerdings nie in Kraft.

Doch was war damals mit dem massenhaften Jubel, dem nationalen Taumel auf den Straßen? »Im Unterschied zu den desillusionierten Massen des Südens glaubten diejenigen des Ostens […] noch an die westliche Verheißung, weil sie […] in einem vermeintlichen Gegensystem buchstäblich eingesperrt waren und die andere Welt offenbar wirklich naiv nach den Bildern des Werbefernsehens beurteilten« (Kurz 1993b, 9). Als Folge des krisenbedingten Zusammenbruchs der ostdeutschen Wirtschaft erwiesen sich die Deutschen, so Kurz an anderer Stelle, als »schwachsinnig genug, sich national wiederzuvereinigen« (Kurz 1991, 164).

Die Mehrheit der Westdeutschen erhoffte sich damals durch die Verschmelzung beider Staaten einen maßgeblichen wirtschaftlichen Anschub, die Mehrheit der Ostdeutschen eine Rettung ihrer zerbrechenden Wirtschaft. Beide Vorstellungen schlossen einander aus. Beide konnten sich nicht erfüllen.

Die Vorstellung von der Entstehung »blühender Landschaften« (Helmut Kohl) im angeschlossenen Osten wurde damals im Westen beileibe nicht nur von den bürgerlichen Parteien und der Mainstreampresse vertreten. Auch die meisten westlichen Linken waren der Meinung, das Ostdeutschland erfolgreich durchkapitalisiert werden könne. Die Ablehnung dieses Prozesse durch Teile dieser Linken speiste sich aus der Befürchtung, die größer gewordene ökonomische Macht könne die Deutschen erneut in kriegerischen Abenteuer und einem Griff nach der Weltherrschaft treiben.

Eine Vorstellung, die Kurz schon damals als absurd charakterisierte. Mit seiner Prognose eines ökonomischen Desasters im angeschlossenen Ostdeutschland mitsamt gravierender Auswirkungen auch auf die westdeutsche Wirtschaft stand er damals allerdings fast allein: »Deutschland ist nichts als ein trauriger Irrtum. Traurig, wie die Hoffnungen und Wünsche so vieler Millionen desorientierter Menschen des Ostens grausam enttäuscht und die schon aufscheinenden Barbarisierungspotentiale weiter entfaltet werden müssen. Nach vierzig Jahren eines grauen Kasernen-Sozialismus werden diese Massen […] als doppelte und dreifache Verlierer entlassen« (Kurz 1990, 36).

Diese enttäuschte Hoffnung ist übrigens eine der Hauptursachen für die zwischenzeitlich wiederkehrenden Anfälle von Nostalgie, den eher positiven Rückblick von Teilen der ostdeutschen Bevölkerung auf das von ihnen seinerzeit als repressiv empfundene politische System.

Kurz meinte dazu weiter: »So hässlich und diktatorisch aber die Regimes der 2. und 3. Welt sich […] auch zeigen mochten, gegen den westlichen Öffnungsdruck behielten sie doch so etwas wie die Würde der Selbstbehauptung, und keineswegs bloß im Interesse der autoritären und versteinerten Eliten. Denn es war absehbar, dass sie auf dem Schlachtfeld der offenen Globalkonkurrenz ökonomisch niedergemetzelt werden mussten, egal mit welcher Legitimationsideologie sie angetreten waren« (Kurz 1993b, 121). Eine Folge jenes Niedermetzeln ist nun eben genau das heute im Osten zu bewundernde »kriminelle Müllhalden-Mezzogiorno, in dem die entsozialisierte und entzivilisierte Postmoderne ihre mörderische Fratze zeigt« (Kurz 1993a, 98).

Hier nun noch einige Ergänzungen für Leser/-innen, die diese Ereignisse damals nicht persönlich miterlebt hatten: Die meisten Anhänger der in den 1980er Jahren in der DDR aktiven Gruppen oppositioneller Intellektueller – zahlenmäßig eine winzige Minderheit – beabsichtigten weder das Verschwinden der DDR noch eine grundsätzliche Abkehr von der Staatsökonomie. Ihre Kritik richtete sich hauptsächlich gegen ökologische Nebenwirkungen der die DDR-Wirtschaft dominierenden industriellen Massenproduktion, die zunehmende Militarisierung des öffentlichen Lebens und die rigide Nachrichtenzensur in den DDR-Medien. Als kleinster gemeinsamer Nenner dieser Gruppen galt die Einführung einer »sozialistischen Demokratie« bei Abschaffung der »führenden Rolle der Partei der Arbeiterklasse«.

Bernd Gehrke, einer der wenigen vergleichsweise hellsichtigen Akteure innerhalb der ostdeutschen Oppositionsgruppen, zog einige Jahre später eine bitterböse Bilanz des Vereinigungsprozesses: »Dass der schnellen Blüte westlicher Warenangebote die Katastrophe der ostdeutschen Wirtschaft mit verheerenden Kosten für Westdeutschland folgen musste, war von Bürgerbewegungen, der westdeutschen Linken und den Wirtschaftsfachleuten der Regierenden in seltener Einmütigkeit vorhergesagt und von der herrschenden konservativen Politik als linke Angstmacherei verdammt worden. […] Die blühenden Landschaften sind in ganz anderer Art entstanden, als sie versprochen wurden: Die Natur hat sich erholt, weil die überalterten industriellen Lebensgrundlagen zerstört wurden. Doch mit den Arbeitsplätzen sind die Menschen verschwunden« (Gehrke 1999, 432f.).

Der von Gehrke und einigen Mitstreitern damals unternommene Versuch, in Ostdeutschland eine unabhängige Gewerkschaftsbewegung aufzubauen mit dem Ziel einer sozialen Abfederung des sich anbahnenden Wirtschaftscrashs, musste letztlich scheitern. Widerständige Aktionen gegen die sozialen Grausamkeiten der neuen Zeit blieben lokal begrenzt. Legendär ist bis heute die Auflehnung von Beschäftigten des Kalibergbaus in Bischofferode im Norden Thüringens, die mittels Hungerstreik und Betriebsbesetzung die Schließung ihrer Grube zu verhindern suchten.

Die Mehrzahl der DDR-Oppositionellen schloss sich übrigens damals ganz schnell der grünen Partei an Einige beteiligten sich an der Gründung des ostdeutschen Ablegers der bundesdeutschen SPD, andere landeten über Umwege in der CDU, wieder andere suchten den Schulterschluss mit der damals schon im Niedergang begriffenen linksradikalen Bewegung in Westeuropa und gingen schließlich zur Linkspartei. Und einige kamen mit dem bundesdeutschen Politikbetrieb überhaupt nicht klar, ergingen sich in wirren Verschwörungstheorien und endeten im Umfeld der radikalen Rechten. Das Fazit von Robert Kurz, dass »keine eigenständigen neuen Ideenträger aus diesen Pseudo-›Revolutionen‹ hervorgegangen [sind], sondern bloß eine geklonte politische Klasse nach dem Muster der westlichen« (Kurz 1990, 20), hat sich jedenfalls bewahrheitet.

Bei der sogenannten Bananenwahl am 18. März 1990 wurde jedenfalls die DDR-CDU stärkste Kraft und stellte gemeinsam mit einigen anderen Parteien die allerletzte DDR-Regierung. Dieses Kabinett war allerdings schon ein reiner Befehlsempfänger der bundesdeutschen Kohl-Regierung und unternahm keine ernsthaften Versuche, Teile der angeschlagenen DDR-Volkswirtschaft irgendwie zu retten.

Der versprochene und von vielen Leuten auch erwartete Aufschwung nach dem Crash der ersten ostdeutschen Großunternehmen blieb selbstverständlich aus. Transferzahlungen aus den finanzkräftigeren alten Bundesländern landeten häufig in zum Teil völlig unsinnigen Großprojekten. Währenddessen mussten Dörfer und Gemeinden infolge knapper werdender Mittel Schwimmbäder, Sporteinrichtungen, Kulturhäuser und Jugendklubs schließen. Der in der DDR entstandene Kulturbetrieb wurde durch Streichung von Subventionen drastisch heruntergefahren, die Theaterlandschaft ausgedünnt; es entstanden kaum noch Filme und Hörspiele. Ein Großteil der Buchverlage krachte zusammen oder wurde von der westdeutschen Konkurrenz geschluckt. Hochschulen und Universitäten wurden geschlossen oder zwangsfusioniert, ein Großteil der intellektuellen Elite gegen ›politisch zuverlässiges‹ West-Personal ausgetauscht.

Ein geradezu genialer Schachzug der CDU-dominierten letzten DDR-Regierung war damals, einen Großteil der Aktenbestände des inzwischen aufgelösten Ministeriums für Staatssicherheit zu öffnen. Unter den Bedingungen des plötzlich ausgebrochenen Konkurrenzkampfes um die verbliebenen Arbeitsplätze hatte dies haarsträubende Auswirkungen. Massenhaft beschuldigten sich die Menschen gegenseitig, insgeheim für den verblichenen Geheimdienst gearbeitet zu haben. Die Presse veröffentlichte in den letzten Monaten der DDR seitenweise Kleinanzeigen, in denen Leute beteuerten, Opfer einer Namensgleichheit zu sein und nie für die Staatssicherheit gearbeitet zu haben. Sogar der übergroßen Mehrheit der ostdeutschen Intellektuellen fiel ungeachtet des vor ihren Augen stattfindenden wirtschaftlichen Desasters und Kulturkahlschlages über Jahre hinweg nichts Besserer ein, als sich auf Grundlage vergilbter Aktenschnipsel darüber zu streiten, wer vor 1990 mit welchem Führungsoffizier gekungelt hatte oder gar mit ihm ins Bett gestiegen war.

3. Krimineller Raubzug

Die Wirtschafts- und Währungsunion vom Juni 1990 sowie die angesichts der ersten desaströsen Folgen schnell umgesetzte staatliche Vereinigung wurden von einer Vielzahl ganz offen krimineller Aktivitäten flankiert. Heute werden diese meist schamhaft verschwiegen. Eine konsequente juristische Verfolgung der sogenannten Vereinigungskriminalität hat es ja nie gegeben.

Robert Kurz beschrieb die Situation damals sehr treffend: »Im sozialökonomisches Trümmerfeld eines historischen Niemandslandes, in dem die kriegswirtschaftlichen Strukturen des geplanten Marktes zusammengebrochen sind, neue konkurrenzökonomische Strukturen eines ›freien‹ Marktes aber nicht entstehen können, kriechen zwielichtige Gestalten aus den Kellerlöchern verwilderter Institutionen. Ist das ein Wunder? Die monetär künstlich beatmete marktwirtschaftliche Scheinnormalität fordert kriminelle Energie ja geradezu heraus« (Kurz 1993a, 119f.). »Simple Rosstäuscherei, Bestechung, Geheimnisverrat, Untreue, Betrug und betrügerischer Bankrott, Insidergeschäfte, Unlauterkeit: alles ist vertreten. Schon im Herbst 1991, ein gutes Jahr nach der Vereinigung, zeichnet sich das unappetitliche Bild einer weitverzweigten Treuhandkriminalität ab. […] Von den Nadelstreifen-Kriminellen bis zu den mittleren und kleinen Gelegenheitsganoven wittert die Szene der kommerziellen Piranhas außerhalb des kapitalproduktiven Weltmarkt-Managements ihre Chance« (ebd., 121).

Dazu wieder eine Erklärung: Die Treuhandanstalt wurde Anfang 1990 von der vorletzten DDR-Regierung zum Zwecke der Verwaltung des DDR-Staatseigentums geschaffen. Nach ihrer Umwandlung in eine reine Privatisierungsbehörde entwickelte sie sich zum bevorzugten Hassobjekt aller Ostdeutschen. Die Wirtschaft des Ostens war allerdings nicht nur das Opfer interessengeleiteter Treuhand-Manager sowie aus dem Westen importierter Industriekapitäne und anderer Berufskrimineller. Wie Robert Kurz schrieb, lief der wirtschaftliche Zusammenbruch Osteuropas und auch der DDR längst und wäre unter marktwirtschaftlichen Bedingungen auch keinesfalls zu stoppen gewesen. Die kriminell agierende oder auch schlicht unfähige Treuhand-Bürokratie sowie die mit ihnen kooperierenden Berufskriminellen haben dieses Desaster weidlich ausgenutzt und es zugleich wesentlich verstärkt.

Die von Kurz bereits 1991 geäußerte Befürchtung, dass »Ostdeutschland und damit die BRD insgesamt auf eine Wirtschafts- und Finanzierungskatastrophe zutreibt« (Kurz 1991, 97), hat sich jedenfalls bestätigt. Gemäß aktuellen Studien werden gegenwärtig 19 Regionen im wiedervereinigten Deutschland als »problematisch« eingestuft; davon liegen elf im Osten. Bei den in den Studien genannten acht westdeutschen Regionen handelt es sich übrigens im Teile des Ruhrgebietes, der Pfalz und Schleswig-Holsteins, außerdem um das komplette Saarland und um die Stadt Bremerhaven.

4. Kampf um Normalität und desaströse Bilanz

Gehen wir noch einmal zurück in die Vergangenheit: Große Teile Ostdeutschlands wurden im Zuge der Privatisierungswelle Anfang der 1990er Jahren weitgehend deindustrialisiert. Häufig lief das so ab, dass ein (zumeist) westdeutscher Käufer, der das zuvor entschuldete Unternehmen für ein Spottgeld erstanden hatte, alle Konten der Firma leerräumte, Lieferantenlisten, Kundendateien und Patente abgriff, wertvolle Immobilien schnellstmöglich veräußerte und dann das Unternehmen ganz einfach schloss. Von den Mitarbeitern pickte er sich manchmal einige wenige für die eigene Firma nützliche Leute heraus und überließ die große Mehrheit dann den Sozialbehörden. Die Arbeitslosigkeit stieg in den östlichen Bundesländern schon ab 1990 in einem beängstigenden Tempo; sie traf allein innerhalb der ersten drei Jahre nach der Wiedervereinigung etwa drei Millionen Menschen, hauptsächlich Industriearbeiter und Angestellte.

Die seit den 1960er Jahren durchweg großflächig strukturierten ostdeutschen Agrarbetriebe konnten sich zumeist behaupten, allerdings nur auf der Grundlage einer rigiden Durchrationalisierung und des damit verbundenen Arbeitskräfteabbaus. An die Stelle der in der DDR unter zum Teil heftigem politischen Druck gebildeten ›Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften‹ (LPGs) traten mehrheitlich Tochterfirmen westlicher Agrarkonzerne oder neureiche einheimische Agrarbarone – letztere rekrutierten sich nicht selten aus Leitungskadern der vormaligen LPGs. Während der 1990er Jahre sank die Zahl der in der ostdeutschen Landwirtschaft Beschäftigten auf etwa ein Zehntel, also von etwa einer Million auf knapp 100.000. Und der Transformationsprozess der Landwirtschaft war damit keineswegs abgeschlossen; es liegt für die Folgejahre lediglich kein belastbares Zahlenmaterial vor.

Nicht mehr vorhandene Unternehmen und erwerbslose Arbeitskräfte zahlen bekanntlich keine Steuern. Dem industriellen Kahlschlag und der Rationalisierungswelle in der Agrarproduktion folgte daher ein radikaler Rückbau der öffentlichen Infrastruktur. Daraus wiederum resultierte die Schließung weiterer Unternehmen oder aber ihre Verlagerung in wirtschaftlich noch funktionierende Regionen. Kein Unternehmer mit einigermaßen klarem Verstand investiert schließlich in Gegenden, in denen es keine funktionierende Bahn- oder Autobahnanbindung gibt, in der Verwaltungseinrichtungen, Postämter, Polizeidienststellen sowie die örtliche Feuerwehr chronisch unterbesetzt sind.

Arbeitssuchende verlassen im Regelfall ebenfalls solche Landstriche. Die Abwanderung aus Ostdeutschland in die westlichen Bundesländer hielt nach dem Mauerfall noch viele Jahre an, scheint erst jetzt langsam zum Stillstand zu kommen. Die Bevölkerung der deindustriealisierten Regionen in Ostdeutschland gilt mittlerweile als völlig überaltert. Verschiedene Großstädte wurden zu Kleinstädten, zahlreiche Dörfer und Kleinstädte sind auf dem besten Wege, von der Landkarte zu verschwinden.

Es gab, wie bereits geschildert, in den 1990er Jahren vereinzelte Fälle von Widerstand gegen diese Entwicklung. Der DDR-sozialisierte Autor dieser Zeilen war damals auch in Proteste gegen wirtschaftlichen Kahlschlag sowie gegen rabiat durchgezogene Massenentlassungen involviert. Versuche, solche einzelnen Aktionen mittels parteiübergreifender Strukturen in eine breite Bewegung zu überführen, scheiterten aber regelmäßig. Die großen Medien charakterisierten solche Widerstandsaktionen mit ermüdender Regelmäßigkeit als initiiert von verbliebenen SED-Strukturen (die es allerdings kaum gab und deren Verankerung in der Bevölkerung gegen Null tendierte). Mancherlei westdeutsche Linksradikale veranlassten solche Berichterstattungen damals zu dem völlig idiotischen Trugschluss, Ostdeutschland befände sich an der Schwelle zu einer proletarischen Revolution.

Robert Kurz charakterisierte diesen verzweifelten Aktionismus hingegen als »aussichtslosen Kampf um kapitalistische Normalität, dessen kurze Geschichte von großen Demonstrationen gegen die Treuhand, von Betriebsbesetzungen, Autokonvois, Sitz- und sogar Hungerstreiks gekennzeichnet ist. […] Das ist eigentlich schon kein Verteilungskampf mehr, sondern eher ein Todeskampf einer marktwirtschaftlich ausgemusterten Industriebevölkerung« (Kurz 1993a, 174). Eine aus heutiger Sicht sehr treffende Formulierung; noch gelungener geht’s nicht.

5. Rechte Welle in Ost und West

Dass die medial dominierende Schilderung der im Osten überproportional zunehmenden rechtsradikalen Gewalt deren wirtschaftliche Hintergründe komplett ausblendet, kann nicht verwundern. Allerdings spielt beim Vormarsch faschistoider Banden die im Vergleich zur alten Bundesrepublik größere Staatsgläubigkeit von Teilen der ostdeutschen Bevölkerung durchaus eine Rolle. Wurde doch in der DDR das angebliche ›Primat der Politik gegenüber der Ökonomie‹ den Leuten schon in der Schule eingehämmert. Woraus dann folgte, dass die Mehrheit der Bevölkerung das herrschende Politbüro als eine Art Weihnachtsmann betrachtete, dem man nur genügend Wunschzettel schreiben müsste – dann würde man irgendwann schon zu einer Gehaltserhöhung, einem ausreichenden Warenangebot in der Kaufhalle oder gar zu einem Trabbi kommen.

Als dann Ende der 1980er Jahre klar wurde, dass das mit dem Wunschzettel nicht mehr so richtig klappte, wandelte sich diese Erwartungshaltung bei vielen Leuten hin zu einer wilden Wut: ›Wir sind alle betrogen worden!‹ brüllten damals nicht wenige Montagsdemonstranten in Leipzig und anderen Städten. Die von den westlichen Medien hochgejubelten Bürgerrechtler waren mit der Situation völlig überfordert und versuchten damals mehr oder weniger erfolgreich, rechtsradikale und eher linksgerichtete Demonstranten voneinander zu trennen.

Bundeskanzler Helmut Kohl konnte dann in seiner Rede im Dezember 1989 in Dresden unter dem Jubel einer Horde eigens aus sächsischen Dörfern und Kleinstädten herangekarrter CDU-Fans die baldige Wiedervereinigung beider deutscher Staaten ankündigen: »Helmut, nimm uns an der Hand, zeig uns den Weg ins Wirtschaftswunderland!« – Robert Kurz hat diese schwachsinnige Parole durchaus richtig zitiert (Kurz 1991, 38). Der Autor dieser Zeilen war damals in Dresden persönlich zugegen. Gejubelt habe ich aber nicht – eher im Gegenteil. Es gab nämlich auch eine von den meisten Medien ausgeblendete Gegendemo.

Die rechte Welle in Ost und West hatte allerdings nicht erst mit dem nationalen Rausch der angekündigten Wiedervereinigung begonnen, sondern schon Jahre zuvor, mit dem weltweiten Auslaufen der keynesianischen Nachkriegskonjunktur. Ökonomische Krisen bringen stets das Gespenst des Rechtsradikalismus hervor. Die rechtsradikalen Republikaner (Reps) – etwa vergleichbar mit der heutigen AfD – hatten sich Mitte der 1980er Jahren zu einer ernsthaften Bedrohung der bürgerlichen Parteienlandschaft der alten Bundesrepublik entwickelt. Rechtsradikale Gruppen gingen im Windschatten der sich immer noch bürgerlich gebenden Reps mit brutaler Gewalt gegen Minderheiten vor. Robert Kurz erwähnt »westdeutsche Rechtsradikale, die schon kurz nach der Maueröffnung geparkte Trabbis anzündeten und z. B. Weihnachten 1989 in Stuttgart-Feuerbach ein Übergangsheim für DDR-Übersiedler in Brand steckten« (Kurz 1991, 171). Die erwähnte Brandstiftung war übrigens keineswegs die einzige in der damaligen Zeit. So wie heute die Zuwanderung von Kriegs- und Armutsflüchtlingen aus dem Süden wurde damals der Zustrom von Menschen aus dem zusammenbrechenden Osten als Bedrohung des angefressenen Wohlstandsspecks wahrgenommen.

Für den Osten selbst konstatierte Robert Kurz eine schon »seit Beginn der 80er Jahre […] sich verstärkende nationalistische und altrechte Tendenz« vor allem unter ostdeutschen Jugendlichen (Kurz 1991, 168). Diese Tendenz gab es, auch einen Unmut in der Bevölkerung, der sich in zunehmender Feindseligkeit gegenüber Vertragsarbeitern aus Polen, Mosambik und Vietnam manifestierte: Es kursierten Ansichten, diese würden gar nicht arbeiten, aber alle ohnehin knappen Waren wegkaufen. Was natürlich Unsinn war: Auf die etwa 17 Millionen DDR-Bürger entfielen damals etwa 200.000 angeworbene Vertragsarbeiter und ausländische Studenten. Was diese zahlenmäßig zu vernachlässigende Bevölkerungsgruppe konsumierte oder ins jeweilige Heimatland schickte, war volkswirtschaftlich gesehen minimal. Der zunehmende Unmut angesichts der unbegriffenen Krise bedurfte eines Sündenbockes. Und der in der DDR zurückgedrängte, aber latent vorhandene Rassismus sorgte dafür, dass es die nicht-deutschen Teile der Bevölkerung traf.

In der vorherrschenden Ideologie dominierte eine eingeschränkte Vorstellung von Faschismus (Dimitroff-These: »offene terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals«). Es hatte im Osten Deutschlands, vor allem in der Nachkriegsphase, zahlreiche Verurteilungen und Enteignungen von belasteten Nazis und Kriegsverbrechern gegeben. Andere, die als minder belastet galten, hatte man aber in die Nachkriegswirtschaft einbezogen. Auch in der DDR gab es dann ehemalige NSDAP-Mitglieder in leitenden Positionen von Politik und Wirtschaft, wobei allerdings das »Ausmaß personeller Kontinuität […] nicht mit der im Westen gleichzusetzen« war (Farin; Seidel-Pielen 1992, 71).

In der Vorstellungswelt zahlreicher SED-Funktionäre galt der Faschismus als in der DDR ›mit Stumpf und Stiel ausgerottet‹. In den letzten DDR-Jahren waren dieselben Funktionäre allerdings gezwungen, sich der exzessiv zunehmenden rechten Jugendgewalt zu stellen. Rechtsradikal motivierte Strafraten fielen in das Ressort des Ministeriums für Staatssicherheit; gegen randalierende Fußballfans setzte man Einheiten der Bereitschaftspolizei ein. Mit dem politischen Umbruch verschwanden dann die Geheimdienststrukturen und auch die Bürgerkriegseinheiten der Polizei wurden sehr schnell aufgelöst. So entstand – vorübergehend – eine Situation, in der rechtsradikale Schlägerbanden gänzlich freien Raum hatten.

6. Eskalation rechten Straßenterrors

In den Niederungen und Nischen der DDR-Gesellschaft hatten ohne Zweifel Reste der Naziideologie überwintert, die sich im Zuge der politischen Umwälzungen wieder offen ans Tageslicht wagten. Hinzu kam, dass sich die in den 1980er Jahren formierenden Jugendbanden militanter Nazis durch die halbdurchlässige Grenze reichlich mit Propagandamaterial aufrüsten konnten. In der alten Bundesrepublik aktive rechtsradikale Parteien wie die NPD oder die Republikaner schickten spätestens ab Ende 1989 gezielt Propagandisten in den Osten, wo die Leute gierig nach jedem Flugblatt griffen, wo die Polizei faktisch inaktiv war und wo antifaschistische Selbsthilfegruppen entweder nicht vorhanden oder erst im Entstehen begriffen waren. Die sogenannten Montagsdemos im Winter 1989/90 in verschiedenen ostdeutschen Städten waren sehr bald von Rechtsradikalen dominiert (Farin; Seidel-Pielen 1992, 75ff.).

In Leipzig gründeten sich damals die ersten Strukturen der Republikaner und der Mitteldeutschen Nationaldemokraten (einer Schwesterpartei der bundesdeutschen NPD). Im Jahre 1990 konnte eine Partei mit dem schönen Namen Deutsch Soziale Union (DSU) in der allerletzten (CDU-dominierten) DDR-Regierung zwei Ministerposten ergattern, darunter den des Innenministers. Besagte DSU entstand übrigens im Januar 1990 unter tätiger Mithilfe der bayrischen CSU durch Fusion mehrerer stockkonservativ bis rechtsradikal orientierter Splittergruppen und hatte ihre Basis hauptsächlich in den Kleinstädten Sachsens und Thüringens. Die DSU verschwand dann zwar schnell wieder in der politischen Bedeutungslosigkeit, nachdem die CSU ihr die weitere Unterstützung verweigert hatte und beide Minister in die CDU übergetreten waren. Der Siegeszug rechter Parteien im zunehmend deindustrialisierten Osten hielt jedoch an.

Im September 1991 gab es dann den ersten Pogrom: Die Behörden der Stadt sächsischen Kleinstadt Hoyerswerda evakuierten nach dem Toben eines rechten Mobs ein Flüchtlingswohnheim und eine Unterkunft für ausländische Vertragsarbeiter. Die Polizei blieb inaktiv, griff erst Tage später anlässlich einer linken Protestdemo ein. Die radikale Rechte bejubelte die erste ›national befreite Stadt‹ und eine Welle rechten Straßenterrors eskalierte bundesweit. Den Osten traf es allerdings am Schlimmsten: Im Bundesland Sachsen-Anhalt des Jahres 1991 war die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer rassistisch motivierten Gewalttat zu werden, etwa 20mal größer als zeitgleich in Nordrhein-Westfalen (ebd., 43). Im August. 1992 tobte sich der nächste Mob im Rostocker Vorort Lichtenhagen aus – über hundert ehemalige DDR-Vertragsarbeiter aus Vietnam samt einem Fernsehteam des ZDF konnten sich nur knapp aus einem brennenden Wohnheim retten. Bezeichnenderweise fand das Ganze in Sichtweite einer angeblich überforderten Polizeieinheit statt. Die nächsten Mordanschläge waren dann im Westen – im Mai 1992 in Mannheim-Schönau, im November 1992 im Mölln und im Mai 1993 in Solingen. Und da gab es wirklich Tote, darunter auch Kinder.

7. Ideologie der Dauerausgemusterten

Wenig beachtet werden bis heute Überschneidungen zwischen rechtsradikalen Schlägerbanden und der armutskriminellen Szene. Eine Gruppe mit dem Namen Neue Deutsche Ordnung (NDO), die sich 1991 in Hoyerswerda als tragende Kraft des Pogroms eine traurige Berühmtheit verschaffte, war zuvor gegen türkische Imbissstände vorgegangen (Farin; Seidel-Pielen 1992, 56ff.). Ihre Methoden kann man als Kombination von rassistisch motivierter Gewalt und Schutzgelderpressung bezeichnen. Andere rechtsradikale Schlägertrupps, die etwa zeitgleich im brandenburgischen Eberswalde-Finow junge Frauen als angebliche »Negerhuren« bedrohten und misshandelten, pflegten diese oft auch noch zu berauben (ebd., 60ff.).

Auf den nationalen Rausch der Jahre 1989 und 1990 war schnell die Ernüchterung gefolgt. Mit dem Verlust des Arbeitsplatzes und dem Scheitern diverser Existenzgründungen kam bei vielen Leuten die Frustration, mit steigenden Lebenshaltungskosten auch noch Existenzunsicherheit. Die schillernden Bilder des Werbefernsehens hatten sich für viele gewesene DDR-Bürger als unerreichbare Schimären erwiesen. Demzufolge hatten sie erneut das Gefühl, betrogen worden zu sein. Man suchte Sündenböcke und fand sie in Gestalt angeblicher Asylbetrüger, die dem deutschen Steuerzahler auf der Tasche liegen würden. Faktisch ist die rassistische Gewaltbereitschaft in den Köpfen eines großen Teils ihrer Protagonisten ein mit barbarischen Mitteln ausgetragener Kampf um angeblich oder tatsächlich knapper werdende Soziallleistungen.

1998 tobte in den Medien schrilles Entsetzensgeschrei, als die (später mit der offen nazistischen NPD verschmolzene) ›Deutsche Volksunion‹ (DVU) des rechtsradikalen Verlegers Gerhard Frey bei einer Landtagswahl in Sachsen-Anhalt über 12 % der Stimmen erhielt. Die rechtsradikale Landtagsfraktion zerlegte sich zwar ganz schnell wieder. Der allgemeine Rechtstrend vor allem bei der industriell ausgemusterten Bevölkerung hielt und hält jedoch an. Und mittlerweile scheint es traurige Normalität geworden zu sein, dass in den östlichen Bundesländern rechtsradikal gewählt wird.

Bei Robert Kurz liest man von »zu Pogromen und wüstem Rassismus neigenden Verhaltensweisen und Reaktionsformen von nicht mehr zu vernachlässigenden Teilen des ostdeutschen Volkes« (Kurz 1993a, 86). Den damals sehr heftigen Widerstand der linken Subkultur auch ostdeutscher Großstädte gegen rechte Gewalt hat er in seinen Beiträgen leider komplett ausgeklammert.

Die sich in den 1990er Jahren austobende rechtsradikale Gewaltorgie war dann für mehrere Jahre weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Mit der Finanzkrise des Jahres 2007 war dann aber die nächste rechte Welle da. Und in genau dieser stecken wir derzeit immer noch.

Robert Kurz charakterisierte die jeweils am Ende eines Modernisierungsschubes regelmäßig wiederkehrende Schübe von Rechtsradikalismus als ideologische Reaktion von Dauerausgemusterten oder aktuell von Absturz bedrohten. Ergänzend fügte er allerdings hinzu: »Das blinde Resultat langjähriger Negativauslese der politischen Klasse, galoppierender Inkompetenz, massenhafter Korruption, partikularer betriebswirtschaftlicher Logik und sich selber ad absurdum führender Marktwirtschaftsideologie […] muss fast zwangsläufig zu wilden Verschwörungstheorien führen« (Kurz 1993a, 139).

Ein kleines Beispiel für eine aktuelle Verschwörungstheorie: Die derzeitige Bundeskanzlerin – im Winter 1989/90 Pressesprecherin der DDR-Oppositionsgruppe Demokratischer Aufbruch, die wenig später mit der CDU fusionierte – gilt im Weltbild durchgedrehter Rechtsradikaler mittlerweile als Wiedergängerin von Erich Honecker und sei von diesem beauftragt worden, die deutsche Wirtschaft zu ruinieren. Derartig hirnrissiges Zeug türmt sich im Netz mittlerweile zu virtuellen Bergen.

Robert Kurz schrieb übrigens schon 1993: »Zwar ist die rechtsradikale Gewalt in Ostdeutschland, gemessen am Bevölkerungsanteil, […] anscheinend überproportional manifest geworden. […] Das Phänomen wäre dann nur ein negativer Vorsprung der Ostdeutschen im Krisenprozess, und die Westdeutschen könnten sehr schnell von der rassistischen Welle eingeholt werden […]« (Kurz 1993a, 194f.).

Genau dies ist mittlerweile erfolgt. Die übergroße Mehrzahl der rechtsradikalen Politiker und Publizisten der Gegenwart – von Björn Höcke bis Alice Weidel, von Jürgen Elsässer bis Götz Kubitschek – ist westdeutsch sozialisiert. Ostdeutsch ist lediglich ein Großteil der frustrierten Dauerausgemusterten, die die Machwerke dieser pseudointellektuellen Banditen lesen und dann entweder mit Brandsätzen und Baseballschlägern auf Flüchtlingsunterkünfte losgehen oder aber den Schreibtischtätern per Stimmzettel zu wohldotierten Parlamentssitzen verhelfen.

8. Das Vierte Reich als Quadratur des Kreises

Wie Robert Kurz schrieb, erschöpfte sich noch Anfang der 1990er Jahre der linke Antifaschismus in Deutschland angesichts brennender Flüchtlingsunterkünfte und rechtsradikaler Aufmärsche meist im Ausmalen von Schreckensbildern einer befürchteten Erneuerung des Hitlerreiches. Kurz wies schon in seinen frühen Texten darauf hin, dass der »Fordismus auf Panzerketten […] mit industrieller Menschenvernichtung« (Kurz 1993a, 188) der 1940er Jahre an ein bestimmtes Stadium der wirtschaftlichen Entwicklung gebunden war und schon allein ökonomisch nicht wiederholbar ist.

Hitlers ›Drittes Reich‹ war eben nicht nur der barbarische Versuch, den wirtschaftlichen Vorsprung der westeuropäischen Staaten militärisch zu unterlaufen und sich in diesem Zusammenhang unerwünschter Bevölkerungsgruppen per Massenmord zu entledigen. Im Vorfeld dieser militärischen Expansion wurden auch damals noch vorhandene Relikte des wilhelminischen Ständestaates beseitigt. Die Nazis exekutierten eine Form nachholender Modernisierung, die dann im westdeutschen Wirtschaftswunderstaat der Adenauerzeit ihre Vollendung fand.

Die DDR-Wirtschaft als Bestandteil des damaligen osteuropäischen Wirtschaftsverbundes blieb im Gegensatz zur westdeutschen Wirtschaft weitgehend in Strukturen kriegswirtschaftlicher Zwangsformierung hängen.

Der deutsche Weg in die Moderne ist mittlerweile erfolgt und somit Vergangenheit. Ein sogenanntes Viertes Reich kann und wird es demzufolge nie geben. Der gegenwärtig wieder heftig hochkochende Antisemitismus und Rassismus ist eben nicht Bestandteil eines repressiven Weges in die Moderne, sondern ein Symptom dessen Niederganges. (Was allerdings nicht ausschließt, dass Regierungen an der Schwelle zum Zerfall stehender Staaten, wie beispielsweise der des Iran, sich beim Versuch einer Krisenbewältigung an Versatzstücken dieser barbarischen Modernisierungsideologie bedienen.) Der Zentralrat der Juden in Deutschland verwies übrigens kürzlich im Zusammenhang mit dem Aufstieg der AfD auf einen nachweislichen Anstieg antisemitisch motivierter Straftaten von Seiten deutscher Rechtsradikaler.

Es ist durchaus interessant, die Programmatik der AfD und die Äußerungen von deren führenden Politikern einmal genau unter die Lupe zu nehmen: Die sogenannte neue Rechte benutzt zwar das Vokabular der alten Nazis, wohl wissend, dass sie durch den Gebrauch einer nationalen Rhetorik Wählerstimmen einfahren. Ihre Programmatik ist allerdings eher ein Ausbund an politischer Schizophrenie, eine Quadratur des Kreises: Forderungen nach mehr Polizeigewalt und der Sicherung nationalstaatlicher Grenzen stehen unvermittelt neben Programmpunkten, die auf einen weiteren Rückbau staatlicher Institutionen hinauslaufen: Herunterfahren von Steuern, Abbau von Bürokratie und sozialstaatlicher Regularien, radikale Reduktion der Umweltgesetzgebung usw. Es handelt sich bei den wirtschaftspolitischen Forderungen der AfD in großen Teilen um eine klassische neoliberale Programmatik. Mit Hilfe von Parolen nach Stärkung des Nationalstaates will die Rechte also die weitere Schwächung eben dieses Nationalstaates betreiben.

Der Kapitalismus bedarf bekanntlich des Nationalstaates als steuernde und regulierende Instanz. Dass die Rechte die meisten Wählerstimmen gerade in den Regionen Ostdeutschlands einfängt, in denen die nationalstaatliche Infrastruktur am Zusammenbrechen ist, passt dazu haargenau. Was von der radikalen Rechten derzeit kommt, erinnert heftig an die Schlussszene in Brechts 1928/29 geschriebener und erstaunlich hellsichtiger Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. Ein Marsch unter scheinbar absurd und anachronistisch anmutenden Parolen und Losungen – geradewegs hinein in die poststaatliche Barbarei:

»Für die Teuerung / Für den Kampf aller gegen alle / Für den chaotischen Zustand unserer Städte / Für den Fortbestand des goldenen Zeitalters« (Brecht 1961, 258).

9. Unterwegs in den Weltbürgerkrieg

Wie Robert Kurz schreibt, trifft mit dem Aufstieg der Neuen Rechten die »Wiederkehr des Verdrängten und die ideologische Erneuerung von vergangenen Gestalten der modernen Barbarei […] auf veränderte Bedingungen und Verhältnisse« (Kurz 1993a, 184). »Dieser neue Nationalismus und Rechtsradikalismus erweist sich […] als barbarische Reaktion auf das drohende Herausfallen ganzer Bevölkerungssegmente aus den Erfolgs- und Reproduktionskriterien der internationalisierten Marktwirtschaft, die gerade durch die hohe Produktivität und Kapitalintensität nicht mehr genügend Raum und Integrationsfähigkeit für alle besitzt, nicht einmal mehr in den entwickeltsten kapitalistischen Ländern« (ebd., 190).

Für das abgehängte und perspektivlose Ex-Proletariat im Osten Deutschland trifft diese Haltung ganz besonders zu. Man habe doch damals unter wehenden Deutschlandfahnen das alte Regime gestürzt und warte bis heute auf den versprochenen Wohlstand, der einfach nicht kommen will – so die Selbstrechtfertigung von Leuten, die derzeit ganz unverblümt ihre Gewaltphantasien gegen ethnische, religiöse und sexuelle Minderheiten im Netz auskotzen.

Wie der alte Rassismus und Nationalismus ein besonders barbarischer Bestandteil der Durchsetzungsgeschichte der kapitalistischen Moderne war, so sind die historischen Wiedergänger der alten Nazis in unserer Gegenwart Produkte und Werkzeuge des zunehmenden Zerfalls eben dieser Moderne. Robert Kurz beschrieb schon in den 1990er Jahren mehrfach den Crash der ostdeutschen und anderer osteuropäischer Volkswirtschaften als Bestandteil der globalen Krise des warenproduzierenden Systems. Die Folgen der Krise wurden zunächst an dessen Rändern sichtbar, führten zum Zerbröseln oder zum Zusammenbruch instabiler Volkswirtschaften der damals noch so genannten Zweiten und Dritten Welt. Der Zerfall des osteuropäischen Sozialismusmodells war Bestandteil eben dieses Prozesses.

Und der daraufhin aus seinen Winkeln kriechende Nationalismus, Rassismus und religiöse Fundamentalismus sei, wie Kurz schlussfolgernd meinte – die ideologische Reaktion auf jene unbegriffene Krise: »Auf den vom Weltmarkt hinterlassenen Ruinen […] spießt der Giftpilz eines tertiären Nationalismus, der weder mit dem primären europäischen des 19. Jahrhunderts noch mit dem sekundären Befreiungsnationalismus des 20. Jahrhunderts etwas zu schaffen hat. […] Die ethnischen Verzweiflungsloyalitäten sind allesamt haltlos. Sie können den zerbrechenden alten Nationalstaat weder ersetzen noch neue reproduktionsfähige Gesellschaftsgebilde schaffen. Sie konstituieren sich nur im und durch den offenen oder latenten Bürgerkrieg, bis sich auch dieser erschöpft hat« (Kurz 1993b, 124).

Der offene oder latente Bürgerkrieg, den Kurz insbesondere am Beispiel des blutigen Zerfalls des sozialistischen Jugoslawiens schilderte, hat sich seit Beginn der 1990er Jahre unübersehbar über weite Teile des Planeten Erde ausgebreitet. Die von ihm langfristig prognostizierte Erschöpfung dieses Weltbürgerkrieges ist derzeit noch nicht absehbar.

10. Keine Alternative? Nirgends?

Die 1980er Jahre waren geprägt durch eine verzweifelte Suche linker Intellektueller nach einem »dritten Weg« zwischen Staatsökonomie und Marktökonomie. Eine Suche, die damals keinen Erfolg hatte und auch nicht haben konnte, da in dieser Zeit kaum jemand begriff, dass beide sich noch gegenüberstehende ökonomische Systeme auf denselben Basiskategorien beruhten. Der klassische Traditionsmarxismus war, wie Robert Kurz schrieb, damit theoretisch am Ende: »Im Herbst 1989 konnte die Wirtschaftswoche so ziemlich sämtliche namhaften Marxisten des deutschen akademischen Lebens als reuige Delinquenten vorführen, die ihre Formeln des Abschwörens herunterstammeln durften« (Kurz 1993b, 42).

Das von Kurz an anderer Stelle sehr treffend beschriebene »Hecheln der wendehälsigen Verlierer« (Kurz 1991, 47) auf dem Boden der verendenden DDR hat der Autor dieser Zeile übrigens persönlich erlebt. Nur einige Beispiele: Hochschuldozenten für marxistisch-leninistische Philosophie trugen von einem Tag auf den anderen das genaue Gegenteil von dem vor, was sie zuvor als einzig gültige Wahrheit verkündet hatten. Sozialistische Betriebsdirektoren mutierten blitzschnell zu wildgewordenen Managern und setzten die Mehrzahl der zuvor von ihnen selbst hochdekorierten Aktivisten und Bestarbeiter an die Luft. Und Politoffiziere der Nationalen Volksarmee bettelten verzweifelt um Aufnahme in die Armee des zuvor von ihnen bekämpften Klassenfeindes. Karl Marx erschien wieder einmal als toter Hund.

Gibt es also keine Alternative zur Allmacht des Marktes samt seinen barbarischen Folgen oder zum von den Rechten ganz offen favorisierten Marsch in die Barbarei? Robert Kurz schrieb allerdings schon damals, dass man Marx diesmal wohl »besonders voreilig zu Grabe getragen« habe (Kurz 1993b, 43). Nur der Modernisierungs-Marxismus sei völlig obsolet geworden, jedoch »nicht weil er ›falsch‹ war, sondern weil seine Aufgabe erschöpft ist« (ebd., 45). Noch immer aktuell ist seine in diesem Zusammenhang formulierte Forderung: »Am dünnen Ariadnefaden der notgedrungen noch abstrakten, unvollkommenen Marxschen Radikalkritik von Ware und Geld müssen wir uns heraustasten aus dem Labyrinth der Moderne« (ebd., 47). »Der jetzt geforderte ›dritte Weg‹ […] muss in eine Gesellschaft jenseits von Markt und Staat führen, d. h. in die Aufhebung des modernen warenproduzierenden Systems« (ebd., 148).

 

Literatur

Bedszent, Gerd: Wirtschaftsverbrechen und andere Kleinigkeiten, Frankfurt am Main 2017.

Brecht, Bertolt: Stücke, Band III, Berlin 1961.

Farin, Klaus; Seidel-Pielen, Eberhard: Rechtsruck – Rassismus im neuen Deutschland, Berlin 1992.

Gehrke, Bernd; Rüddenklau, Wolfgang: …das war doch nicht unsere Alternative – DDR-Oppositionelle zehn Jahre nach der Wende, Münster 1999.

Kurz, Robert: Deutschland einig Irrtum. Die Wiedervereinigungsfalle und die Krise des warenproduzierenden Weltsystems, in: Krisis – Zeitschrift für revolutionäre Theorie, Nr. 8/9, Erlangen 1990, 14–37, auch auf exit-online.org.

Kurz, Robert: Honeckers Rache – Zur politischen Ökonomie des wiedervereinigten Deutschland, Berlin 1991.

Kurz, Robert: Potemkins Rückkehr – Attrappen-Kapitalismus und Verteilungskrieg in Deutschland, Berlin 1993a.

Kurz, Robert: Der Letzte macht das Licht aus – Zur Krise von Demokratie und Marktwirtschaft, Berlin 1993b.

Wenzel & Band: Grünes Licht (Doppel-CD), Conträr Musik 2001.




zurück
Druckversion
Glossar
Deep Link