Überarbeiteter Nachdruck aus: Marx-Engels-Jahrbuch 2015/16. S. 271-280. Timm GraßmannNach uns die SintflutRezension zu Kohei Saito: Natur gegen Kapital. Marx’ Ökologie in seiner unvollendeten Kritik des KapitalismusAngeblich an Marx anschließende Gestalten haben, nach allem was man hört, vor der Ökologie als „new opium for the masses“1 gewarnt, behauptet „[d]ie Natur gibt es gar nicht“2 und erklärt, „[s]ustainability as such is not a left theme“3. In seiner vorliegenden Dissertation räumt Kohei Saito mit derartigen Merkwürdigkeiten auf und zeigt, dass es sich manchmal lohnt, sich noch einmal das unvollendete Werk von Karl Marx vorzunehmen. Denn ihm gelingt der Nachweis, dass die ‚unglückliche Ehe‘ zwischen Marxismus und Ökologie nicht durch das Marx’sche Werk selbst begründet werden kann. Marx sei nicht nur kein naiver Modernist gewesen, der einem uneingeschränkten Produktivismus das Wort geredet und das Industriezeitalter verherrlicht hätte, sondern es könne sogar „das wahre Ziel der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie nicht richtig begriffen werden [...], wenn man den Aspekt der Ökologie vernachlässigt“ (S. 14). Sein ambitioniertes Vorhaben hat Saito allemal verwirklicht: Marx’ ökologisches Denken auf Basis seiner Ökonomiekritik darzustellen, ist in dieser Ausführlichkeit ein Novum.4 Im ersten Teil (Kapitel 1-3) verfolgt Saito die Entwicklung der Marx’schen Ökologie vom Frühwerk bis zum Kapital. Nachdem er im ersten Kapitel die Bedeutung des Mensch-Natur-Verhältnisses für die noch philosophisch-anthropologische Marx’sche Entfremdungstheorie („Humanismus = Naturalismus“) hervorhebt, führt er im zweiten Kapitel aus, wie der naturwissenschaftliche Begriff des Stoffwechsels zur zentralen Kategorie bei Marx wurde. Wider die einflussreiche Interpretation Alfred Schmidts (S. 87-96) gebrauche Marx ‚Stoffwechsel‘ nicht als „spekulativen“ Begriff, sondern in seiner physiologischen und sozialwissenschaftlichen Dimension: Marx begreife die ‚Natur‘ nicht als ontologische, separate, „unauflösbare“ und „nicht-bestimmbare“ Entität, sondern in der historisch veränderbaren Wechselbeziehung mit der Gesellschaft,5 weshalb eine Rückkehr zu einer angeblich von den Menschen unberührten ‚Natur als solcher‘ illusorisch ist, aber woraus auch die Aufforderung folgt, zu erforschen und zu verstehen, inwiefern die konkrete Natur (etwa der Boden, die Pflanzen, die Luft) durch gesellschaftliche Einwirkung verändert und zerstört wird, bewahrt oder auf ein höheres Niveau überführt werden könnte. Schmidt habe aber unbegründet Marx in die Nähe zu naturphilosophischen und mechanistischen Materialisten wie Jacob Moleschott und Ludwig Feuerbach gerückt und dessen nachweisbar intensives Studium von naturwissenschaftlichen Autoren wie Justus von Liebig heruntergespielt. Saito trägt nicht einfach Marx’ zahlreiche, über das Werk verstreute Bemerkungen zur Umweltzerstörung zusammen, sondern stellt im dritten Kapitel einen inneren Zusammenhang zwischen Ökologie und Ökonomiekritik bei Marx her. Er stützt sich dabei auf die hierzulande leider kaum bekannte ‚japanische‘ Marx-Interpretation von Samezō Kuruma6 und Teinosuke Ōtani, für die Konzepte wie „Privatarbeit“, „Versubjektivierung des Werts als Kapital“ und „Versachlichung der Person“ zentral sind, und fügt dieser eine ökologische Dimension hinzu. Demnach müsse die versachlichte Herrschaft des Kapitals den Stoffwechsel zwischen Menschen und Natur einseitig vermitteln und erweise sich dabei als unfähig, Rücksicht auf die stoffliche Seite zu nehmen, obwohl diese in der Produktion mitwirke. Eine Gesellschaft von blind vor sich hin produzierenden und gegeneinander verselbständigten Privatproduzenten, deren Arbeitsprodukte wegen ihrer wechselseitigen Isolation die Warenform annehmen und deren Gesellschaftlichkeit sich daher erst über den Markt, auf den sie ihre Waren tragen, herstellt, benötige den Wert als Regulator der Produktion. Gezwungen für den Markt zu produzieren, wird das Verhalten der Produzenten von ihren eigenen Produkten, von Sachen, bestimmt, und der Wert erhält eine reale gesellschaftliche Macht, die kein menschlicher oder staatlicher Wille brechen kann. Als derartige Vergegenständlichung abstrakter Arbeit seien Arbeitskraft und natürliche Ressourcen für den Wert schlicht „überflüssige Kosten“, die es zu minimieren gelte (S. 122). Spätestens sobald der Wert nicht nur als Vermittler der Produktion auftrete, sondern sich als Kapital versubjektiviert habe, d. h. um des Wertes und seiner maximalen quantitativen Verwertung willen produziert werde, würden alle stofflichen Aspekte der Produktion nebensächlich und der gesellschaftliche Stoffwechsel mit der Natur unter dem alleinigen Gesichtspunkt der maximalen Auspressung abstrakter Arbeit reorganisiert (S. 137/138). Überzeugend ist Saitos Interpretation des ersten Bandes des Kapital, wo Marx ausführlich dargestellt habe, wie das Kapital als „automatisches Subjekt“ (S. 138) den ökologischen Stoffwechsel stört: zunächst im häufig geschmähten Kapitel über den Arbeitstag auf der Seite der Menschen (Marx spricht von der „‘grausamen und unglaublichen‘ Verlängerung des Arbeitstags“,7 die die Arbeiter physisch und psychisch erschöpft), dann auf der Seite der Natur in Form der Erschöpfung des Bodens und der Verwüstung der Naturressourcen. Marx’ Darstellung gipfelt in dem letzten Wort des Kapitels „Große Industrie und Maschinerie“, das nicht etwa die Produktivkraftentwicklung durch die Bourgeoisie lobt, sondern ernüchtert feststellt: „Und jeder Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ist nicht nur ein Fortschritt in der Kunst den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in Steigerung seiner Fruchtbarkeit für eine gegebne Zeitfrist zugleich ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit. [...] Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprocesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichthums untergräbt: Die Erde und den Arbeiter.“8 Allen Träumen von einem ‚grünen Kapitalismus‘ zum Trotz wird es, so Saito mit Marx, keine Rehabilitierung des Stoffwechsels zwischen Menschen und Natur geben, solange die versachlichte Herrschaft des Kapitals fortbesteht und die Produktion stofflichen Reichtums nur ein Nebenaspekt des eigentlichen Produktionszweckes ist. Neben der Einbettung des Marx’schen Verständnisses der kapitalistischen Naturzerstörung in dessen Werttheorie besteht die zweite große Neuleistung Saitos in der Rekonstruktion der umfangreichen, zwischen 1865 und 1868 entstandenen, noch unveröffentlichten Exzerpte zur Agrikulturchemie von Marx im zweiten Teil (Kapitel 4-6). Statt abstrakt zu beklagen, ‚der Mensch‘ beherrsche oder zerstöre ‚die Natur‘, habe sich Marx den Naturwissenschaften zugewendet, um mit ihrer Hilfe zu verstehen, wie genau die ökonomischen Formbestimmungen der kapitalistischen Produktionsweise den gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der konkreten Natur destabilisieren. Marx’ naturwissenschaftliche Studien nach 1867 deuteten keine „Flucht vor dem Kapital“ an, sondern umgekehrt habe gerade seine Kritik der politischen Ökonomie diese Studien verlangt. Kein Abschied vom Kapital also, sondern eine Vertiefung.9 Wie Saito erinnert, las Marx kurz vor der Veröffentlichung des Kapital die siebte Auflage von Justus von Liebigs Agrikulturchemie (1862), deren vierte Auflage er schon zuvor rezipiert hatte. Liebig, der zuerst noch glaubte, durch die Anwendung von chemischem Dünger die damals voranschreitende und breit diskutierte Erschöpfung der Böden – die britische ‚Werkstatt der Welt‘ hing von gewaltigen Importen von peruanischem Vogelkot (Guano) ab10 – aufhalten zu können, versprüht in der siebten Auflage nun Pessimismus: Angesichts der modernen „Raubwirtschaft“ (Liebig), die wegen der Zersiedlung und der Ausbildung des Stadt-Land-Gegensatzes die Naturgesetze der Bodenfruchtbarkeit verletze, werde der Boden unvermeidlich erschöpfen. Denn die in der Stadt verbrauchten Bodenbestandteile kehrten nicht in die Böden zurück, sondern würden als Abwasser in den verdreckten Flüssen der Metropolen landen. Liebig prophezeit ein Zeitalter der Hungersnöte, Rohstoffkriege und gar den Untergang der Zivilisation, sollte das Problem der Bodenerschöpfung nicht in den Griff zu bekommen sein (S. 257). Schnell entwickelt sich weltweit eine hitzige Diskussion um die Thesen Liebigs. Diese von Saito rekonstruierte diskursive Konstellation um Liebigs Agrikulturchemie erlaubt es, beinahe alle heute noch anzutreffenden Positionen zur ‚Umweltfrage‘ in ihrem Entstehen zu erkennen. Da sind die Spielarten bürgerlicher Weltanschauung: der Anthropologismus in Gestalt von John Stuart Mill (S. 180/181), der das von David Ricardo formulierte „Gesetz des abnehmenden Bodenertrags“, das den linearen Rückschritt der Bodenproduktivität hin zu immer weniger ertragreichen als ein für alle Gesellschaften gültiges Naturgesetz behauptet, nun durch Liebig bestätigt sieht; dann das „Malthus’sche Gespenst“ für das die Bevölkerung immer zu groß und die Ressourcen immer zu knapp sind, und das den ‚Konsum‘ als Anfang und Ende aller Umweltprobleme begreift; und schließlich diejenigen wie Wilhelm Roscher, für die trotz Erschöpfung alles in bester Ordnung ist, da mit sinkenden Bodenerträgen auch die Preise der Agrarwaren steigen würden, weshalb mehr Kapital in die Landwirtschaft strömen und die dortige Produktivität erhöhen würde – also der Markt schon alles regeln werde (S. 187/188). Gegen die bürgerliche Ignoranz treten der amerikanische England-Kritiker Henry Carey und sein deutschnationaler und antisemitischer Anhänger Eugen Dühring auf, die beide im Handel ihrer Länder mit Großbritannien den finalen Grund des Zerreißens der stofflichen Kreisläufe sehen und mittels einer nationalen Schutzzollpolitik herbeigeführten „harmonischen Entwicklung“ der „heimischen Arbeit“ (Dühring) aufhalten wollen (S. 256-260). Durch diese faszinierenden Einblicke in die ökologischen Theorien des 19. Jahrhunderts macht Saito anschaulich, welche Fallen Marx – der diese und noch weitere Autoren sehr genau gelesen hatte – vermeiden wollte und welche Positionen nicht die Marx’schen sind. Dass Marx in der zweiten Ausgabe des Kapital (1872) seine frühere Wertschätzung für Liebig revidierte und sich zurückhaltender über dessen „unsterblich[e] Verdienste“11 äußerte, erklärt Saito damit, dass Marx sich das Forschungsfeld um Liebigs Theorie erschlossen hatte und diesen somit relativieren konnte. Entscheidend sei hier die Theorie des Klimawandels des Münchner Agrarwissenschaftlers und Liebig-Kritikers Carl Fraas.12 Marx hat sich nur an einer Stelle direkt und für seine Verhältnisse geradezu euphorisch zu Fraas geäußert,13 aber eine Unmenge an Exzerpten aus dessen Werken hinterlassen. Fraas scheint für Marx eine doppelte Bedeutung zu haben. Ausgehend von seiner Kritik an Liebig, dass die chemische Analyse der Bodenbestandteile allein nicht die Bedingungen des Pflanzenwachstums erklären könne, da die Verwitterungsfähigkeit des Bodens maßgeblich auch durch das lokale Klima bestimmt werde, erkennt Fraas in der Alluvion (vom Wasser transportierte Erde-, Sand- und Gesteinsmassen) einen Selbsterhaltungsmechanismus der Natur und ihrer Fruchtbarkeit. Fraas schlägt eine künstliche Alluvion durch Dammbau und reguliertes Flusswasser vor, welche die Kräfte der Natur nicht gewaltsam erschöpfen, sondern regulierend modifizieren würde. Mit diesem sanften Arrangement des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur zeige Fraas, dass dieser nicht notwendigerweise zerstörerisch sein muss, sondern nachhaltig gestaltet werden kann (S. 276/277). Zum zweiten aber ist Fraas „vor Darwin Darwinist“14. Ein Kompliment, denn an Darwin begeisterte Marx zunächst, dass dieser eine Geschichte und eine historische Dynamik in der Natur nachwies. Doch während die Natur bei Darwin, obwohl er den Hobbes’schen Kampf aller gegen alle in sie projiziert, so stabil ist wie der Goldstandard und ihre Entwicklung (trotz der Konkurrenz) zu Anpassung und harmonischem Gleichgewicht tendiert wie die Marktökonomie in den volkswirtschaftlichen Modellierungen, gibt es ein Krisenbewusstsein bei Fraas, der nämlich nachweist, dass ein Klimawandel innerhalb von Jahrhunderten durch menschliche Tätigkeit, wenn auch unintendiert, herbeigeführt werden kann. Seine Untersuchung in Klima und Pflanzenwelt in der Zeit (1847) offenbart, dass der Mittelmeerraum von Persien bis Süditalien durch die antike Zivilisation ruiniert wurde, indem die flächendeckende Abholzung der Wälder das lokale Klima und somit die Böden und den Wasserhaushalt zerstörte – was Wüsten hinterließ und die lokalen Pflanzen in die Migration nach Norden zwang (S. 277 ff.). Dies könne sich laut Fraas jederzeit und an jedem Ort wiederholen; wie Liebig warnt er vor dem drohenden Zivilisationsuntergang durch Bodenerschöpfung. Dass Marx Fraas eine „unbewusste sozialistische Tendenz“ zuschreibt, interpretiert Saito derart, dass Marx nun die Rehabilitierung des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur als zentrale Aufgabe des Kommunismus bestimmt: „unbewusst“, denn zu der Einsicht in die Notwendigkeit dieser Wiederherstellung „kommt er [Fraas] natürlich als Bürger nicht“15. Fraas bestätige Marx darin, dass in vormodernen Gesellschaften keine widerspruchslose Einheit von ‚Mensch und Natur‘ existierte, diese Störung aber im Kapitalismus transformiert und verstärkt werde, indem dieser den Stoffwechsel vom Standpunkt der Verwertung her radikal reorganisiert. Die Stoffwechselstörung ist keine anthropologische Konstante, aber ohne ein kommunistisches Agrarprogramm, das Marx schon früher als „das A und O der kommenden Umwälzung“ bezeichnete, „behält Vater Malthus recht“.16 Die klar vorgetragenen großen Argumentationslinien machen Saitos Arbeit zu einem der wichtigsten Marx-Bücher der letzten Jahre, das zum Thema ‚Marx’ Ökologie‘ das neue Standardwerk ist, und sicherlich zu den besten Büchern über die durch die MEGA zu Tage beförderten Exzerptmassen zählt, das eine neue Perspektive auf Marx’ noch völlig unausgewertete späte Exzerpte zur Geologie und Chemie eröffnen könnte. Hervorzuheben ist auch Saitos Kennerschaft: Er wertet Randanstreichungen der Handexemplare aus Marx’ Bibliothek aus (S. 284-286), spürt Textveränderungen der Kapital-Ausgaben auf (S. 252), weist Entzifferungsfehler in der MEW nach (S. 264) und findet in begriffsgeschichtlichen Analysen heraus, dass Marx den Begriff „Stoffwechsel“ zum ersten Mal in dem Buch Mikrokosmos (1851) seines Kölner Genossen Roland Daniels fand (S. 79) und von Liebig die folgenreiche Metapher „organische Zusammensetzung“ (des Bodens) stammt. Solche Funde sind ihm kein Selbstzweck, sondern konsequent in seine These eingebettet, wonach die Ökologie kein unbedeutender Nebenaspekt der Marx’schen Ökonomiekritik ist. Diese Einschätzung wird auch nicht durch einige Eigenartigkeiten seiner Interpretation getrübt. Etwa ignoriert Saito mindestens ebenso grundlegende Antinomien kapitalistischer Gesellschaften. Verstand man unter dem Widerspruch zwischen ‚Stoff‘ und ‚Form‘ bislang das Auseinanderklaffen zwischen stofflichem Reichtum und Wert mit zunehmender Produktivkraftentwicklung im Verlauf der Kapitalakkumulation, so dass für die Herstellung einer stofflichen Einheit immer weniger Arbeit nötig werde und diese somit immer weniger Wert enthalte, was sowohl die kapitalistische Produktionsweise in eine fundamentale Krise stürzen würde, aber auch eine Assoziation freier Individuen jenseits des Drucks der „ganzen ökonomischen Scheiße“ (Marx) und des verallgemeinerten Mangels ermöglichen sollte, so ist bei Saito davon keine Rede. Er meint, „dass Marx die gesamte Natur oder die ‚stoffliche Welt‘ als denjenigen Widerstandspunkt gegen das Kapital thematisiert, an dem der Widerspruch der kapitalistischen Produktion sich am deutlichsten manifestiert“ (S. 14. Herv. T. G.). Wird nun etwa die Natur zum revolutionären Subjekt, wenn es heißt, dass Marx zufolge „die Störung des natürlichen Stoffwechsels jedoch letztendlich dem schrankenlosen Trieb nach Kapitalakkumulation als stoffliche Grenze entgegen“ trete und das „‘Aufbrechen des Kapitalismus‘ [...] hier möglich“ sei? Das räumt der Autor selbst aus, aber er kann auch nicht verständlich machen, warum gerade der ökologische Widerspruch (und nicht die Kritik, der Kapitalismus fabriziere Mangel inmitten des Überflusses) dazu auserkoren sein soll, kritisches Bewusstsein zu evozieren.17 Weil Saito die Akkumulationsdynamik des Kapitals nicht behandelt, sieht er folglich (noch) nicht, dass man von hier aus eine Theorie der historischen Entwicklung der Naturzerstörung denken könnte. Er kann feststellen, dass der gesellschaftliche Stoffwechsel mit der Natur durch das Kapital notwendigerweise ruiniert wird, aber keine Tendenz der Beschädigung angeben. Es stimmt, dass nur eine genaue naturwissenschaftliche Untersuchung feststellen kann, wie diese Störung verläuft,18 aber durch eine Relationierung zur gesteigerten Bedeutung der Produktion relativen Mehrwerts ließe sich möglicherweise eine Tendenz ableiten. Marx selbst hatte die in Fn. 7 nachgewiesenen Überlegungen in den Kontext der „Produktion des relativen Mehrwerts“, also der Mehrwerterzeugung durch die Verringerung der notwendigen Arbeitszeit, gestellt. So führt die Erhöhung der Produktivität zu einer Verringerung des Werts pro stofflicher Einheit, was durch gesteigerten Output und daher gesteigerten Materialverbrauch und somit beschleunigter Umweltzerstörung kompensiert werden muss. Hierin liegt auch der Grund für die diversen Rebound-Effekte: Durch Konsumverzicht oder Recycling frei gewordene Ressourcen erhöhen bloß den relativen Mehrwert – Ressourcen zu sparen wäre erst in einer bewusst gesellschaftlichen Produktion ökologisch segensreich.19 Saitos These, dass Marx, der noch im Manifest der kommunistischen Partei die Bourgeoisie für ihre „Unterjochung der Naturkräfte“ und die „Urbarmachung ganzer Weltteile“ gefeiert hatte,20 mit der Entwicklung seiner Kritik der politischen Ökonomie immer mehr vom hoffnungslosen Fortschrittsoptimismus und Produktivkraftfetischismus abgerückt ist, ist eine beißende Kritik am traditionellen Marxismus, dem ökologische Erwägungen fremd waren. Marx selbst hatte freilich schon 1845 erklärt, dass die „Produktivkräfte [...] unter dem Privateigenthum [...] zu Destruktivkräften“21 würden. Doch auch wenn sich Marx immer skeptischer über die angeblich ‚zivilisatorischen Effekte‘ des Kapitalismus zeigte, unterschätzt Saito, dass Marx sich noch zu dieser Zeit auf der Suche nach der Produktivkraftsteigerung in der Agrikultur für eine alternative technologische Grundlage einer Assoziation freier Individuen befand. In seinen Exzerpten aus Wilhelm Hamms Die landwirthschaftlichen Geräthe und Maschinen Englands zeigt sich Marx beeindruckt davon, wie die neuesten landwirtschaftlichen Maschinen die menschliche Arbeitskraft überflüssig machen.22 Und auch in den unmittelbar vor dem oben zitierten ‚letzten Wort‘ des Maschinerie-Kapitels niedergeschriebenen Sätzen ist Marx nicht etwa schizophren,23 sondern hält daran fest, dass Wissenschaft und Technologie Potentiale bereithalten, die der Erweiterung der produktiven Fähigkeiten dienlich sein könnten, in ihrer kapitalistischen Form und Anwendung aber zerstörerisch sind. Gegen eine allzu modernistische Marx-Lesart macht Saito klar, dass dieser keine Theorie absoluter individueller Freiheit formuliert und nicht nur gegen den „Idiotismus des Landlebens“, sondern auch gegen die Zerstörung des physischen Lebens der Stadtbewohner gewettert hat.24 Der Kommunismus wäre dann nicht das Schlaraffenland, sondern hieße, das Überleben zu organisieren. Auf welche Weise diese „radikale Gesellschaftsumwälzung im Sinne der bewussten Etablierung einer ganz anderen ökonomischen Struktur auf globalem Niveau zwecks nachhaltiger Regulierung des natürlichen und gesellschaftlichen Stoffwechsels“ (S. 110/111) in die Wege geleitet werden könnte, legt Saito mit einer von Marx empfohlenen „sozialistischen Strategie“ nahe. Wie der Zerstörung der Arbeitskraft durch die Einführung des gesetzlichen 10-Stunden-Arbeitstags ein Riegel vorgeschoben wurde und Marx dies zu Recht lobte, fordert Saito eine Art ökologischen 10-Stunden-Tag (S. 143/144, 301/302), was ja in Form etwa einer Obergrenze für CO2-Emissionen durchaus denkbar wäre. Saito sieht in der staatlichen Regulation die Möglichkeit einer Begrenzung der Versachlichung. Doch so wie der „Sturmmarsch“ der Produktion des relativen Mehrwerts erst „unter dem Druck eines verkürzten Arbeitstags“25, also der Begrenzung der Produktion absoluten Mehrwerts, losbrach, würde das Ausnutzen von ökologischen Spielräumen (sofern es sie denn gibt, und sie nicht durch eine Krise verkleinert werden) die Widersprüche lediglich verlagern. Dass darüber hinaus der moderne „Staat des Kapitals“ (Johannes Agnoli), der selbst auf eine gelingende Kapitalakkumulation angewiesen ist, ein ‚grüner‘ werden kann, scheint logisch unmöglich, wenn, was Saito ja annimmt, die ökologische Destruktivität bereits in der Warenform und der ihr zugrunde liegenden Subjekt-Objekt-Verkehrung lauert. Die fehlende Staatskritik korrespondiert wiederum mit einer eigenwilligen Interpretation der Werttheorie: So gilt Saito nicht nur die konkrete, sondern auch die abstrakte Arbeit als „stofflich“ und „übergeschichtlich“. Dies folgt sicherlich aus seiner berechtigten Kritik am westlichen Marxismus, die stoffliche Dimension bei Marx verkannt oder wie bei Alfred Schmidt als „negative Ontologie“ aus dem Bereich des Erkenntnismöglichen verbannt und somit den Zugang zur Ökologie versperrt zu haben. Er meint, die „Konzeption der abstrakten Arbeit als ‚rein gesellschaftlich‘ hat gravierende Folgen, denn es wäre viel schwerer zu erklären, warum die Herrschaft abstrakter Arbeit im Kapitalismus, welche keine stoffliche Eigenschaft besitze, unterschiedliche Aspekte des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur beträchtlicher denn je stören müsste.“ (S. 134.) Das sehe ich nicht so, ist es doch schlicht die konkrete Arbeit, die in allen Gesellschaften den Stoffwechsel mit der Natur regelt, und die im Kapitalismus allein aus der Perspektive der maximalen Auspressung abstrakter Arbeit reorganisiert wird. Der Begriff der abstrakten Arbeit setzt vielmehr die Teilung der Gesellschaft in voneinander getrennte Warenproduzenten voraus: „Die Menschen beziehen also ihre Arbeitsprodukte nicht auf einander als Werthe, weil diese Sachen ihnen als bloß sachliche Hüllen gleichartig menschlicher Arbeit gelten. Umgekehrt. Indem sie ihre verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werthe gleichsetzen, setzen sie ihre verschiednen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleich. Sie wissen das nicht, aber sie thun es.“26 Für Saito scheint erst die Vermittlung der privat verausgabten Arbeiten sowie die Verteilung ihrer Produkte (beides über Markt, Tausch, Wert) das spezifisch Kapitalistische, nicht bereits die um ihrer Austauschbarkeit willen vollzogene Abstraktion der menschlichen Tätigkeiten von ihrem Inhalt und ihrer Qualität. Saitos Verdienst ist der Nachweis, dass für die Marx’sche Wertkritik – ganz im Gegensatz zu den eingangs zitierten Statements – die Ökologie nicht bloß ein „Nebenwiderspruch“ kapitalistischer Gesellschaften ist, und darüber hinaus mit ihr auch die gegenwärtige Umweltzerstörung versteh- und erklärbar wird. Da sich das Zerreißen der stofflichen Kreisläufe globalisiert, diversifiziert und akzeleriert hat (CO2-Konzentration in der Atmosphäre, Desertifikation, Verlust an Biodiversität, Übersäuerung der Meere etc.), ist es umso wichtiger zu verstehen, das dafür kein böser Wille, kein Mangel an Technologie oder Wissen, und erst recht kein zu hoher ‚Lebensstandard‘ verantwortlich ist, sondern dies die zwangsläufige Konsequenz des wörtlich zu nehmenden „Aprés moi le déluge“-Prinzips der gegenwärtigen Produktionsweise ist. Kohei Saito: Natur gegen Kapital. Marx’ Ökologie in seiner unvollendeten Kritik des Kapitalismus. Frankfurt a. M. 2016: Campus. 330 Seiten. ISBN: 978-3-593-50547-3. 1 Interview with Alain Badiou, Paris, December 2007. In: Alain Badiou – Live Theory. Hrsg. von O. Feltham. London 2008. 2 Slavoj Žižek: Studenten haben meistens keine Ahnung. In: https://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/sonntag/slavoj-iek-studenten-haben-meistens-keine-ahnung/8628378.html 3 Chantal Mouffe: Democracy in need of emotion and confrontation. In: http://www.mo.be/en/article/democracy-need-emotion-and-confrontation. 4 Bereits Moishe Postone hatte ein grundlegendes „Spannungsverhältnis“ zwischen ökologischen Erwägungen und den Imperativen der Wertverwertung ausgemacht. Siehe Moishe Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx. Freiburg 2003. S. 575-577. 5 Hier könnte man um das anschauliche Beispiel des „Kirschbaums“ ergänzen, der „wie fast alle Obstbäume, bekanntlich erst vor wenig Jahrhunderten durch den Handel in unsre Zone verpflanzt worden“ und „deßhalb erst durch diese Aktion einer bestimmten Gesellschaft in einer bestimmten Zeit der ‚sinnlichen Gewißheit‘ Feuerbachs gegeben“ wurde (Karl Marx, Friedrich Engels: Deutsche Ideologie. MEGA I/5. S. 20). Es sei auch an Marx’ Faszination für den Wandel von Landschaften wie die Campagna di Roma (ebenda. S. 21) oder die Romagna (MEGA IV/5. S. 292) erinnert. 6 Vgl. Kuruma-Archiv: https://www.marxists.org/archive/kuruma/index.htm sowie: Samezo Kuruma: Marx’s Theory of the Genesis of Money: How, Why and Through What is a Commodity Money. Denver 2008. 7 Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Bd. 1. In: MEGA II/6. S. 264. 8 Ebenda. S. 477. 9 Andere schütten angesichts der Entdeckung der Marx’schen Ökologie das Kind mit dem Bade aus. Als hätte es nie eine Kritik der trinitarischen Formel – also der fetischistischen Vorstellung, Boden, Kapital und Arbeit wären die drei gleichwertigen Produktionsfaktoren – bei Marx gegeben, hat jüngst Carl-Erich Vollgraf behauptet, der späte Marx hätte die „Rolle des Bodens als selbständigem Wertschöpfungsfaktor neben der menschlichen Arbeit“ anerkannt und somit die „uneingeschränkte Gültigkeit seiner Arbeitswerttheorie“ in Frage gestellt. (Carl-Erich Vollgraf: Marx über die sukzessive Untergrabung des Stoffwechsels der Gesellschaft bei entfalteter kapitalistischer Massenproduktion. In: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge 2014/15. Hamburg 2016. S. 106-132, hier: S. 129.) Vollgraf zieht zum Beleg u. a. Marx’ gegen den Arbeitsfetisch der deutschen Sozialdemokratie gerichtete Formulierung in der Kritik des Gothaer Programms heran: „Die Arbeit ist nicht die Quelle allen Reichtums. Die Natur ist ebenso sehr die Quelle der Gebrauchswerthe (und aus solchen besteht doch wohl der sachliche Reichtum?) [...]“ (MEGA I/25. S. 9). Doch Marx ist hier vollkommen konsistent hinsichtlich seiner Unterscheidung zwischen dem Wert als der Form kapitalistischen Reichtums (von der abstrakten Arbeit geschaffen) und sachlichem, konkretem oder stofflichem Reichtum (von der konkreten Arbeit und der Natur in Form von z. B. Luft, Wasser, Boden, Rohstoffen geschaffen). Das Kapital versagt darin, das gesellschaftliche Mehrprodukt anders als in der Wertform und die Natur anders denn als kostenlose Geschenkgabe aufzufassen und in seine Wertrechnung einzubeziehen. Hätte Vollgraf Recht, träfe für Marx zu, was dieser einst über John Ramsay MacCullochs Satz „In seinem Naturzustand ist der Stoff stets von Wert entblößt“ notierte: „Man sieht, wie hoch selbst ein MacCulloch über dem Fetischismus deutscher ‚Denker‘ steht, die ‚den Stoff‘ und noch ein halbes Dutzend anderer Allotria für Elemente des Werths erklären“. (Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie. Erstes Heft. In: MEGA II/2. S. 114.) 10 Siehe auch Kurt Jacobs: Landwirtschaft und Ökologie im „Kapital“. In: PROKLA. Jg. 27. 1997. H. 3. S. 433-450. 11 Marx: Das Kapital. Bd. 1. MEGA II/6. S. 477. 12 Siehe dazu auch Kohei Saito: Marx’ Fraas-Exzerpt und der neue Horizont des Stoffwechsels. In: Marx-Engels-Jahrbuch 2014. S. 117-140. 13 Siehe Marx an Engels, 25. März 1868. In: MEW. Bd. 32. S. 52/53. 14 Ebenda. S. 52. 15 Marx an Engels, 25. März 1868. In: MEW. Bd. 32. S. 53. 16 Marx an Engels, 14. August 1851. In: MEGA III/4. S. 183. 17 Wie das Beispiel Dühring zeigt, ist selbstredend sogar eine regressive Verarbeitung dieses Widerspruchs möglich. Bereits Ernst Moritz Arndt hatte aus völkischer Erwägung die Naturzerstörung abgelehnt, da er annahm, dass sich mit dem Klimawandel durch Entwaldung auch der deutsche „Volkscharakter“ ändern würde. Siehe Engelhard Weigl: Wald und Klima: Ein Mythos aus dem 19. Jahrhundert. In: Humboldt im Netz. Bd. 5. 2004. Nr. 9. 18 Vielleicht könnte eine zukünftige Untersuchung klären, ob etwa die Bodenerschöpfung ‚nur‘ die Erscheinungsform der Stoffwechselstörung im 19. Jahrhundert ist, oder ob dieses Problem schlummert und noch immer nicht gelöst wurde. Für ersteres würde sprechen, dass sich der ökologische Bruch noch verschärft hat, denn heute sind nicht nur die Menschen, sondern wegen der Massentierhaltung auf weiten Teilen des Planeten auch die Tiere vom Boden getrennt, was den Druck zur Anwendung von Dünger nur erhöht hat. Allerdings ist seit der Anwendung des Haber-Bosch-Verfahrens (Bindung von Stickstoff aus der Luft zur Herstellung künstlichen Düngers) eine anscheinend unerschöpfliche Düngerproduktion in Gang gesetzt worden, mit der bislang eine weitreichende Bodenerschöpfung vermieden werden konnte. Dafür macht der Begriff „Überdüngung“ die Runde und ferner die Düngerproduktion heute den größten Anteil des Energiebedarfs in der Landwirtschaft aus, was also den CO2-Ausstoß der Agrarindustrie massiv erhöht hat. Somit wäre die Bodenkrise verschoben worden. 19 Siehe Claus-Peter Ortlieb: Ein Widerspruch zwischen Stoff und Form. In: EXIT! 2009. H. 6. S. 23-54; Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft (Fn. 4). S. 469-472. 20 Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der kommunistischen Partei. In: MEW. Bd. 4. S. 467. 21 Marx, Engels: Deutsche Ideologie. MEGA I/5. S. 88. 22 Siehe Karl Marx: Exzerptheft 1865/66. In: IISG, Marx-Engels-Nachlass, Sign. B 98. S. 344: „Die Mähemaschine ersetzt die Arbeit v. 30 Taglöhnern.“ 23 „In der Sphäre der Agrikultur wirkt die große Industrie insofern am revolutionärsten, als sie das Bollwerk der alten Gesellschaft vernichtet, den ‚Bauer‘, und ihm den Lohnarbeiter unterschiebt. [...] An die Stelle des gewohnheitsfaulsten und irrationellsten Betriebs tritt bewußte, technologische Anwendung der Wissenschaft. Die Zerreißung des ursprünglichen Familienbandes von Agrikultur und Manufaktur, welches die kindlich unentwickelte Gestalt beider umschlang, wird durch die kapitalistische Produktionsweise vollendet. Sie schafft aber zugleich die materiellen Voraussetzungen einer neuen, höheren Synthese, des Vereins von Agrikultur und Industrie, auf Grundlage ihrer gegensätzlich ausgearbeiteten Gestalten.“ (Marx: Das Kapital. Bd. 1. MEGA II/6. S. 476.) 24 „Mit dem stets wachsenden Uebergewicht der städtischen Bevölkerung, die sie in großen Centren zusammenhäuft, häuft die kapitalistische Produktion einerseits die geschichtliche Bewegungskraft der Gesellschaft, stört sie andrerseits den Stoffwechsel zwischen Mensch und Erde, d. h. die Rückkehr der vom Menschen in der Form von Nahrungs- und Kleidungsmitteln vernutzten Bodenbestandtheile zum Boden, also die ewige Naturbedingung dauernder Bodenfruchtbarkeit. Sie zerstört damit zugleich die physische Gesundheit der Stadtarbeiter und das geistige Leben der Landarbeiter.“ (Ebenda.) 25 Ebenda. S. 419. 26 Marx: Das Kapital. Bd. 1. MEGA II/6. S. 104/105. |