Zuerst erschienen auf: konicz.info (17.7.2022)
Russischer Sieg im Wirtschaftskrieg?Die Invasion der Ukraine ist für den Kreml ein militärisches Desaster. Beim ökonomischen Kräftemessen scheint Russland aber – vorerst – am längeren Hebel zu sitzen.Tomasz KoniczIn den ersten Wochen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine, als der Größenwahn des Kreml zum demütigenden russischen Rückzug vor Kiew und in der nördlichen Ukraine führte, schien diese militärische Niederlage von einem ökonomischen Desaster in Russland begleitet zu werden. Die historisch beispiellosen Sanktionen, die der Westen in Reaktion auf die Invasion verhängte, ließen in ihren ersten Schockwellen die Wirtschaft und die Währung Russlands abstürzen. Die westliche Häme über die militärische Impotenz des putinschen Imperialismus war begleitet von dem Spott über den Wertverlust des Rubel, der von einem Dollarkurs von 75 Rubel am Beginn des Angriffskrieges kurzfristig auf 135 Rubel abstürzte. Russlands ineffiziente, archaische und hochkorrupte Militärmaschine steckt zwar immer noch im Osten der Ukraine fest, sodass der Kreml die mühselige Eroberung des Oblast Lugansk als militärischen Sieg feiern muss, doch auf dem ökonomischen Schlachtfeld hat sich das Blatt – vorerst – gewendet. Der Rubel, der schon im Mai den Vorkriegskurs gegenüber dem Dollar wieder erreichte, wird nun bei 58 Rubel pro Greenback gehandelt. Die russische Währung ist nach einem knappen halben Jahr Krieg mehr wert als vor dem Überfall auf die Ukraine. Gegenüber dem Euro wird dieser Aufstieg des Rubel, der die ökonomische Stabilisierung Russlands spiegelt, noch deutlicher: Anfang Februar mussten rund 86 Rubel für einen Euro aufgewendet werden, nun sind es nur noch 58 Rubel. Eins der wichtigsten Ziele der westlichen Sanktionsstrategie, durch eine Währungsabwertung, die mit Inflationsschüben und Wohlstandsverlusten einhergeht, die russische „Heimatfront“ politisch zu destabilisieren, ist somit – bislang – gescheitert. Nicht nur das: Nun ist es die überschuldete und von Energieimporten abhängige Eurozone, die unter der Währungsabwertung leidet, während die explodierenden Preise für Rohstoffe und fossile Energieträger dem europäischen Währungsraum ein sattes Außenhandelsdefizit von 31,7 Milliarden Euro verschaffen.1 Je weiter der Euro fällt, der schon die Parität zu Dollar erreicht hat,2 desto teurer werden die Importe von Rohstoffen und Energieträgern. Der Wind hat sich somit gedreht. Es ist nun die Eurozone, die um ihre Stabilität bangen muss, da der abschmierende Euro und die hohe Inflation zu vermehrten politischen Spannungen in dem Währungsraum führen. Die Rückkehr einer Eurokrise scheint wahrscheinlich, da die wirtschaftspolitischen Interessen zwischen deutschem Zentrum und südlicher Peripherie verstärkt in Konflikt geraten. Eurozone als „schwächstes Glied“ im WirtschaftskriegDas jahrelang kriselnde Italien3 ist bei einer EU-weiten Inflationsrate von mehr als acht Prozent4 mit rund 150 Prozent seiner Wirtschaftsleistung5 verschuldet, sodass alle von Berlin geforderten Zinsanhebungen der Europäischen Notenbank (EZB), die der Inflationsbekämpfung dienen sollen, diese Schuldenlast südlich der Alpen schnell untragbar machen würden. Deswegen zeichnen sich die angedeuteten Konflikte um die Krisenpolitik zwischen Deutschland und der südlichen Peripherie ab, bei denen Berlin sich gegen die Fortsetzung der expansiven Geldpolitik stellt und Hilfsprogramme für europäische Krisenländer an politische Konditionen – etwa Austeritätsprogramme – knüpft.6 Die überschuldete und von ökonomischen Ungleichgewichten geplagte Eurozone, in der auch die dominierende deutsche Exportindustrie verstärkt unter Versorgungsengpässen und Protektionismus leidet, kann somit als das „schwächste Glied“ des Westens beim Wirtschaftskrieg mit Russland betrachtet werden. Selbst die BRD muss aufgrund der steigenden Zinsen mit einer Verdreifachung der Kosten für den Schuldendienst rechnen.7 Der Wirtschaftskrieg hat somit – vermittels der sanktionsbedingten Preisexplosion bei fossilen Energieträgern – die ohnehin gegebene inflationäre Dynamik8 im Westen verstärkt. Die raschen Zinserhöhungen, die nun die US-Notenbank Fed zwecks Inflationsbekämpfung umsetzt,9 machen Finanzmarktkrisen und eine Rezession in den USA und Europa10 sowie Wirtschaftseinbrüche und Schuldenkrisen in der Peripherie des Weltsystems in diesem oder im kommenden Jahr wahrscheinlich (Näheres hierzu in der kommenden Konkret 08/2022). Russlands Überschuss und KonjunktureinbruchDer Kreml, dessen Militärmaschine sich in der Ukraine blamiert, hat schlicht den letzten guten strategischen Zeitpunkt für seinen Krieg gewählt. Der Westen, insbesondere das „deutsche“ Europa, hat den ohnehin halbherzigen, oft durch Lobbyarbeit sabotierten11 Versuch des Ausstiegs aus fossiler Energie gerade erst eingeleitet, er ist immer noch in hohem Maß von diesen Energieträgern abhängig, was Russland nun im Wirtschaftskrieg Vorteile verschafft – der finanzielle Fallout der Sanktionen trifft somit die westlichen Zentrumsländer stärker als Russland. Dies ist keine Übertreibung. Die Sanktionen, die sich im Westen in zunehmenden Defiziten und einer Beschleunigung der inflationären Dynamik manifestieren, führten beim Rohstoffexporteur Russland, das sich neue Absatzmärkte erschließen konnte, zu satten Überschüssen. Der Leistungsbilanzüberschuss (er erfasst Warenverkehr, Dienstleistungen und Geldüberweisungen) der Russischen Föderation erreichte im zweiten Quartal dieses Jahres einen Rekordwert von mehr als 70 Milliarden US-Dollar, da die steigenden Exporteinnahmen für russisches Gas, Öl oder Kohle mit dem sanktionsbedingten Einbruch bei den Importen westlicher Hightech- oder Konsumgüter einhergingen.12 Der Haushaltsüberschuss Moskaus soll sich im ersten Halbjahr 2022 auf mehr als 20 Milliarden Euro summiert haben,13 was hauptsächlich durch die Exporteinnahmen aus dem Verkauf von Öl und Gas ermöglicht wurde – sie erreichten im ersten Halbjahr mit umgerechnet 100 Milliarden Euro rund 66 Prozent des prognostizierten Jahresvolumens. Die westlichen Sanktionen scheinen hingegen zumindest bei der Konjunkturentwicklung ihre intendierte Wirkung zu haben. Russlands Rezession soll aktuellen Prognosen zufolge mit 10,4 Prozent14 weitaus schwerer ausfallen, als anfänglich angenommen (minus 7,1 Prozent). Es gilt trotz aller Rezessionsängste als sicher, dass weder die USA noch die EU einen ähnlich tiefen Wirtschaftseinbruch in diesem Jahr erfahren werden. Ähnlich verhält es sich bei der Teuerungsrate. Die Inflation in der Russischen Föderation wird demnach in diesem Jahr mit 14,4 Prozent zweistellig ausfallen, was ebenfalls deutlich höher ist als in den USA und der EU, die ihren Preisauftrieb unter der Zehn-Prozent-Marke halten dürften.15 Und dennoch können diese nackten Zahlen auch trügen, da sie nicht einfach zu einem proportionalen politischen und sozialen Fallout führen. Das autoritär regierte Russland, ein von Rohstoffexporten lebendes Land der Semiperipherie, könnte den Wirtschaftskrieg trotz stärkeren Wirtschaftseinbruchs und höherer Inflation letztendlich gewinnen. Das Ziel des Wirtschaftskrieges, der den imperialistischen Krieg in der Ukraine begleitet, besteht darin, durch sozioökonomische Verwerfungen die „Heimatfront“ des Gegners ins Wanken zu bringen und diesen hierdurch zur Kapitulation zu zwingen. Wirtschaftskrieg und KriseHier aber scheint die Russische Föderation eine Reihe von Vorteilen aufzuweisen, die den Kreml in die Lage versetzen, eine weitaus schwierigere Wirtschaftslage politisch zu überstehen, als es im Westen der Fall ist. Zum einen ist es schlicht der postdemokratische, ins offen Diktatorische tendierende Charakter des russischen Staates. Die Repressionsmöglichkeiten sind in Russland, wo allein schon die Kritik an der russischen Invasion der Ukraine mehrjährige Haftstrafen nach sich ziehen kann, viel weitreichender als im Westen, wo ja noch – zumeist rasch erodierende, aber in ihrer Substanz noch weitgehend gültige – demokratische Standards wie Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit bestehen. Diese autoritäre Verfasstheit Russlands oder Weißrusslands macht angesichts der zunehmenden sozialen und ökologischen Krise des Kapitals diese Gesellschaften gerade nicht zu Auslaufmodellen, sondern zu kapitalistischen Zukunftsmodellen. Der weißrussische Staatschef Lukaschenko ist nicht Europas „letzter Diktator“, wie er in der europäischen Presse gerne tituliert wird. Im Gegenteil: Lukaschenko ist Europas erster Diktator, er bildet die Vorhut der autoritären kapitalistischen Krisenverwaltung, in die sich inzwischen auch „westorientierte“ Länder wie Ungarn oder Polen einreihen können. Die blanke, schrankenlose Staatsgewalt verschafft Moskau in manifesten Krisensituationen Vorteile, die der Westen – noch16 – nicht hat, wie es zuletzt bei der Niederschlagung der Aufstände in Belarus und Kasachstan evident wurde. Zudem sind im gesamten postsowjetischen Raum – abgeschwächt auch in der östlichen Peripherie der EU – noch historische und kulturelle Momente wirksam, die stabilisierend wirken und im Westen schlicht nicht gegeben sind. Die Erinnerung an die chaotische und insbesondere in Russland katastrophal verlaufende Systemtransformation in den 1990ern ist noch lebendig, sodass die aktuelle Krise in einem ganz anderen zeitgeschichtlichen Kontext wahrgenommen wird als in den westlichen Zentren des Weltsystems, wo es seit mehr als einem halben Jahrhundert keine vergleichbaren Erschütterungen des gesellschaftlichen Gefüges gegeben hat. Während die Bevölkerung des Westens das Gefühl hat, ihr falle aufgrund galoppierender Inflation und drohender Energiekrise der Himmel auf den Kopf, ist man sich im Osten sicher, dass es schon mal viel schlimmer war. Mehr noch: Putin kann die Erinnerung an den Zusammenbruch der Sowjetunion, vor allem in der älteren Generation, beim Machterhalt instrumentalisieren, da er sich als „Ordnungsfaktor“ präsentiert, der den Absturz ins Krisenchaos verhindert, das nach russischer Staatsideologie immer vom Westen ausgeht. Zudem sind im postsowjetischen Raum subsistenzwirtschaftliche Krisenstrategien, wie die Datschenwirtschaft, noch lebendig, die im Westen aufgrund der vollständigen inneren Kolonisierung der Zentrumsgesellschaften durch das Kapital im Fordismus verschütt gegangen sind. Mitunter sind in der EU und den USA schlicht die praktischen Voraussetzungen nicht gegeben, um durch Selbstanbau von Lebensmitteln, Verkauf auf informellen Märkten und Holzsammeln im Wald über die Runden zu kommen, wie es im Russland der 1990er Jahre oft der Fall war. Russische Lohnabhängige sind weitaus häufiger in der Lage, ihrer Lohnabhängigkeit durch ein Ausweichen in diesen informellen Sektor zu entkommen als ihre westlichen Klassengenossen. Keine Sieger im KrisenimperialismusUnd dennoch ist es unwahrscheinlich, dass dieser Wirtschaftskrieg von Russland gewonnen werden kann – oder überhaupt noch „Sieger“ haben wird. Zum einen ist die Wechselwirkung zwischen Kriegsgeschehen und der Lage an der „Heimatfront“ in Russland sehr viel stärker ausgeprägt als im Westen. Strategische Rückschläge an der Front in der Ukraine können schnell die noch bestehende Unterstützung des Angriffskrieges erodieren lassen, vor allem angesichts der Verluste der russischen Armee. Doch entscheidend ist der Umstand, dass Putin keine allgemeine Mobilmachung anordnen kann, um mit einer ähnlichen Mannstärke wie die ukrainische Armee die Invasion rasch voranzutreiben. Die wichtigste Herrschaftsvoraussetzung des nicht-totalitären Autoritarismus besteht nämlich darin, die Apathie und Entsolidarisierung in der Bevölkerung aufrecht zu erhalten, die sich in ihrer Mehrheit mit der diktatorischen Macht irgendwie opportunistisch arrangiert, ihre Nischen sucht, sich nur um das eigene Fortkommen schert, etc.. Eine allgemeine Mobilmachung würde der Bevölkerung diese Option nehmen wegzuschauen, einfach untätig zu bleiben und weiterhin in politischer Apathie zu verharren. Wenn das eigene Leben in einem imperialistischen Eroberungskrieg auf dem Spiel steht, dann werden die Betroffenen automatisch wachgerüttelt. Der Kreml müsste eigentlich angesichts der militärischen Unfähigkeit der russischen Armee die allgemeine Mobilmachung anordnen – und zugleich kann er es nicht, will er das Aufkommen einer breiten Protestbewegung, die sich auch nicht mehr so einfach niederknüppeln lässt, verhindern. Schließlich kann der militärische wie auch ökonomische Krieg zwischen Russland und dem Westen nicht ohne den tiefgreifenden sozialen und ökologischen Krisenprozess begriffen werden, in dem das spätkapitalistische Weltsystem versinkt. In dieser Hinsicht handelt es sich um einen Krisenimperialismus, der in der Ukraine in sein blutiges, mörderisches Stadium eingetreten ist.17 Die ökonomische Krise bildete nicht nur den entscheidenden Faktor, der zum Kriegsausbruch beitrug,18 sie wird auch durch den Wirtschaftskrieg exekutiert. Die zunehmenden Auseinandersetzungen und Machtkämpfe der Staatsmonster, die die Ukraine in ein imperialistisches Schlachtfeld verwandelten, lassen die Verlierer dieses krisenimperialsitischen „Great Game“ sozial und ökonomisch absteigen, sie werden vom Krisenprozess voll erfasst. Eigentlich, mittelfristig betrachtet, gibt es beim Krisenimperialismus keine Sieger. Die „Sieger“ steigen nur langsamer ab. Diese zuvor hauptsächlich ökonomisch und politisch geführten Machtkämpfe gehen mit zunehmender Krisenintensität in militärische Auseinandersetzungen über. Somit fungiert der Krieg um die Ukraine auf systemischer Ebene, objektiv betrachtet, als ein Krisenbeschleuniger,19 der schon gegebene Krisenprozesse zusätzlich dynamisiert. So unausweichlich der Spätkapitalismus an seinen inneren und äußeren Schranken zerbricht – der Verlauf der Krise ist aber nicht in Stein gemeißelt. Die anstehende Entwertung des Werts kann die Form einer Inflation oder Deflation annehmen. Im Fall einer Deflation, eines durch Zinserhöhungen, Rezession und Nachfrageeinbruch ausgelösten Preisrückgangs, würde sich auch das Kriegsglück Russlands sehr schnell wenden.
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