Zuerst erschienen 2017 in exit! Nr. 14.
Business as Usual - Vom fortlaufenden Wahnsinn der kapitalistischen ProduktionsweiseThomas MeyerEs ist erfreulich, wenn der reale Wahnsinn des Kapitalismus bei der allgemeinen Analyse und speziell bezüglich der Krise seit 2007/2008 tatsächlich zur Kenntnis genommen und davon ausgehend eine Kritik an demselben formuliert wird. Dies wird versucht von Paul Mattick Jr.1 in seinem 2011 geschriebenen und 2012 ins Deutsche übersetzten Buch ,,Business as Usual - The Economic Crisis and the Failure of Capitalism"2. In diesem Buch umreißt Mattick die Geschichte der Wirtschaftskrisen und plädiert für eine konkret historische Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus. In der Regel werden Krisen aber weder wirklich erklärt noch verstanden, da man nicht in der Lage ist, sie auf die Binnengeschichte und auf die Verwertungslogik des Kapitalismus zu beziehen. Das liegt oftmals daran, dass der Kapitalismus ohnehin als natürlich empfunden wird, und folgerichtig wird gar nicht in Erwägung gezogen, ihn historisch zu betrachten. Der Kapitalismus als Zumutung und KriseDie Situation ist bekannt: Mit dem Platzen der Immobilienblase 2007/2008 begann die sog. Finanzkrise. Die meisten Kommentare waren sich einig in ihrem tatsächlichen Unverständnis des Kapitalismus. Zu Recht wurde dem wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream, meist neoklassischer Provenienz3, vorgeworfen, er könne weder einigermaßen verlässliche Prognosen formulieren, noch habe er plausible Erklärungen für die aktuelle wirtschaftliche Situation. Kritiker des Neoliberalismus, der Deregulierung usw. auf der anderen Seite waren aber ähnlich geschichtsblind, wie der Keynesianer Paul Krugman, da er sich nicht ,,mit den Gründen dafür [beschäftigte], dass die keynesianische Theorie in den 1970iger Jahren in Verruf geraten war" (25). Ein grundsätzliches Problem liegt nach Mattick ,,[...] an der vorherrschenden Herangehensweise an gegenwärtige ökonomische Fragen. Ein Teil des Problems besteht darin, mit welchen Begriffen versucht wird, das Gesellschaftssystem zu verstehen, in dem wir leben" (30). Um die jetzige Krise zu verstehen, so Mattick, muss man die Geschichte des Kapitalismus und seine historische Dynamik in Augenschein nehmen. Insbesondere sollte man zur Kenntnis nehmen, welcher Art die Krisen im Kapitalismus tatsächlich sind, im Unterschied etwa zu Hungerkrisen vormoderner Gesellschaften: ,,Doch als die zunehmend vom Geld bestimmte Wirtschaft in die industrielle Revolution mündete und sich der Kapitalismus auf so große Gebiete erstreckte, dass er zum dominierenden sozialen System wurde, entstand ein neues Phänomen: Krisen des Gesellschaftssystems als Ganzem. Natürlich hatten vielfältige Störfaktoren wie Krieg, Pest und Missernten auch schon vorher die gesellschaftliche Produktion beeinträchtigt. Die Durchsetzung des Kapitalismus brachte jedoch etwas Neues mit sich: Trotz guter Ernten und Bergen von Nahrungsmitteln kam es zu Hungersnöten [...]. Solche Zusammenbrüche hatten nun keine natürlichen oder politischen Ursachen mehr, sondern gingen auf spezifische wirtschaftliche Faktoren zurück: Es fehlte an Geld, um die benötigten Güter zu kaufen, die Profite waren zu niedrig, als dass sich Investitionen in die Produktion gelohnt hätten" (35, Hervorh. i. O.). Sofern diese Tatsachen überhaupt zur Kenntnis genommen werden, war es seit jeher so, dass bürgerliche Ökonomen die Ursachen für Krisen in außerökonomischen oder außergesellschaftlichen Faktoren suchten, wie William Stanley Jevons, ,,der sich seit 1875 hartnäckig darum bemühte, eine Korrelation zwischen den wirtschaftlichen Auf- und Abschwüngen und dem Sonnenfleckenzyklus zu beweisen [...]." Ganz anders dagegen Marx: ,,Marx argumentierte, dass das Wesen des Kapitalismus eine Tendenz zur Krise zeitige, die sich in beständig wiederkehrenden Depressionen realisiere und schließlich zum Untergang des System führen werde. Seine Herangehensweise unterschied sich jedoch so grundlegend von den üblichen Wirtschaftstheorien, dass andere Theoretiker, die sich mit dem Thema befassten - einschließlich der Mehrzahl derer, die sich selbst als Marxisten bezeichneten -, Schwierigkeiten hatten, seine Gedanken auch nur zu verstehen, geschweige denn, dass sie ihnen brauchbar erschienen wären" (38f.). Einigen bürgerlichen Ökonomen gelang es aber dennoch, das eigentlich Offensichtliche zu erkennen, wie z. B. Wesley Mitchell (1874-1948) in seinem Buch über den Konjunkturzyklus von 1927, in dem er schrieb: ,,Nicht was ein Unternehmen herstellt, sondern was es daran verdient, ist sein geschäftlicher Zweck. [...] Der Geschäftsgang wird in einer Geldwirtschaft von den gegenwärtigen und voraussichtlichen Gewinnen bestimmt" (43). Mattick konstatiert, dass es doch recht verblüffend ist, dass diese Erkenntnis den meisten Ökonomen bis heute entgeht. Mitchell kann allerdings keine theoretische Erklärung für schwankende Profitabilität liefern. Ebenso wenig stellt er sich u.a. die Frage, was Geld eigentlich ist: ,,Das sind Fragen, die zu stellen selbst einem historisch orientierten Ökonomen wie Mitchell nicht in den Sinn kam, weil ihm die Existenz von Geld ganz selbstverständlich erschien [...]. Sie dem Bürger einer kapitalistischen Gesellschaft zu stellen, ist so, als hätte man einen Bewohner des alten Ägypten gefragt, warum der Wasserstand des Nil und somit Wachstum und Rückgang der landwirtschaftlichen Erträge von Osiris bestimmt werden. Sie zu beantworten, erfordert ausreichende geistige Distanz zu den gesellschaftlichen Konventionen [...], um Geld und somit auch Profit als historisch eigentümliche gesellschaftliche Einrichtungen zu verstehen, die bestimmte Konsequenzen für unsere Art zu leben haben" (48f.). Arbeit, d. h. der Mensch reduziert auf einen Arbeitskraftbehälter, das bürgerliche Geschlechterverhältnis, d. h. die doppelte Idiotie von Küche und Karriere, und ein Denken, das vor allem in seiner Praxis alle Welt nur als Substrat für die Wertverwertung anerkennen kann, wären noch hinzuzufügen. Darüber hinaus wird vergessen, dass die meisten Menschen ,, [...] in großen Teilen der Welt sogar noch in der allerjüngsten Vergangenheit - nur selten oder gar nicht auf Geld angewiesen waren [...], dass Geld zwar in vielen Arten von Gesellschaften vorkommt, aber nur im Kapitalismus eine so zentrale Rolle für Produktion und Verteilung spielt [...]. In einem solchen System hat Geld eine andere soziale Bedeutung als in früheren Gesellschaften. [...] Im Kapitalismus findet diese Verteilung statt, indem sich herausstellt, welche Produkte in welchen Mengen verkäuflich sind - und nicht über einen gesellschaftlichen Entscheidungsprozess darüber, was produziert werden sollte" (50f.)4. Mattick stellt fest, dass Krisen mit der Verwertungsdynamik des Kapitalismus zu tun haben: Einerseits gilt es ein Maximum an ,,Profitabilität" zu erlangen - denn das Verdienen von Geld ist das treibende Moment der kapitalistischen Produktion - anderseits gilt es, um sich in der Konkurrenz durchzusetzen, die Kosten zu verringern, etwa durch Steigerung der Arbeitsproduktivität: indem der Anteil der eingesetzten Arbeit relativ zu den von ihr produzierten Mengen reduziert wird. Das hat allgemein zur Folge, dass die Kosten für die Produktionsmittel relativ zu denen der Löhne ansteigen, so dass die Einzelware verbilligt wird. Es äußert sich in gesättigten Märkten, zurückgehenden Investitionen in Produktionsmittel usw. und steigender Arbeitslosigkeit (59f.). Die Misere erscheint als ein Mangel an Nachfrage. Genau an dieser Stelle setzt der Keynesianismus an. Die Idee war, dass der Staat durch Kredit Nachfrage generiert (z. B. durch Infrastrukturgroßprojekte5), um so die Verwertungsdynamik neu zu befeuern, damit die Depression zu überwinden und schließlich die Schulden durch vermehrte Steuereinnahmen zu tilgen. Keynes Modell schien erfolgreich zu sein, die Depression wurde überwunden (nicht zuletzt durch den zweiten Weltkrieg, 86f.) und Teile der Menschheit durften dann durch ein Wirtschaftswunder (das ,,goldene Zeitalter" wie Mattick es nennt) beglückt werden. Trotzdem wurden die keynesianischen Methoden nach der eigentlichen Depression fortgeführt. Das Wirtschaftswunder war daher kaum ein selbsttragendes: ,,In Wirklichkeit verwandelte sich das Krisenmanagement in ein permanentes staatlich-privates ,gemischtes Wirtschaftssystem', weit entfernt von einer Tilgung, stiegen die Staatsschulden ab Mitte der 1970iger Jahre in allen kapitalistisch entwickelten Ländern, sowohl absolut als auch im Verhältnis zum BIP [...] Als Reagan aus dem Amt schied, hatten sich die Staatsschulden von 900 Milliarden auf 2,8 Billionen Dollar verdreifacht [...]. 1930 beliefen sich die Schulden der US-Regierung auf 16 Milliarden Dollar; heute sind es 12,5 Billionen und sie wachsen weiter" (69, 91-93).6 Mattick beschreibt ebenfalls die Genese des finanzgetriebenen Kapitalismus: ,,Das Nachlassen produktiver Investition bedeutete, dass mehr und mehr Geld für andere Zwecke verfügbar wurde. [...] Diese ,massive Verschiebung zu einer spekulativen Verwendung von Liquidität [...] drückte sich in einem starken Drängen auf gesetzliche Deregulierung aus?. Die Deregulierung war somit eine Reaktion auf den Spekulationsdruck: sie erleichterte riskante Geschäfte zwar, war aber nicht die Ursache der zunehmenden Spekulation. Ebenso ist es doppelt albern, wenn die Zunahme kreditfinanzierter Unternehmenskäufe und anderer Spekulationsformen als Folge von Gier erklärt wird, wie es heute oft geschieht: Nicht nur bleibt dabei ungeklärt, wieso die Gier in den letzten Jahrzehnten plötzlich zugenommen hat, es wird auch das Grundmotiv kapitalistischer Investitionsentscheidungen ausgeblendet" (75 f.). Mattick stellt weiterhin heraus, dass die Finanzkrise von 2007/2008 auf keinen Fall isoliert von der Krise seit den 70er Jahren und ihrer Ursache in der Verwertungslogik betrachtet werden darf; auch nicht die kleineren Krisen seit den 1980er Jahren. Vielmehr ist die heutige Situation ,,Ausdruck jener Depression, die sich Mitte der 1970er Jahre in dramatischer Weise ankündigte, aber durch staatliche Wirtschaftspolitik seit über dreißig Jahren in Schach gehalten werden konnte - teils durch ihre Verschiebung in ärmere Weltregionen, vor allem aber durch eine historisch beispiellose Verschuldung von Staaten, Unternehmen und Privatpersonen in den reicheren Teil der Welt" (82). Doch was ist nun der fundamentale Unterschied zwischen der derzeitigen Krise und der Depression von 1929, abgesehen von den ins Uferlose gesteigerten Staatsschulden? Leider führt Mattick diesen entscheidenden Gedanken kaum aus. Er erwähnt zwar, dass durch Staatsausgaben ,,dem vorherigen Niedergang der Profitraten zwar entgegengewirkt, er aber nicht überwunden worden war, [daher] überrascht es nicht, dass die Unternehmen die verfügbaren Mittel weniger für den Bau neuer Fabriken verwendeten, um mehr Güter zu produzieren, sondern vor allem aus der existierenden Produktion mehr Profit zu pressen versuchten: Sie investierten in arbeits- und energiesparende Technologien und senkten die Arbeitskosten, indem sie Werke von Hoch- in Niedriglohnländer verlagerten [...] Zu den Ergebnissen dessen zählen der dauerhafte Anstieg der Arbeitslosigkeit in Westeuropa und der Rust Belt in den USA" (73). Das qualitativ Neue, die Krise der Arbeitsgesellschaft, die mikroelektronische Revolution und ihre nach wie vor nicht voll ausgeschöpften Rationalisierungspotentiale werden nicht wirklich klar herausgearbeitet. Sich auf Marx beziehend, stellt Mattick allerdings schon fest, dass die Verwertungsdynamik des Kapitalismus letztendlich zu seinem Untergang führen muss (s. o.), allerdings bezieht er sich hierbei nicht explizit auf das ,,Maschinenfragment" aus den Grundrissen, sondern nur auf den tendenziellen Fall der Profitrate. Eine weitere Ungenauigkeit hinsichtlich der Frage, warum keynesianische Methoden nicht fruchten können, besteht in seiner Feststellung, ,,dass staatlich finanzierte Produktion keinen Profit erzeugt. [...] Die Regierung hat nämlich kein eigenes Geld, sondern bezahlt mit Steuereinnahmen oder geliehenem Geld, das schlussendlich ebenfalls aus Steuermitteln zurückgezahlt werden muss. [...] Staatsausgaben können das Problem der Depression folglich nicht lösen [...]. Die Regierung kann das Problem aufschieben, indem sie Finanz- und andere Unternehmen mit dem zur Aufrechterhaltung ihres Betriebes notwendigen Geld versorgt. Sie kann die von ihm verursachte Not zumindest zeitweilig lindern, indem sie Arbeitslose beschäftigt oder alimentiert, und sie kann Infrastruktur aufbauen, die der zukünftigen profitablen Produktion zugutekommt. [...] Das grundlegende Problem in einer Phase der Depression kann nur durch die Depression selbst gelöst werden [...]. Die Depression kann [...] die Profitraten erhöhen, indem sie die Kosten für Kapitalgüter und Arbeitskraft senkt, durch technologische Neuerungen die Produktivität steigert und den Kapitalbesitz in größeren effizienteren Einheiten konzentriert" (100f.). Dem ist zu entgegnen, dass keynesianische Methoden durchaus greifen und zwar genau dann, wenn sie zu einer Produktion auf erweiterter Stufenleiter führen; wenn es durch staatliche Konzentrations- und Mobilisierungsmaßnahmen zu einer größeren Einsaugung von lebendiger Arbeitskraft kommt, wenn die Verbilligung der Waren zu einer Expansion der Märkte führt, wenn es folglich zu einer Expansion des Gesamtkapitals, zu einer Vergrößerung der gesamtgesellschaftlichen Wertmasse kommt, sei es durch einen Krieg vermittelt oder nicht. Das führt zu höheren Steuereinnahmen, so dass jene Kredite, die ein Vorgriff auf die noch zu erwirtschaftende Zukunft darstellten, dann eben doch bedient werden können. Dass es einigermaßen aufging, liegt bekanntlich an der massiven Expansion der fordistischen Industrien. Warum greifen heute keynesianische Maßnahmen definitiv nicht mehr, obgleich sie zu anderer Zeit doch wirkten? Wie schon angedeutet, griffen diese Methoden in den 70iger Jahren nicht mehr, da die folgende mikroelektronische Revolution nicht zu einer erneuten Mehreinsaugung von lebendiger Arbeitskraft führte und daher der finanzgetriebene Kapitalismus und die neoliberale Ideologie genau deshalb die historische Verlaufsform darstellten, durch die der Kapitalismus, obgleich vollständig geschichtsblind und zunehmend tatsachenresistent, diesen Widerspruch bearbeitete. Dass die Depression durch eine Marktbereinigung (die ja durch Kredite in noch nie dagewesener Höhe abgewendet wurde) lösbar sein könnte, ist nach Mattick für die Gegenwart definitiv falsch. Eine weitere Konzentration des Kapitals, weitere Rationalisierungsmaßnahmen usw., würden die Schwierigkeit der Menschen, als verwertungsfähige Arbeitskraftbehälter fungieren zu können, nur noch vergrößern; ebenso die Masse an Überflüssigen, ,,die sich zu hunderten Millionen in riesigen Slums sammelten" (81f.). Durch seine teilweise doch ungenaue Bestimmung der Krise wirkt Mattick selbst ein wenig ahistorisch, obgleich ihm das Ausmaß an Elend, Mike Davis' Planet der Slums zitierend, durchaus klar ist. Daher verfällt er glücklicherweise auch nicht einem falschen Optimismus, der sich an der Realität vorbeilügt, wie das bei der bürgerlichen Lumpenintelligenz oftmals der Fall ist. Weiterhin schreibt Mattick, im Unterschied zu den vielen anderen, dass China und Indien eben keine Hoffnungsträger für einen restaurierten Kapitalismus darstellen können, denn ,,Chinas Wachstum bleibt [...] eng an das der entwickelten Länder gekoppelt [...]. Indien, wo die Mehrheit der Bevölkerung nach wie vor aus armen ländlichen Arbeitern besteht7, ist noch weiter davon entfernt, eine unabhängige Wirtschaftsmacht darzustellen. Tatsächlich besteht der Außenhandel der indischen wie chinesischen Ökonomie weiterhin zum Großteil in der Wiederausfuhr von End- oder Zwischenprodukten und Dienstleistungen, die multinationale Unternehmen mit Sitz in Europa oder den Vereinigten Staaten herstellen" (110). Was tun?Was tun angesichts millionenfachen Elends, Umweltzerstörung bis hin zum menschengemachten Klimawandel? Welche praktischen Schlussfolgerungen werden von Mattick gezogen? Von den traditionellen Linken, sofern sie nicht ohnehin marginalisiert sind, wäre nach Mattick kaum zu erwarten, dass sie den Horizont des Kapitals überschreiten könnten. Denn die traditionellen Linken (Sozialdemokratie und Realsozialismus) haben definitiv historisch ausgedient, da ,,die traditionelle Arbeitsbewegung nicht Vorbote des Umsturzes des Kapitalismus war, sondern ein Aspekt von dessen Entwicklung, insofern sie durch verhandlungsfähige und kompromissbereite Organisationen die Aufgabe erfüllte, einen neuen Modus gesellschaftlicher Beziehungen zu normalisieren" (122f.) Der Untergang der traditionellen Linken ist aber kein Anlass zur apathischen Hinnahme des kapitalistischen Wahnsinns: denn gerade in der Krise kann der Unterschied zwischen stofflichem und monetärem Reichtum, wie ihn Karl Marx zu umreißen versuchte, für viele offenbar werden, was die Menschen zum Handeln motivieren könnte. Diesen Gedanken skizziert auch Mattick: Das Geld mag entwertet, die Fabriken mögen geschlossen sein, doch der materielle Reichtum ist gewissermaßen dennoch zum Greifen nahe: ,,Während sie gegenwärtig noch auf die versprochene Wiederkehr der Prosperität warten, könnten die Millionen von neuen Obdachlosen, ähnlich wie viele ihrer Vorgänger in den 1930er Jahren, irgendwann auf zwangsversteigerte leerstehende Häuser, unverkäufliche Gebrauchsgüter und staatliche Nahrungsmitteldepots blicken und darin die Dinge erkennen, die sie zum Leben brauchen. Wohnraum, Nahrungsmittel und andere Güter einfach in Beschlag zu nehmen, bricht jedoch mit den Regeln eines Wirtschaftssystems, das auf dem Tausch von Gütern gegen Geld beruht, und verweist dergestalt bereits auf eine vollkommen andere Art von Gesellschaft" (133). Die selbstständige Aneignung der Produktionsmittel mag ein erster Schritt sein, sich den Kapitalismus vom Hals zu schaffen und damit eine andere Form der Gesellschaft zu finden, auch wenn die Menschheit mit den katastrophalen Hinterlassenschaften (Umweltzerstörung usw.) des Kapitalismus noch lange zu kämpfen haben wird: ,,Wie immer man es nennt, es wird damit beginnen müssen, die Trennung zwischen denen, die die Kontrolle über die Produktion ausüben, und denen, die sie durchführen, abzuschaffen und einen sozialen Mechanismus, der auf dem monetären Markttausch (auch des Arbeitsvermögens) beruht, durch irgendeine Art von gesellschaftlicher Entscheidungsfindung zu ersetzen" (137). Allerdings ist hier Mattick zu widersprechen, wenn er schreibt, dass die Produktionsmittel unter der Kontrolle bestimmter Subjekte stehen. Es trifft zwar zu, dass ein anderer als ein kapitalistischer Verwendungszweck für Produktionsmittel und Immobilien usw. nicht vorgesehen ist und dieser daher mit allen Mitteln der Gewalt verteidigt werden wird, wenn die Menschen sich anmaßen würden, sie der kapitalistischen Verwertungsbewegung zu entreißen, wie Mattick es selbst andeutet: ,,Nicht anders als in totalitären Staaten stellen direkte Machtorgane der Bevölkerung in demokratischen Staaten eine Gefahr für die Mächtigen dar, wie begrenzt ihre Ziele auch sein mögen.8 Bedrohungen der Wirtschaftsordnung werden ohne Frage eine Repression auf den Plan rufen, die noch über das Ausmaß von Gewalt hinausgehen wird, mit dem Militär und Polizei in den vergangenen Jahren bereits gegen Demonstranten in Athen, streikende Staatsangestellte in Südafrika, Studenten in London und anderen Städten [...] vorgegangen sind" (135). Dennoch suggeriert diese im Prinzip traditionelle marxistische Formulierung, dass bestimmte Subjekte über die Produktion und ihre Inhalte tatsächlich bestimmend verfügen würden. Die Funktionslogik der Verwertungsdynamik kann nicht auf die Willensbestimmung von Subjekten zurückgeführt werden, was aber nicht heißt, dass niemand für irgendetwas verantwortlich gemacht werden könnte, denn die Imperative des Kapitalismus müssen durch die Subjekte hindurch vermittelt werden, damit sie im Sinne dieser Imperative handeln können (oder vielmehr müssen). Das bedeutet aber nicht, dass die Menschen Subjekt der kapitalistischen Gesamtveranstaltung sind. An dieser Stelle würde eine subjekt- und ideologiekritische Ebene der Kritik ansetzen, die bei Mattick aber fehlt (abgesehen von einer Ideologiekritik der Wirtschaftswissenschaften und diverser Geschichtsbilder). Mit einer bloßen Aneignung wäre es aber noch lange nicht getan: Denn es sind die produktiven (oder vielmehr destruktiven) Hinterlassenschaften des Kapitalismus und insbesondere die betriebswirtschaftliche Form ihrer Umsetzung, die zu kritisieren und folglich nicht schlechthin positiv zu besetzen sind. Es wäre vertane Mühe, sich die kapitalistischen ,Produktivkräfte' nur deshalb anzueignen, um sie dann in Eigenregie einfach weiterzuführen (wie in besetzten Fabriken zu beobachten9). Wenn die Produktionsweise transformiert werden soll, dann gilt das ebenfalls für die Produktionsinhalte, was natürlich mit einschließt, dass bestimmte Produktionsinhalte abgeschafft oder zurückgefahren werden, man denke nur an die Autoindustrie. Als Grundgedanke ist diese Idee im Übrigen gar nicht so neu. Der Anarchist Erich Mühsam beispielsweise schrieb 1932: ,,Die kindliche Vorstellung, mit der Besetzung der Betriebe durch die Arbeiter und ihre einfache Weiterführung unter eigener Leitung werde die Revolution den Übergang zum Sozialismus schon bewerkstelligt haben, ist so unsinnig wie gefährlich. [...] Die Betriebe jeder Art sind unter kapitalistischen Verhältnissen in Einrichtung und Organisation ausschließlich den Gewinnberechnungen der Unternehmer angepasst. Hier spricht keine Rücksicht auf das Verlangen der Menschen mit, keine Rücksicht auf die Erfordernisse der Gerechtigkeit, der Vernunft, auf Leben und Gesundheit von Arbeitern und Verbrauchern. [...] eine Wirtschaft, die viele Millionen ohne Arbeit in buchstäblichem Hunger verelenden läßt und die gleichzeitig wichtige Nahrungsmittel verbrennt, ins Meer schüttet, in den Scheunen verfaulen läßt oder als Dünger verwendet, eine solche Wirtschaft lässt sich nicht einfach übernehmen und weiterführen. Sie muß von Grund auf umgestaltet werden."10 In Zeiten von ,failed states' kommt es ohnehin zu Aneignungen, wenn auch im Sinne einer Plünderungsökonomie. Dass angeeignet wird, so verständlich es aus der jeweiligen Situation möglicherweise auch sein mag, kann aber auch beinhalten, dass die Aneignenden sich als Ethnobande, rassistischer Menschenzuchtverein oder religiöse Terrorsekte usw. verstehen und folglich andere Menschen von ihren Produktionsmitteln (oder den Resten davon) ausschließen und eben dadurch die Konkurrenz mit anderen Mitteln fortsetzen; also Aneignung als bluttriefender Umverteilungsmodus im ,,molekularen Bürgerkrieg" (Enzensberger). Matticks Kapitalismuskritik ist, wie dargestellt, eine nahezu ausschließlich ökonomische; das subjektive Moment wird ausgespart. Er erwähnt zwar, dass in Krisensituationen Menschen durchaus zu spontaner Solidarität fähig sind, was einem ein wenig Hoffnung macht, aber dass sie sich als ebenso fähig erweisen können zu Rassismus, Sexismus, Antisemitismus und Antiziganismus, nicht nur im Kopfe, sondern auch als realisierte Tat, als gefeiertes und beklatschtes Pogrom, wird von ihm nicht weiter thematisiert. Spätestens hier würde es sich rächen, bei einer Kapitalismuskritik die Ebene der Ideologie- und der Subjektkritik auszusparen. Leider belässt es Mattick weitgehend bei den oben zitierten praktischen Schlussfolgerungen, ohne sich dazu weiterführende Gedanken zu machen. Eine Antwort auf Lenins Frage mag zwar heute dringender denn je zu sein, aber sie sollte nicht eingefordert werden durch Verkürzung oder gar Preisgabe theoretischer Reflexion. Paul Mattick: Business as Usual - Krise und Scheitern des Kapitalismus, Hamburg, Edition Nautilus 2012.
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