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Tomasz Konicz: Die Normalisierung der Taliban


Dieser Text bezieht sich auf Aspekte des Buches »Weltordnungskrieg« von 2003. Im Frühjahr 2021 ist eine Neuauflage von »Weltordnungskrieg« mit einem aktuellen Nachwort von Herbert Böttcher bei zu Klampen erschienen: https://zuklampen.de/buecher/sachbuch/philosophie/bk/1039-weltordnungskrieg.html.

Die Normalisierung der Taliban

Die Zentren des Weltsystems entdecken den Islamofaschismus als ein repressives Instrument der Krisenverwaltung in der Peripherie

Tomasz Konicz

Mit den Taliban reden? Frau Merkel kann es nicht schnell genug damit gehen. Während am Kabuler Flughafen panische Menschen, sich an startenden Flugzeugen festklammernd, in den Tod stürzen, während IS-Islamisten bei Selbstmordattentaten Dutzende Flüchtende in die Luft sprengen, erklärte die Kanzlerin die Talibanherrschaft in Afghanistan zu einer neuen Realität, die zwar „bitter“ sei, mit der man sich aber „auseinandersetzen“ müsse. Dies bedeute vor allem, mit den Steinzeitislamisten Gespräche zu führen, „um etwas von dem, was den Menschen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren zugutegekommen ist, bewahren zu können“ (mensch kann nur hoffen, die Kanzlerin meint damit nicht die massenmörderischen deutschen Luftschläge, die etwa einem Oberst Klein Karrierepfade bis zum General offenlegten).1 Die Bundesregierung stelle schon mal 500 Millionen Euro für humanitäre Zwecke bereit, so Merkel. Hierdurch hoffe man, nach der Evakuierung, die in „einigen Tagen“ beendet werde, in Afghanistan „weiter Menschen zu schützen“.2

Im Klartext: Berlin will Gespräche mit den Taliban darüber führen, wie die Afghanen trotz islamistischer Terrorherrschaft weiter in Afghanistan gehalten – Pardon, „geschützt“ – werden können. Denn das war eigentlich die zentrale deutsche Sorge während des Zusammenbruchs der afghanischen Staatsattrappe in den vergangenen Wochen: Die Angst vor neuen Fluchtbewegungen aus dem Zusammenbruchsgebiet Afghanistan, die der Neuen Rechten in der BRD zusätzlichen Auftrieb verschaffen könnte, manifestierte sich gerade in dem Slogan, „2015 darf sich nicht wiederholen“. Und überhaupt: Die New York Times wusste nach einem ersten Interview zu berichten, dass die neuen Taliban kaum noch mit den alten Steinzeitislamisten zu vergleichen seien.3 Das sagten zumindest die Taliban. Deren Sprecher, Zabihullah Mujahid, betonte gar, dass, „langfristig“ betrachtet, Frauen unter den Taliban durchaus „ihre Routinen“ wieder aufnehmen könnten.

Immerhin scheint die Öffentlichkeitsarbeit der Taliban tatsächlich modernisiert worden zu sein, da Herr Mujahid genau zu wissen schien, was seine westlichen Interviewpartner zu hören wünschen. Trotz der „angespannten Situation“ am Flughafen hofften die Taliban, gute Beziehungen zur „internationalen Gemeinschaft“ aufbauen zu können. Als potenzielle Kooperationsfelder benannte der Taliban-Sprecher den Kampf gegen den Terror (an die Stelle von Al Qaida rücke inzwischen der Islamische Staat), die Ausrottung der Opiumproduktion in Afghanistan, die eine der wichtigsten Einnahmequellen der Taliban darstellt, sowie die „Reduktion der Flüchtlinge“, die in den Westen wollten. Die Taliban bieten sich somit dem Westen faktisch als „Ordnungsfaktor“, als Gefängniswärter einer sozioökonomischen Zusammenbruchregion an, die – ähnlich der poststaatlichen Region Libyen – eigentlich nur noch gewohnheitshalber den Namen Afghanistan trägt. Der Taliban-Sprecher sei bemüht gewesen, das Bild einer eher „toleranten“ Islamistenbewegung zu zeichnen, die mit ihrer Vergangenheit gebrochen habe, so die New York Times. Dafür müsste der Westen schon noch die Eigenheiten des talibanischen Extremismus tolerieren, wie etwa das Verbot von Musik, das Herr Mujahid ausdrücklich bestätigte – oder die Berichte über Frauen, die bei lebendigem Leib von Taliban angezündet wurden, weil ihnen ihr Essen nicht zusagte.4

Die Idee, dem islamischen Extremismus eine führende Rolle bei der Flüchtlingsabwehr zukommen zulassen, den entsprechenden Diktaturen, Milizen und Rackets gewissermaßen die Rolle des KZ-Wärters auf ökonomisch verbrannter Erde zu überlassen und diese gewissermaßen in Freiluftgefängnisse zu verwandeln, ist nicht ganz neu. In Berlin ist sie seit eben jener Flüchtlingskrise von 2015, die sich um keinen Preis wiederholen dürfe, Maxime der Politik gegenüber der Türkei Erdogans. Berlin zahlt immer wieder Milliardenbeträge an das Erdogan-Regime, damit an den Grenzen der EU Ruhe herrscht. Der türkische Islamofaschismus – ohnehin krisenbedingt unter verstärkten sozioökonomischen Druck – expandierte in den nordsyrischen Bürgerkriegs- und Zusammenbruchsgebieten, wo türkisch finanzierte Islamistenmilizen eine von permanenten Auseinandersetzungen geprägte Bandenherrschaft errichten konnten. Syrische Bürgerkriegsflüchtlinge, die sich immer häufiger Pogromen in der Türkei ausgesetzt sehen, sollen perspektivisch dorthin verfrachtet werden (Die Al Qaida im türkisch kontrollierten Idlib feierte den Sieg der Taliban mit einem Autokorso).5

Der Krieg des Islamismus, der faktisch eine postmoderne Krisenideologie darstellt6, richtet sich zuallererst gegen progressive Gegenentwürfe. Die Aggressionen der türkisch-islamistischen Soldateska gegen Rojava, gegen die Selbstverwaltung in Nordsyrien, dienten nicht nur der ethnischen Säuberung dieser an die Türkei grenzenden Region von Kurden; hierdurch soll auch ein konkurrierendes, emanzipatorisches Gegenmodel zum türkisch geförderten Islamofaschismus in der Region zerschlagen werden. Berlin hat diese türkischen Aggressionen finanziell und politisch flankiert – die repressive Unterdrückung von Fluchtbewegungen unter Zuhilfenahme des Islamismus schient sich inzwischen in Berlin zur Staatsräson verfestigt zu haben, während eine emanzipatorische Alternative vom deutschen Staatsapparat geradezu leidenschaftlich bekämpft wird.

Der Islamofaschismus scheint nun in der ganzen Region im Aufwind. Zeitgleich mit dem Fall der westlich finanzierten Staatstrappe im „Failed State“ Afghanistan hat die Türkei ihre Angriffe auf die kurdische Bewegung in Syrien und Irak ausgeweitet. Im Windschatten des Desasters in Afghanistan soll dem emanzipatorischen Aufbruch in Rojava endgültig der Garaus gemacht werden.7 Zumindest den Islamisten in Ankara ist es durchaus klar, dass ihr Aufstieg im Gefolge des sich global entfaltenden Krisenprozesses nicht alternativlos ist – was gerade der Bürgerkrieg in Syrien illustriert.

Der Kollaps Syriens hatte – ähnlich der noch weitaus dramatischeren Lage in Afghanistan – sozioökonomische und ökologische Ursachen. Der Bürgerkrieg brach aufgrund der weit vorangeschrittenen Verelendung einer größtenteils ökonomisch überflüssigen Bevölkerung, wie auch einer lang anhaltenden Dürre im agrarisch geprägten Nordosten des Landes aus. Im Verlauf des Bürgerkrieges, in dem der zu einem Selbstbedienungsladen des Assad-Klans verkommene syrische Staat nur durch massive russische Intervention vor der Implosion bewahrt werden konnte, bildete sich nicht nur der genozidale Islamische Staat zu einer prägenden Kraft heraus, sondern auch die maßgeblich von der kurdischen Freiheitsbewegung getragene Selbstverwaltung in Nordsyrien.

Das Modell Rojava, das einen emanzipatorischen Anspruch zu verwirklichen versucht, bildet – so lange es existiert – eine Bedrohung für den Islamismus in der Region, da es Alternativen zum Terrorregime dieser klerikal-faschistischen Krisenideologien aufzeigt. Der Islamismus des Islamischen Staates, der Taliban und Al Qaidas stellt gewissermaßen einen faschistischen Extremismus der Mitte dar8, der die Religion, die zentrale religiöse Identität im islamischen Kulturkreis als Resonanzboden nutzt, um diese in Wechselwirkung mit Krisenschüben ins weltanschauliche, mitunter genozidale Extrem zu treiben – diese Krisenideologie hat somit kaum etwas mit den vormodernen Agrargesellschaften des Islam zu tun, auf den sich die islamistischen Ideologen berufen.

Die Krise des kapitalistischen Weltsystems produziert in dessen Peripherie ökonomisch verbrannte Erde, also Regionen, in denen kaum noch Kapitalverwertung stattfindet und somit ökonomisch überflüssige Bevölkerungsschichten entstehen, was zur zunehmenden politischen Instabilität führt, die letztendlich in den Staatskollaps münden kann. Dies ist die tiefere Ursache des raschen Zusammenbruchs der Staatstrappe in Afghanistan9, wie ähnlicher Prozesse in Libyern, oder der Bürgerkriege im Irak und Syrien.

Syrien stellt aber eine Anomalie dar, da hier mit Rojava tatsächlich eine progressive, emanzipatorische Alternative zum krisenbedingten Abdriften in die islamistische Barbarei besteht. In Syrien hatte der Westen, spätestens im Kampf gegen die von der Türkei unterstützte Genozidmiliz des „Islamischen Staat“, die Option, sich für eine Alternative zu entscheiden. Bezeichnend ist, das – nach dem offiziellen Sieg über den IS – sowohl die USA wie auch Russland daran gingen, Rojava scheibchenweise an die Türkei Erdogans zu verscherbeln, der es vermochte beide Großmächte gegeneinander auszuspielen. Die Islamisten in Ankara und Idlib waren Washington und Moskau letztendlich aufgrund des höheren geopolitischen Gewichts der Türkei wichtiger, als der emanzipatorische Aufbruch in Nordsyrien.

Auch die aktuellen Luftangriffe und Artillerieschläge der Türkei in Nordsyrien10 und dem Irak11 wären ohne die Freigabe des Luftraums durch die USA, ohne die Zustimmung Moskaus in seiner Nordsyrischen Einflusszone nicht möglich. Der Westen kapituliert aktuell vor dem Islamofaschismus, den er – historisch und sozioökonomisch betrachtet – gleich in zweierlei Weise beförderte. Zum einen waren es die vielen Milliarden westlicher und saudischer US-Dollar, die in der Endphase des Kalten Krieges an die Vorgänger der Taliban, die gegen sowjetische Truppen kämpfenden afghanischen Mudschahedin flossen, die dem militanten Islamismus zu einem enormen Auftrieb verhalfen (Osama Bin Laden kämpfte bekanntlich in Afghanistan). Die Taliban formierten sich konkret in Flüchtlingslagern und Koranschulen, die – von den Saudis finanziert – im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet während des Krieges gegen die Sowjets entstanden, um Kinder in der sich ausformenden islamistischen Ideologie zu indoktrinieren.

Zugleich schafft die Weltkrise des an seiner Produktivität erstickenden Kapitals – die gerade durch die zunehmende Kapitalintensität der Warenproduktion in den Zentren vor allem die kapitalschwachen, peripheren Regionen des Weltmarktes zuerst voll traf – die sozioökonomischen Grundlagen für den Aufstieg extremistischer Bewegungen in der kollabierenden Peripherie. Der Islamismus stellt somit – ähnlich dem national und rassisch grundierten europäischen Faschismus – eine terroristische Krisenform kapitalistischer Herrschaft dar, die überall dort auftrieb erhält, wo der Krisengang weit genug vorangeschrittenen ist und die entsprechenden kulturellen Grundlagen besehen.

Der zwanzigjährige Kampf der US-Truppen und der Nato gegen die Taliban glich somit einen sinnlosen Windmühlenkampf, bei dem der Westen gegen die Krisengespenster kämpfe, die er selber direkt und indirekt hervorbrachte. Die hochgezüchtete spätkapitalistisch Militärmaschine kämpfte – mit barbarischen Methoden – auf ökonomisch verbrannter Erde gegen die barbarischen Endprodukte der Krise des Kapitals. Die USA samt Nato-Anhang wollten den Überbau eines kapitalistischen Staates mit Milliardensubventionen finanzieren und buchstäblich herbeibomben, ohne zu realisieren, dass hierfür keine ökonomische Basis vorhanden ist.

Afghanistan wird wohl bis auf weiteres der letzte vergebliche Versuch des „nation building“ des westlichen Krisenimperialismus bleiben. Das neue Moment an der gegenwärtigen Eskalation in Afghanistan besteht darin, dass nicht nur Berlin, sondern der Westen insgesamt dazu übergeht, diese religiös grundierte Krisenideologie, diesen islamisch geprägten Faschismus als einen Ordnungsfaktor in der Peripherie zu akzeptieren, der die überflüssigen Massen des globalen Südens in Schach halten soll, um sie – auch angesichts der voll einsetzenden Klimakrise – vor einer Flucht in die Zentren abzuhalten. Dessen sind sich die Taliban auch bewusst, wie das Interview mit der New York Times klarmacht. Das von Berlin etablierte, repressive Modell der Krisenverwaltung, bei dem islamistische Regime oder Rackets buchstäblich dafür bezahlt zu werden, um Fluchtbewegungen zu unterbinden, droht im gegenwärtigen Krisenimperialismus zu einer neuen, dystopisch anmutenden Realität zu werden.

Der Übergang vom neoliberalen, formell demokratischen Kapitalismus, wo Herrschaft sich subjektlos, durch die Vermittlungsebenen des Marktes und des Justizapparates entfaltet, zur offen autoritären Krisenverwaltung scheint sich nun zu vollziehen. Selbst die Fassade von Freedom and Democracy wird fallengelassen, wobei Biden auch hier nur die Politik seines rechtspopulistischen Amtsvorgängers fortführt. Diese autoritäre Wende setzt zuerst in der Peripherie ein – doch sie wird, wie es etwa die Militarisierung der US-Polizeiapparate illustriert, auch bald auf die Zentren zurückschlagen.


  1. https://www.deutschlandradio.de/oberst-klein-wird-general.331.de.html?dram:article_id=217621^

  2. https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021-08/angela-merkel-afghanistan-regierungserklaerung-evakuierung-bundeswehr-kritik-bundesregierung^

  3. https://www.nytimes.com/2021/08/25/world/asia/taliban-spokesman-interview.html^

  4. https://www.businessinsider.com/afghanistan-taliban-set-a-woman-on-fire-for-bad-cooking-2021-8?IR=T^

  5. https://apnews.com/article/middle-east-africa-afghanistan-taliban-islamic-state-group-8b54562a8676906d497952c9e3f0cfda^

  6. http://www.konicz.info/?p=4430^

  7. https://thehill.com/opinion/international/569838-as-afghanistan-crumbles-turkeys-airstrikes-set-up-the-next-disaster^

  8. http://www.konicz.info/?p=4430^

  9. http://www.konicz.info/?p=4343^

  10. https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/kobane-kriegsversehrte-protestieren-gegen-turkische-angriffe-28065^

  11. https://www.france24.com/en/live-news/20210817-3-dead-as-turkey-raids-north-iraq-clinic-security-medics




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