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Herbert Böttcher: Moria – eine vorhersehbare Katastrophe


Moria – eine vorhersehbare Katastrophe

Herbert Böttcher

Zustände im Lager

Die Katastrophe für die Geflüchteten in Moria ist nicht als Verhängnis über die Insel und die dort lebenden Menschen hereingebrochen. Das gilt zunächst einmal im Blick auf die Zustände im Lager. Noch bevor Corona das Lager erreichte, lagen die Informationen über menschenverachtende Zustände auf dem Tisch. Berichtet wurde von Krankheiten, die nur in den ärmsten Ländern auftreten, von einer Verzweiflung, die viele zu Selbstverstümmelungen und Suiziden trieb. Gewarnt wurde vor den Folgen für den Fall, dass sich unter solchen Bedingungen Corona ausbreiten sollte. Dieser vorhersehbare Fall ist eingetreten und hat in einem wörtlichen Sinn deutlich gemacht, wie ‚brandgefährlich‘ die Lage war. Aus der Brandgefahr, vor der Helferinnen und Helfer ebenso wie kritische Stimmen in der Öffentlichkeit vergeblich gewarnt hatten, ist ein Brand geworden, in dem die Geflüchteten alles verloren haben und der sich in Gestalt von Verzweiflung und Angst ausbreitet und mit besonderer Heftigkeit die Dörfer der Umgebung ‚infiziert‘.

Viele Bewohner_innen reagieren ähnlich wie es in der EU gegenüber Geflüchteten üblich ist: mit Abschottung und brutaler Gewalt. Sie werden unterstützt von Polizei und Militär, die mit Schiffen und Flugzeugen nach Moria geschafft werden. Ihre Aufgabe ist es, die Geflüchteten, aber auch die Einheimischen in Schach zu halten. Verhindert werden soll, dass Geflüchtete in die Stadt und in den Hafen kommen und es dabei zur Verschärfung der Situation durch weitere Plünderungen und zu kriegerischen Szenarien kommt. Und auch hier verschärft die Angst, sich mit Corona zu infizieren, die Situation.

Es fällt auf, dass bei Bewohner_innen der Insel Hilfsbereitschaft in aggressive Abwehr umgeschlagen ist. Noch 2015 wurden Geflüchtete freundlich aufgenommen und mit Essen, Trinken und Kleidung versorgt. Mit der Abriegelung der Grenzen und damit der Routen für Geflüchtete schlug die Hilfsbereitschaft mehr und mehr in Abschottung und Aggression um. Die Inselbewohner_innen wurden ebenso wie die Geflüchteten mit der für alle Beteiligten überfordernden Situation allein gelassen. Ähnliches – wenn auch auf komfortablem Niveau – haben wir in Deutschland nach dem Öffnen der Grenze 2015 erlebt. Die Willkommenspartys schlugen schnell in aggressive Abwehr, Rassismus und Rechtspopulismus um, als klar wurde, dass damit die Flüchtlingskrise nicht zu bewältigen ist. Mit dem ‚Argument‘, nicht alle aufnehmen zu können, sollte niemand mehr aufgenommen und alle mit den bekannten Arsenalen abschottender Gewalt und ihren ideologischen Begleitarsenalen ‚draußen‘ gehalten werden. Die Politik der ehrbaren Mitte befleißigte sich antirassistischer Töne und gab in ihrer faktischen Politik Rechtspopulisten und Rassisten mit verschärften Maßnahmen zur Abschiebung und Abschottung buchstäblich ‚Recht‘.

Lager-Politik

In diesem Zusammenhang war sowohl der Bundesregierung als auch der EU-Kommission die menschenverachtende Lager-Politik der rechtskonservativen Regierung Griechenlands als Instrument der Abwehr von Flüchtenden durchaus willkommen. Entgegen getroffener Vereinbarungen ließ die griechische Regierung keine ausländischen Asylgutachter zu. Von der lokalen Politik wurde im Frühjahr verhindert, dass Helfer_innen des THW im überfüllten Lager auf Samos dringend benötigte Wasserleitungen verlegten. In dieser Logik wehrt sich die griechische Regierung auch gegen Hilfsangebote für die in Moria festgehaltenen Menschen. Sie will ihre Politik der Abschreckung nicht durch Hilfe konterkarieren lassen. So werden die Menschen, die unter Elendsbedingungen, gegen Abmachungen, unter Bruch geltenden Rechts und verweigerter Hilfeleistungen gezwungen wurden in den Lagern zu leben, als Instrumente der Abschreckung missbraucht. Dagegen haben weder Bundesregierung noch EU-Kommission öffentlich Einwände erhoben. Im Gegenteil, sie haben die Situation willig hingenommen und sich so zum Komplizen der griechischen Rechtsregierung gemacht.

Um so zynischer ist es, wenn sich jetzt Stimmen zu Wort melden, die darauf hinweisen, durch die Hilfsangebote dürfe die griechische Souveränität nicht verletzt werden. Solche Stimmen melden sich vor allem aus den Ecken, die keine Probleme damit haben, dass durch deutsche Exportoffensiven, das Eintreiben von Schulden und das Bestehen auf Sozialabbau – nicht zuletzt im Gesundheitssystem – der griechische Staat in immer neue Krisen getrieben und genau dadurch seine Souveränität untergraben wurde. Nicht weniger zynisch ist die Argumentation der Rechtsregierung Österreichs, die sich gegen Hilfsangebote wehrt, um keine neuen Anreize zu Brandstiftungen zu schaffen. Der Gedanke, dass jene menschenverachtende Politik auch dann zum ‚Brandbeschleuniger‘ wird, wenn im wörtlichen Sinn keine Brände gelegt werden, scheint zu fern und zu kompliziert. Ähnliches gilt für den sog. Pull-Effekt, der davon ausgeht, dass eine weniger brutale Politik immer neu Fliehende anzieht. Dabei bleibt der entscheidende Pull-Effekt, die Krise des Kapitalismus und die mit ihr einhergehende Zerstörung von Lebensgrundlagen, außerhalb der Wahrnehmung und des Denkens.

Aktuelle Hilfe und ihr Scheitern

Angesichts der verzweifelten und von der europäischen Politik mit herbeigeführten Lage auf Moria ist aktuelle Hilfe das Gebot der Stunde – von der Aufnahme von Geflüchteten bis zur Versorgung auf der Insel. Aber selbst diese humanitäre Notwendigkeit scheitert an politischen Grenzen. Obwohl eine Reihe von Städten sich zur Aufnahme von Geflüchteten bereit erklärt hat, kann sich die Bundesregierung nicht dazu durchringen mehr als etwa 1.500 Geflüchtete aufzunehmen. Der Verweis auf eine sog. europäische Lösung scheitert an rechtspopulistischen Regierungen, aber auch daran, dass die von der Krise des Kapitalismus verursachten Lasten in Europa ungleich verteilt sind. Wenn ausgerechnet die deutsche Regierung als Krisengewinnler europäische Solidarität bei der Verteilung von Flüchtlingen einfordert und zur Bedingung eigener Hilfsleistungen macht, verkennt sie die eigene Verstrickung in den desolaten europäischen Krisenzustand. Zudem nimmt ihr immer neue Verweis auf die Notwendigkeit europäischer Lösungen die Geflüchteten in eine Art Geiselhaft, um eine vermeintlich gerechtere Verteilung der Geflüchteten zu erzwingen und den Eindruck zu vermeiden, Deutschland werde sich um die Geflüchteten schon kümmern.

Abgesehen von der kommunalen Aufnahmebereitschaft ist zudem kaum gesellschaftlicher Druck auf die Bundesregierung zu spüren, so dass erst recht vor den Wahlen die Angst groß und nicht unbegründet sein dürfte, das demokratische Wahlvolk könne die Protagonisten allzu weitgehender humanitärer Handlungsweisen mit dem Stimmzettel abstrafen und ganz demokratisch für Abschottung und Gewalt gegen Geflüchtete votieren. Zudem sind die Demokraten derzeit vor allem mit der Verteidigung bürgerlicher Freiheiten gegenüber den staatlichen Schutzmaßnahmen vor Corona, die gewollt oder ungewollt durchaus den besonders Gefährdeten zugute kommen, beschäftigt. Freiheit ist Reise-, Party- und Eventfreiheit und hat mit der Freiheit Geflüchteter zu leben, sich zu ernähren, da leben zu wollen, wohin sie migrieren wollen, nichts zu tun. Im Gegenteil, im Interesse solcher Freiheiten sollen Flüchtende abgewehrt werden. Eine besondere Perversität und Verwilderung des demokratischen Mobs agiert sich in der Verfolgung von Helfenden aus. Das zeigte sich in den Maßnahmen gegen diejenigen, die Geflüchtete aus Seenot gerettet haben. Gegenwärtig ist eine Äbtissin aus der bayerischen Benediktinerinnenabtei Maria Frieden, die in ihrem Kloster Geflüchtete aufgenommen hat, juristischen Verfolgungen und Strafandrohungen ausgesetzt. Menschen in Not nicht zu helfen, ist keine unterlassene Hilfeleistung. Im Gegenteil, die Freiheit zu helfen, wird unter Strafe gestellt. Im Fall der Äbtissin wird zudem deutlich, dass Religionsfreiheit auf Kultfreiheit reduziert ist und nicht die Freiheit beinhaltet, in Übereinstimmung mit den Glaubensüberzeugungen in Freiheit zu handeln. Während die Kirchen angesichts der Einschränkungen von Gottesdiensten zum Teil vehement ‚Religionsfreiheit‘ einforderten, wird die Äbtissin in der Wahrnehmung ihrer Religionsfreiheit durch praktisches Handeln auch von den Kirchen allein gelassen.

Lager und Lager-Politik im kapitalistischen Weltzustand

Dass die Katastrophe nicht als Verhängnis über die Geflüchteten hereingebrochen ist, gilt in einem umfassenderen Sinn nicht nur für die Flüchtlingspolitik, sondern auch im Blick auf den globalen kapitalistischen Weltzustand. Er kommt in der Katastrophe von Moria zum Ausdruck. U.a. wird er in der Hilflosigkeit sichtbar, mit der europäische Werte und Menschenrechte eingeklagt und die europäische Wertegemeinschaft gegen eine europäische ökonomische Zweckgemeinschaft in Stellung gebracht wird. Vermeintlich universale humanitäre Werte und Menschenrechte, die ornamental und auratisierend über der ökonomischen Zweckgemeinschaft schweben, sind real an ökonomische Zwecke gebunden, genauer an den abstrakten Selbstzweck der männlich konnotierten Verwertung von Kapital und die damit einhergehende weiblich konnotierte Abspaltung der Reproduktion. Diese kapitalistisch-patriarchale Form der Vergesellschaftung lässt hehre Werte und Menschenrechte nur in den Spielräumen zu, die Verwertungsprozess und Reproduktion lassen bzw. als Postulat formaler Gleichheit der Marktakteure nötig machen. Entgegen der mit ihnen verbundenen universalen Ideologie gelten sie vor allem für diejenigen, deren Arbeitskraft sich verwerten lässt, für die anderen nur solange wie die Vorräte aus dem Topf kapitalistischer Verwertung reichen. Und für Geflüchtete reichen sie schon lange nicht mehr. Entsprechend tritt an die Stelle demokratischer Werte die demokratische Gewaltkeule.

In all dem agiert sich die Krise des Kapitalismus aus, dem es angesichts der mikroelektronischen Entwicklungen seit Jahrzehnten nicht mehr möglich ist, die schwindende Arbeitssubstanz durch Ausweitung von Produktion und Märkten zu kompensieren, und der zudem unweigerlich immer mehr auf ökologische Grenzen stößt. Genau diese Krisendynamik zerstört die Lebensgrundlagen und wird auch nach Corona mit sich verschiebenden Grenzen zwischen Mensch und Tier, ökologischen Zerstörungen und globalen Transport- und Reisewegen neuen Viren den Weg bereiten. Diese Krisendynamik führt zugleich dazu, dass immer mehr Menschen ihren zerstörten Lebensraum verlassen und an anderen Orten Möglichkeiten des Überlebens suchen. Wenn diese zerstörerische Krisendynamik nicht zur Kenntnis genommen wird, um demokratisch am Kapitalismus festhalten zu können, sind weitere Morias und größere Katastrophen, die sich ebenfalls tagtäglich ereignen, vorprogrammiert. Auch Flüchtlingsorganisationen, andere Nichtregierungsorganisationen ebenso wie Helferinnen und Helfer wehren die Erkenntnis solcher Vermittlungszusammenhänge oft aggressiv-ignorant ab. Offensichtlich schrecken sie – vielleicht aus Angst vor dem Verlust gesellschaftlicher Anerkennung – vor einer radikalen Kapitalismuskritik zurück. Letztere ist aber unverzichtbar, wenn die Dynamik immer neuer Katastrophen unterbrochen werden soll. Nicht weniger unverzichtbar ist humanitäre Hilfe. Sie stößt aber angesichts der fortschreitenden Krise und begrenzter Hilfskapazitäten auf objektive Grenzen. Dies zu ignorieren, trägt dazu bei, die Krisenentwicklungen ihren Gang in immer neue Katastrophen gehen zu lassen.




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