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Herbert Böttcher: Theologie der Befreiung – einberufen zum Dienst an der Querfront!


Zuerst erschienen in: Netz-Telegramm Oktober 2022 www.oekumenisches-netz.de

Theologie der Befreiung - einberufen zum Dienst an der Querfront!

Herbert Böttcher

Nun hat es auch die Theologie der Befreiung erwischt. Roland Rottenfußer, als Journalist von 2001 bis 2005 tätig beim spirituellen Magazin connection und derzeit Chefredakteur von Rubikon, beordert sie an die Querfront. In seinem Artikel Der Schrei der Armen1 greift er auf mit der Befreiungstheologie verbundene Ansätze von Kapitalismuskritik zurück. Das dient dem Zweck, den Widerstand gegen die Corona-Politik und die danach inszenierten Krisen rund um Krieg, Teuerung und Gasmangel auch noch theologischen Schwung zu geben und mit segnender Aura aufzuladen.

Zu seinen Anknüpfungspunkten an die Theologie der Befreiung gehört die Parteinahme für die Armen, die Ausgebeuteten und Unterdrückten und die damit verbundene Frontstellung gegen die Reichen und Mächtigen. Als biblische Grundlage dafür gilt ihm des Evangelium nach Lukas, in dem auffällig viele Textstellen überliefert sind, in denen die soziale Differenz zwischen Arm und Reich Thema ist. Maria habe bereits vor der Geburt Jesu Sozialrevolutionäres verkündet: die Umkehrung der Verhältnisse zwischen Armen und Reichen, Erniedrigten und Mächtigen (vgl. Lk 1,51-53). Vor diesem Hintergrund werden Reiche ermahnt die Anhaftung an materiellen Gewinn als Hindernis auf dem Weg der Erlösung zu verstehen. Sie sollen Schulden erlassen, zu unrecht angeeignetes Gut zurückgeben und generell einen großen Teil ihres Besitzes den Armen spenden. Das bewegt sich zwar zunächst auf der Ebene einer spirituellen Theologie, enthalte aber auch den Entwurf einer fundamentalen Sozialordnung, die im Gegensatz zur modernen Wirtschaftsordnung geeignet ist, die Schere zwischen Arm und Reich zu schließen.

Aufgegriffen werden Inhalte, die durch die biblischen Texte durchaus gedeckt sind. Das Problem ist ihre unmittelbare Vereinnahmung und umstandslose Instrumentalisierung. Dabei bleiben die Unterschiede zwischen antiken und modernen Herrschaftsverhältnisse konsequent ausgeblendet. Die personalisierende biblische Rede von den Reichen und Mächtigen spiegelt personalisierte und religiös legitimierte Herrschaftsverhältnisse wider. Die kapitalistische Herrschaft stellt als Unterwerfung und den irrationalen Selbstzweck der Vermehrung von Geld/Kapital und als Abspaltung der reproduktiven Bereiche eine abstrakte Herrschaft dar, die sich nicht unmittelbar in den Rollen von Armen und Mächtigen bzw. Ausgebeuteten und Kapitalisten, herrschender politischer Klasse und ohnmächtig gemachter Masse darstellen lässt. Zudem bleibt im Blick auf die biblischen Traditionen ausgeblendet, dass ihre Rede von Reichen und Armen, Mächtigen und Ohnmächtigen eingebunden ist in die Unterscheidung zwischen Gott und Götzen (Fetischen). Götzen legitimieren auf der kulturell-symbolischen Ebene einen sozialen Herrschaftszusammenhang, der sich z.B. in der Herrschaft von Königreichen und ihrer Rückbindung an die Götterwelt manifestiert. In biblischen Texten wird nicht nur das Handeln einzelner kritisiert, sondern die Herrschaft delegitimiert, in deren Zusammenhang das Handeln einzelner steht. Nicht einfach an die unmittelbare Kritik an Reichen und Mächtigen, sondern an die biblische Unterscheidung zwischen Gott und Götzen, also an biblische Herrschaftskritik wäre anzuknüpfen. Und auch dabei ist noch einmal dem Unterschied zwischen antiker personalisierter und in ihrem Ausgriff auf das Ganze begrenzter und moderner abstrakter Herrschaft, die auf die gesellschaftliche Totalität ausgreift und dabei bis in Körper und Psyche der Menschen vordringt, zu unterscheiden. Letztere ist die Unterwerfung unter die sachlichen Zwänge, die mit dem Wertgesetz verbunden sind. Sie konstituiert die Form der kapitalistischen Gesellschaft und greift auf das Ganze dieser Gesellschaft aus. Damit lässt sich nicht unmittelbar Wut und Empörung entfachen und Massen mobilisieren, die ihre Wut rauslassen. Vor solch unmittelbare und wirre Entladungen ist kritische, d.h. theoretische Reflexion gesetzt, die Erkenntnis über die Verhältnisse gewinnen will. Erst auf dieser Grundlage kann es zu einer gezielten Überwindung der Konstitution der kapitalistischen Vergesellschaftung kommen.

Kreuz und quer, aber immer unmittelbar: Zu Positionierungen in der Gegenwart

Zur Positionierung in der Gegenwart werden jene Aussagen von Theologen der Befreiung herangezogen, die anschlussfähig dafür erscheinen, die gesellschaftlichen Prozesse und Ereignisse als Ausdruck des Willens gesellschaftlicher Eliten und ihrer gezielten Steuerung zu verstehen. Sie unterdrücken den Willen des Volkes durch Manipulation der Medien und autoritäre Maßnahmen bis hin zum Ausnahmezustand einer Corona-Diktatur. Halluziniert wird ein kosmopolitisches Programm herrschender Eliten, das die Souveränität der Völker und nationale Identitäten zersetzen soll. Dagegen werden nun Versatzstücke der Theologie der Befreiung in Stellung gebracht. Das alles geschieht kreuz und quer, aber immer unmittelbar. Zu solcher Unmittelbarkeit gehört die Berufung auf die Bewegung der Armen, durch welche die Theologie der Befreiung in Gang kam. Sie interpretierten die biblischen Geschichten als etwas, das unmittelbar (sic!) Konsequenzen für ihren Alltag hatte. Ohne Frage nach Vermittlung durch die gesellschaftlichen Verhältnisse wird den Armen eine höhere Qualität der Erkenntnis zugesprochen, die scheinbar unabhängig ist von gesellschaftlichen Fetischverhältnissen. Wer sich in falscher Unmittelbarkeit auf die Armen beruft, wird von ihrem Gegenpol den Reichen so reden, dass ihr Reichtum unmittelbar für die Armut der Armen verantwortlich gemacht wird.

Weitgehend ausgeblendet bleibt die im Rahmen der Theologie der Befreiung entwickelte Reflexion auf den kapitalistischen Herrschaftszusammenhang, der anknüpfend an die biblische Tradition der Unterscheidung zwischen Gott und Götzen als Fetischzusammenhang kritisiert wird. Damit wird der Blick für gesellschaftliche Vermittlungszusammenhänge geschärft. Insofern stellt solche Kritik ein immanentes Korrektiv gegenüber einem Denken dar, das wohl inspiriert von Kategorien des Klassenkampfs die Armen in ihrem Kampf gegen die Reichen ohne Reflexion auf gesellschaftliche Zusammenhänge den revolutionären Subjekten des Klassenkampfs beigesellt. Mit fetischismuskritischen und auf strukturelle Herrschaftszusammenhänge zielenden Reflexionen weiß Rottenfußer nichts rechtes anzufangen. Er zitiert zwar Boffs Kritik des Neoliberalismus, der die soziale Ausschließung als Folge der neuen Produktionsweisen, des Weltmarktes und des Neoliberalismus versteht. Er landet aber umstandslos bei der von der Gier nach Reichtum getriebenen Finanzwirtschaft und den Reichen, die von Zinsen und Geldanlagen profitieren. Neben Heiner Geißler mit seinen ebenso wendigen wie wirren Tiraden gegen in Börsenwert und Aktienkurs gemessene Kapitalinteressen macht er den Theologen Ulrich Duchrow und Papst Franziskus als Referenzgrößen für seine Position aus.

Rottenfußer bezieht sich auf Duchrows Rede vom Reichtum, der arm macht und auf die Aussage von Papst Franziskus: Diese Wirtschaft tötet. Im Blick auf arm machenden Reichtum wird Duchrow mit dem Hinweis auf Mechanismen der Bereicherung, die als naturnotwendig erklärt und damit vergötzt werden zitiert. Die Mechanismen der Bereicherung werden mit dem Bezug auf das Privateigentum auf der rechtlichen Ebene verortet. Das Recht auf Eigentum ist also der Grund dafür, dass so Durchrow zitierend man nach Marktgesetzen Vermögensvermehrung betreiben kann. Daher wird nach Duchrow folgendes ermöglicht: Wenn der Zins über der Wachstumsrate liegt, raubt der Geldvermögenbesitzer den anderen am Wirtschaftsprozess beteiligten, also vor allem den Arbeitenden, den gerechten Anteil am gemeinsam Erwirtschafteten. Ähnlich wird die Kapitalismuskritik des Papstes einsortiert. Zitiert wird seine Kritik am Dogma des neoliberalen Credos, nach dem der Markt alle Probleme löse, und seine Forderung, auf die absolute Autonomie der Märkte zu verzichten und die strukturellen Ursachen der Ungleichverteilung der Einkünfte in Angriff zu nehmen. Und nicht zuletzt passt die päpstliche Kritik an der Tendenz zur Gleichschaltung innerhalb der Weltkultur ins Weltbild der Querdenker von ausgelöschten völkischen, nationalen und/oder regionalen Identitäten. Entsprechend wird Franziskus mit der Bemerkung zitiert: Die örtlichen Konflikte und das Desinteresse für das Allgemeinwohl werden von der globalen Wirtschaft instrumentalisiert, um ein einziges kulturelles Modell durchzusetzen. Eine solche Kultur eint die Welt, trennt aber die Menschen und die Nationen.

Pflicht zum Widerstand

Worauf das Räsonieren über Befreiungstheologie ausgerichtet ist, wird am Ende des Textes endgültig klar: auf den Widerstand gegen das Corona-Narrativ, vor dem die Kirchen in ihrem Konformismus eingeknickt seien während doch Jesus Aussätzige umarmt habe. Ihr Versagen angesichts des Corona-Kulturbruchs verbiete ein Weiterwursteln. Das Thema Corona existiere ja keineswegs unabhängig vom Kapitalismusdiskurs. Schließlich haben der Papst und andere mit ihrem Insistieren auf einer moralischen Verpflichtung zur Impfung dazu beigetragen, die Kassen einiger weniger Pharmariesen anschwellen zu lassen. Vor allem werde wachsende Armut das große Thema der nächsten Jahre sein. Die Schuldigen für die Verschärfung der Armut sind schnell identifiziert: De-facto-Berufsverbote in den Lockdwns, Investitionen in Aufrüstung und eine durch desaströse Energiepolitik mutwillig von der Politik verursachte Teuerung. Dagegen wird der Satz aus der Apostelgeschichte eingeschärft: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.

Eine verquere Denke

Als roter Faden der Denkform zieht sich durch den Text der Versuch, Opfer zu identifizieren und Täter dingfest zu machen. Dies spiegelt sich auch da, wo strukturelle Faktoren ins Spiel kommen und mit dem Kapitalismus verbunden werden. Sie werden nicht als Strukturen begriffen, die sich als abstrakte Herrschaft verselbständigt haben, sondern wieder auf das unmittelbare Handeln der Akteure zurück geführt: auf das der Reichen, die sich im Rahmen dieser Strukturen bereichern und die Armen zu ihren Opfern machen. Mit dieser Kritik ist natürlich keinem simplen Determinismus das Wort geredet. Es geht vielmehr darum, dass die Form abstrakter Herrschaft nicht voluntaristisch übersprungen und die Verhältnisse, die in die Armut treiben, durch eine Umkehr der Eliten nicht überwunden werden können.

Solche Kapitalismuskritik bleibt auch darin halbiert, dass sie sich auf die Ebene der Zirkulation und darin noch einmal auf die Zirkulation des Finanzkapitals beschränkt. Da lässt sich das gierige Handeln der Profiteure besonders drastisch skandalisieren. Die Nähe zu (strukturellem) Antisemitismus mit seiner Unterscheidung zwischen raffendem und schaffendem Kapital ist für Querdenkende eh kein Problem. Dass Jesus kein Religionsgründer, sondern Jude war und das Christentum in der jüdischen Tradition verwurzelt und daher auch nicht einfach neue Religion2 ist, wird von Rottenfußer konsequent übersehen. Schließlich ist die Verwurzelung in der jüdischen Tradition dem Christentum inhärent: Christen beziehen sich auf keinen anderen Gott als den der Juden.

In der Fixierung der Kritik auf das (jüdische) raffende Finanzkapital, bleibt die Kritik der mittels Arbeit Waren-schaffenden Produktion ausgeblendet, also das Wertgesetz (G W G) und mithin die Produktion des Kapitals selbst samt seinem irrationalen Selbstzweck, Kapital um seiner selbst willen zu vermehren und dieser Verrücktheit, den Globus zu unterwerfen. So muss auch die Krise dieser Verrücktheit unerkannt bleiben: die logische und historische Schranke der Vermehrung des Kapitals, die mit dem ersetzen von Arbeit durch Technologie erreicht und seit der mikroelektronischen Revolution trotz Ausweitung von Warenproduktion und Märkten nicht mehr kompensierbar ist. Als Kompensation konnte eine Zeit lang der Zufluss von Geld aus auf den Finanzmärkten simulierter Geldvermehrung dienen, also von Geld ohne Wert (R. Kurz). Das Platzen der dabei entstehenden Blasen sowie vor allem das Zusammentreffen von Inflation und Wirtschaftskrisen signalisieren, dass das Ende dieser Kompensationsmöglichkeit immer näher rückt.

Das zu begreifen geht nicht unmittelbar, sondern nur über eine theoretische Reflexion, die aufzeigt, wie gesellschaftliche Phänomene mit dem gesellschaftlichen Ganzen vermittelt sind. Vor allem aber bietet solche Erkenntnis keine unmittelbare Angriffsfläche für das Ausagieren von Wut und Empörung, einhergehend mit den Illusionen von Handlungsfähigkeit und Machtphantasien inmitten realer Ohnmacht. Da halten es Querdenker doch lieber mit dem Kult der Unmittelbarkeit (Günter Frankenberg3). Er verspricht, konkret statt abstrakt zu sein, praxisorientiert statt sich in praxisfernen theoretischen Erklärungen zu ergehen. Im Zusammenhang der Sucht nach Unmittelbarkeit steht auch der Rückgriff auf Versatzstücke der Theologie der Befreiung und ihr Anknüpfen an biblische Traditionen. Ignoriert wird Reflexion unterschiedlicher historischer Kontexte, die in eine kritische Korrelation gesetzt werden müssten. Statt dessen werden Versatzstücke wie die Frage nach den Armen aufgegriffen und in eine unmittelbare Beziehung zu querdenkerischen Weltbildern gerückt.

Rückfragen an die Theologie der Befreiung

Es reicht auch nicht, die Instrumentalisierung von Versatzstücken aus Bereichen der Theologie der Befreiung durch Querdenker und Querfrontler empört zurück zu weisen. Vielmehr käme es darauf an, kritisch darauf zu reflektieren, wo und warum sich solche Anknüpfungspunkte bieten bzw. wie die Theologie der Befreiung korrigiert und weiterentwickelt werden muss. Das gilt umso mehr als sie in Zusammenhängen entstand, in denen es möglich schien über politische Veränderungen und damit über den Staat bis hin zu sozialistischen Optionen Alternativen erreichen zu können. Befreiung schien im Horizont einer Befreiung der Arbeit vom Kapital denkbar. Zudem ging es in den unterschiedlichen Varianten der Theologie der Befreiung, die es auch in Afrika und Asien gab, um die Befreiung aus kolonialer Abhängigkeit. Aber auch diese blieb weitgehend im politischen Machtwechsel einheimischer Eliten stecken.

Statt dessen gälte es zu erkennen, dass auch die Arbeit ebenso wie die Ebenen Staat und Politik elementare Bestandteile des Formzusammenhangs kapitalistischer Vergesellschaftung darstellen und je mehr die Krise der Warenproduktion voranschreitet, nicht nur Regulationsmöglichkeiten einbrechen, sondern auch ihre Möglichkeiten der Krisenverwaltung auf ihre Grenzen stoßen, staatliche Strukturen einbrechen und im Zusammenspiel und Kämpfen von staatlichen Restbeständen und Banden verwildern.

Kritisch weiter zu führen wäre die Tradition der Fetischkritik in der Theologie der Befreiung. Aber auch hier wäre zu berücksichtigen, dass die Kritik des Marktes als Fetisch auf die Ebene der Zirkulation beschränkt bleibt, dass es nicht reicht, einzelne Fetische wie Markt, Geld und Macht aus dem gesellschaftlichen Fetischzusammenhang herauszugreifen. Vielmehr käme es darauf an, auf das gesellschaftliche Ganze als in sich gebrochenen Zusammenhang zu reflektieren und auf der abstraktesten Ebene in seiner Konstitution durch die Warenproduktion und die Abspaltung der weiblich konnotierten und inferiorisierten Bereiche der Reproduktion zu erkennen, die sich im Formzusammenhang von Arbeit, Staat, Subjekt etc. entfaltet. Entscheidend wäre dabei, diesen Fetischzusammenhang als Krisenzusammenhang in seinen Potentialen der Zerstörung bis hin zur Weltvernichtung zu erkennen. In diesem Rahmen kann es keine emanzipatorischen Entwicklungen, sondern nur noch einen emanzipatorischen Bruch geben. Nur eine konsequente Negation kann Horizonte für emanzipatorisches Handeln eröffnen.

Zu fragen wäre, was das für die theologische Reflexion bedeutet4: für die theologisch zentrale Option für die Armen, für das Reden von Gott angesichts des Leidens und der immer weiter voranschreitenden Katastrophe, für das Anknüpfen an biblische Traditionen, samaritanisches Handeln und eine Praxis, die als via negationis auf die Überwindung der kapitalistischen Konstitution zielt. Unverzichtbar ist die Abgrenzung zu identitärem Denken und allen Versuchungen zur Unmittelbarkeit und darin zu allem querfrontlerischem Querdenkertum.

Anfragen lassen müssen sich auch die im Text von Rottenfußer genannten Ulrich Duchrow und Papst Franziskus. Wenn Ulrich Duchrow von gierigem Geld5 spricht, versteht er dies nicht unmittelbar, sondern als strukturellen gesellschaftlichen Zusammenhang, der nach Geld, d.h. nach der Vermehrung von Kapital giert. Dennoch konzentriert sich auch seine Analyse mehr auf das Finanzkapital als auf die von Produktion und Zirkulation und den damit verbundenen Krisenzusammenhang. Entsprechend sind die in dem Buch aufgeführten Alternativansätze keine adäquaten Versuche, mit dem Kapitalismus zu brechen6. Ähnliches gilt für Papst Franziskus. Seine Kritik ist mutig, weil sie sich mit konservativ-reaktionären Kräften anlegt, und hilfreich, weil sie innerkirchlich Türen für eine radikalere Kapitalismuskritik öffnet. Dennoch ist sie weit von der unverzichtbaren Fetischismuskritik7 entfernt. Er bleibt bei der ethischen Regulierung des Marktes, bei der Illusion, das Geld könne dienen statt zu herrschen8. Kritikwürdig sind darüber hinaus Positionen und Strategien im kirchlichen Bereich, die den Fetischzusammenhang der kapitalistischen Warenproduktion und ihrer Krise nicht oder nicht hinreichend einbeziehen. In diesem Zusammenhang ist die Positionierung des Instituts für Theologie und Politik9 zur Corona-Politik ebenso zu kritisieren wie die zu kurz greifenden Reflexionen und Praxisorientierungen im Umfeld von Kairos Europa10.

Im Blick auf die Notwendigkeit einer konsequenten Abgrenzung von allem Querdenkertum ist die Aufnahme und konsequente Weiterführung der Fetischismuskritik, die theologisch an die biblisch zentrale Unterscheidung zwischen Gott und Götzen anknüpfen kann, von entscheidender Bedeutung. In ihrem Rahmen ist die Krise zu verorten, die die Grundlagen des Lebens zerstört. Der zerstörerische Irrationalismus des kapitalistischen Selbstzwecks scheint in den Kämpfen um Selbstbehauptung in der Krise mehr und mehr die Köpfe und das Handeln von Menschen zu bestimmen. Dies mag im Zusammenhang mit der strukturellen Unmöglichkeit, stringent zu handeln, auch eine Erklärung für die Wirrnisse im Agieren politisch-ökonomischer Handlungsträger wie auch für den querdenkenden Widerstand dagegen sein. Umso wichtiger ist kritische Reflexion, wenn es Wege zur Befreiung geben soll.


  1. Vgl. https://www.rubikon.news/artikel/der-schrei-der-armen

  2. Der Eindruck, das Christentum sei eine neue Religion, legt sich von der Geschichte des Christentums her insofern nahe als sich das Christentum in antijudaistischen Tiraden vom Judentum getrennt hat. Dies hat u.a. seinen Ausdruck in seiner (anitjudaistischen und Antisemitismus befeuernden) Sichtweise gefunden, dass die Kirche an die Stelle des mit dem Christentum überholten Judentums getreten sei. Die Rede vom Christentum als einer neuen Religion würde dies bestätigen, ist jedoch auch nicht vor der Gefahr gefeit, die jüdische Tradition durch christliche zu vereinnahmen. Entscheidend ist, Judentum und Christentum als zwei Varianten der Suche nach Befreiung zu verstehen, die in ihrem (fetischismuskritischen) Bezug auf den einen Gott Israels miteinander verbunden sind.

  3. Davon spricht Günter Frankenberg in seinem Buch Autoritarismus, Berlin 2020.

  4. Vgl. dazu Herbert Böttcher, Kapitalismuskritik und Theologie. Versuch eines Gesprächs zwischen wert-abspaltungskritischem und theologischem Denken, in: Ökumenisches Netz Rhein-Mosel-Saar (Hg.). Nein zum Kapitalismus, aber wie? Unterschiedliche Ansätze der Kapitalismuskritik, Koblenz 2013/2015, 117 163, online: https://www.oekumenisches-netz.de/wp-content/uploads/2016/10/Festschrift_Kapitalismus_web.pdf; vgl. ders., Der Krisenkapitalismus und seine Katstrophen. Herausforderung für theologische Reflexion, in: Netztelegramm. Informationen des Ökumenischen Netzes Rhein-Mosel-Saar, Koblenz 2016, online: https://www.oekumenisches-netz.de/wp-content/uploads/2016/10/NT16-02.pdf.

  5. Ulrich Duchrow, Gieriges Geld. Auswege aus der Kapitalismusfalle. Befreiungstheologische Perspektiven, München 2012.

  6. Vgl. Dominic Kloos, Alternativen zum Kapitalismus. Im Check: Gemeinwohlökonomie, in: Ökumenisches Netz Rhein-Mosel-Saar (Hg.): Die Frage nach dem Ganzen, Koblenz 2018, 299-356, online: https://www.oekumenisches-netz.de/wp-content/uploads/2020/01/festschrift-final-Druck-innen.pdf; vgl. auch Thomas Meyer, Alternativen zum Kapitalismus. Im Check: Buen Vivir und das Ende der nachholenden Entwicklung, in: Ökumenisches Netz Rhein-Mosel-Saar (Hg.): Bruch mit der Form, Koblenz 2020, 465-479, online: https://www.oekumenisches-netz.de/wp-content/uploads/2021/02/08263_%C3%96kuNetz_Festschrift_Bruch_Monitor.pdf.

  7. Vgl. Herbert Böttcher, In der Freude des Evangeliums. Aufstehen gegen Repression und Depression. Der Papst wechselt die Perspektiven, in: Perspektivenwechsel!? Eine Herausforderung für die Kirche angesichts sich verschärfender gesellschaftlicher Krisen. Eine Intervention zur Synode und daruber hinaus, 14-32, online: https://www.oekumenisches-netz.de/wp-content/uploads/2016/10/Synodenbroschuere.pdf.

  8. Vgl. Evangelii gaudium, 57f. Zur Kritik an den Vatikanischen Positionierungen zu den Finanzmärkten vgl. Dominic Kloos, Die Himmelfahrt des Geldes in den Prinzipienhimmel Zur Finanzialisierung
    des Kapitalismus und den Grenzen christlicher Sozialethik, Bielefeld 2022.

  9. Vgl. AK Theologische Orientierung, An Corona und am Kapitalismus vorbei Anmerkungen zu Corona und die Kirchen. Eine Kritik, Koblenz 2021, online: https://www.oekumenisches-netz.de/2021/03/an-corona-und-am-kapitalismus-vorbei-anmerkungen-zu-corona-und-die-kirchen-eine-kritik/.

  10. Vgl. die Zachäus-Steuer-Kampagne https://zachaeus-kampagne.de/ (vgl. kritisch dazu Kloos, Anm. 8) und den Aufruf der casa comun anlässlich der 11. Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen in Karlsruhe im September 2022: https://casa-comun-2022.de/wp-content/uploads/2021/03/Aufruf-Casa-Comun-Deutsch-final.pdf.




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