Zuerst erschienen in: Netztelegramm Februar 2022, www.oekumenisches-netz.de
Kategoriale Kritik und die notwendige Frage nach Alternativen zum Kapitalismus1Thomas Meyer1. Ausgangslage: Krise und KritikJe weiter die Krise voranschreitet, umso weniger scheinen große Teile der Linken – von anderen Zusammenhängen ganz zu schweigen – in der Lage zu sein, die innere Schranke des Kapitals und die Tragweite der sich seit 2008 immer mehr verschärfenden Krise zur Kenntnis zu nehmen. Verdrängung, Nichtwahrhabenwollen oder dem Festhalten an anachronistischen Identitäten u. dgl. scheinen da als Hintergrund auf. Vielmehr noch wird deutlich, dass sich nicht wenige als willige Opportunisten den Krisenverwaltungsregimen andienen (Green New Deal etwa: vgl. Konicz 2020a). Dabei gilt heute mehr denn je, eine soziale Emanzipation gegen die Realkategorien des kapitalistischen Systems (Wert, Abspaltung, Arbeit, Staat usw.) zu formulieren und anzustoßen. Die theoretische Kritik ist dabei angehalten bezüglich sozialen Protesten eine Vogelperspektive, ein kritisches Distanzverhältnis einzunehmen, nicht um sich im Elfenbeinturm der Begriffe einzuschließen, sondern um mit der bisherigen kapitalistischen Weltveränderung und -zerstörung Schluss zu machen. Es ginge der theoretischen Kritik dabei darum, bestehenden sozialen Protesten einen Spiegel entgegenzuhalten, um ihnen »ihre eigne Melodie vor[zu]singe[n]« (Marx 1958, 381). Dazu sind die Grenzen jener Proteste in der Waren- und Abspaltungsform auszubreiten sowie die Notwendigkeit aufzuzeigen, die Erfüllung sozialer und materieller Bedürfnisse gegen ihre ›Finanzierbarkeit‹ einzufordern, zumal diese mehr und mehr an Grenzen stößt. Denn: »Ohne durch das Purgatorium einer radikalen Kapitalismuskritik […] hindurchgegangen zu sein, werden sich Alternativen nicht ›denken‹ und schon gar nicht ›machen‹ lassen« (Böttcher 2015, 129). Alle sog. Alternativen zum Kapitalismus sind daran zu bemessen, ob sie in der Lage sind, den in diesem Text angedeuteten Problemhorizont überhaupt zu formulieren. Schaut man sich mutmaßliche Alternativen an, wie etwa die Postwachstums- und Commonsbewegung (vgl. Meyer 2021) oder Christian Felbers Gemeinwohlökonomie (vgl. Kloos 2018; vgl. auch Hüller 2014), so ist davon leider nicht wirklich etwas zu sehen. 2. Grenzen von ProtestBei Protesten gegen ›Mietenwahnsinn‹ oder gegen den ›Pflegenotstand‹ ist es naheliegend, sich zu solidarisieren, wobei das nicht ausschließt, sie zugleich ideologiekritisch zu durchdringen und ihnen jede Solidarität aufzukündigen, wenn sie etwa dahin kämen, ›Bill Gates‹ oder ›die Rothschilds‹ für die sozialen Katastrophen verantwortlich zu machen. In anderen Fällen ist eine Solidarisierung von vornherein wesentlich schwieriger: So können Forderungen, sich (weiterhin oder besser) in der kapitalistischen Form reproduzieren zu können, problematische Konsequenzen haben, wenn z. B. Arbeiter/-innen gegen die Schließung einer Autofabrik protestieren oder wenn Gewerkschaften sich für Umweltzerstörung aussprechen, weil dies ›Arbeitsplätze‹ versprechen oder sichern würde. Die in den letzten Jahren formulierte Debatte, die Interessen der ›Arbeiterklasse‹ im Rahmen einer ›Neuen Klassenpolitik‹ wieder ernst zu nehmen (vgl. Scholz 2020; vgl. auch Meyer 2019), ist daher von vornherein inkonsistent, wenn man zugleich beansprucht, Umweltzerstörung zu kritisieren. Damit ist schon eine unumgängliche Ambivalenz angedeutet: Einerseits muss man soziale Kritik praktisch (noch) in bürgerlichen Formen einfordern (Mindestlohn, Arbeitnehmerrechte, Sozialversicherungen usw.). Andererseits sind diese Formen obsolet und soziale Bedürfnisse (Essen, Wohnen usw.) lassen sich immer weniger in diesen geltend machen und selbst dies nur unter absurden Restriktionen und ›Verrechnungen‹ aller Art. Es sollte mittlerweile offensichtlich sein, dass angesichts von Klimakatastrophe, faschistoiden Entwicklungen, failed states usw. eine Umverteilung des kapitalistisch produzierten ›Reichtums‹ und die demokratische Anerkennung der Menschen als bürgerliche Konkurrenz-Subjekte nicht nur viel zu kurz greifen, sondern auch immanent einen stets kleiner werdenden ›Handlungs- und Gestaltungsspielraum‹ vor sich haben und tendenziell gegenstandslos werden. Immanente Kämpfe, sofern sie überhaupt stattfinden, drohen in der Krise zu einem Modus einer aussichtslosen ›Krisenbewältigung‹ und Krisenmitverwaltung abzustürzen. Nachfolgend sollen dazu einige grundlegende Gedanken einer theoretischen Kritik der Praxis ausgebreitet werden. Hierbei knüpfe ich vor allem an den Begriff der apriorischen Matrix von Robert Kurz an. Des Weiteren widme ich mich dann dem »Widerspruch zwischen Stoff und Form« (Ortlieb 2009), der sich auch im Stoffwechselprozess mit der Natur zeigt, und kontrastiere ihn mit den doch recht problematischen Anschauungen der Postwachstumsbewegung hinsichtlich eines Schrumpfens der Wirtschaft, was angesichts der ökologischen Katastrophe notwendig erscheint. Das zentrale Argument ist: Im Angesicht der ökologischen und klimatischen Katastrophe, die wesentlich mit dem exorbitanten Naturverbrauch zusammenhängt, müsse eine Lebensweise angestrebt werden, die weniger verbraucht (mehr materielle Bescheidenheit, kein kompensatorischer Konsum, wie etwa der Massentourismus, Produkte, die dergestalt produziert werden, dass sie möglichst lange halten usw.). Die Wirtschaft müsse nicht nur nicht mehr wachsen, sondern schrumpfen. Technische Lösungen sind dazu aufgrund des Rebound-Effektes keine: »Allein Lebensstile können nachhaltig sein«, schlussfolgert der Postwachstumsökonom Niko Paech (2019, 99, Hervorh. i.O.). Und genau solche Lebensstile werden von Paech vor allem in regionalen Wirtschaftskreisläufen gesehen, die sich durch »Transparenz« und ausgerechnet durch »Empathie« auszeichnen sollen (ebd., 114). 3. Notwendige Kritik und ihre VoraussetzungenMit der Welt, wie sie verfasst ist, nicht einverstanden zu sein, kann sich aus vielerlei Motiven speisen. Ein ›Nichteinverstandensein‹ kann als Resultat einer bestimmten ›Interpretation der Verhältnisse‹ und/oder einer bestimmten (Leidens-)erfahrung des Subjekts angesehen werden. Speist sich die Kritik des Kapitalismus aus Leidenserfahrungen, dann sind eben diese Erfahrungen soweit es geht auf den ›Begriff‹ zu bringen, d.h. sie sind mit der gebrochenen Totalität des Kapitals, also mit dem gesellschaftlichen Ganzen zu vermitteln. Dadurch wird eine Erfahrung erst konkret. Robert Kurz schrieb dazu vor dem Hintergrund einer theoretisch unterbelichteten Globalisierungskritik: »Zu dieser Konkretisierung mit Hilfe der Theorie gehört auch, daß der historische Prozess erhellt wird, in dessen Kontext überhaupt die Erfahrungen stehen. Die Erfahrungen im hier und heute können erst etwas aussagen, indem sie zu den Erfahrungen der Vergangenheit und zur Geschichtlichkeit der Gesellschaft in Beziehung gesetzt werden. Theorie übersteigt auch in diesem Sinne die Unmittelbarkeit der Erfahrung, als sie die Reflexion vergangener Erfahrungen mit enthält und daher eine eigene Geschichte hat. Wer glaubt, sich darüber hinwegsetzen zu können, wird seine eigenen Erfahrungen zwangsläufig missdeuten, weil er sie in keinen größeren Zusammenhang einordnen kann« (Kurz 2005, 30). Erfahrungen sollten also nie ›bei sich selbst verweilen‹, sondern sie sind als ein Moment der kapitalistischen Totalität auszuleuchten, andernfalls können sich gerade Leidenserfahrungen zu einem Betroffenheitskult verdichten bzw. verzerren, der häufig mit einer grundsätzlichen Theoriefeindlichkeit und Reflexionsunfähigkeit verbunden ist. Mit der aus einer solchen Haltung eventuell entspringenden vermeintlichen Kritik drückte sich dann womöglich nur der Wunsch oder der Wahn aus, die Konkurrenz mit anderen Mitteln fortzusetzen oder auf einen Kapitalismus aus zu sein, der diese (vor allem die eigenen) Leidenserfahrungen angeblich nicht mit sich brächte (so wie lokales Wirtschaften sich angeblich durch Empathie und Transparenz auszeichnen solle). Oder schlimmer: Es würden Subjekte identifiziert, die für diese Leidenserfahrungen verantwortlich gemacht werden (Frauen, Migranten, Juden, ›Genderisten‹ usw.). Das ›Interpretieren der Verhältnisse‹ ist allerdings keineswegs voraussetzungslos und keinesfalls kann der Kritiker oder die Kritikerin einfach ›drauflosdenken‹ (vgl. Kurz 2017, 73ff.). Vermeintlich neues Denken entpuppt sich mit Blick in die Geschichte oft als schon längst Gedachtes (vgl. Ortlieb; Ulrich 2005). Das eigene Denken ist zwar nicht deterministisch bestimmt, sodass der Kritiker oder die Kritikerin nur objektive Gedankenformen wie ein Automat exekutiert, niemand jedoch kann sich den objektiven Gedankenformen (Wert, Arbeit, bürgerliches Geschlechterverhältnis) komplett entziehen. Die objektiven Gedankenformen sind allerdings nicht nur eine Sache des Denkens – das wäre ein ›idealistisches‹ Missverständnis –, sondern sie sind verschränkt mit den objektiven Daseinsformen des Kapitalismus (Arbeit, geschlechtliche Abspaltung u.a.). Beide zusammen haben in ihrer historisch-prozessualen Verschränkung eine historisch spezifische Form und Weltveränderung und -formung zur Folge, die ihrerseits auf die objektiven Gedankenformen und ihre subjektiven ›Träger/-innen‹ zurückwirken. Man könnte dies ›Dialektik‹ nennen oder prozessualen Widerspruch in seiner materiellen und sozialpsychischen Konkretion. Die objektiven Gedanken- und Daseinsformen bilden zusammen die »apriorische Matrix der Fetisch-Konstitution« (Kurz 2007, 24, Hervorh. i.O.). Wenn man die objektiven Gedankenformen zu einem Gegenstand der Kritik macht und Kritik nicht mehr in diesen Kategorien, sondern gegen diese formuliert, d.h. kategoriale Kritik ›betreibt‹, dann sind die objektiven Daseinsformen, die Art und Weise der (Re)-Produktion und ihre stofflich-organisatorische Verwirklichung und damit auch des Stoffwechselprozesses mit der Natur derselben noch lange nicht ›aufgehoben‹ oder bewältigt. Das ist im Auge zu behalten, wenn es darum geht, die ›Aneignung der Produktionsmittel‹ und die Verteilung in eigener Regie, also gegen Staat und Markt (oder gegen das, was davon noch übrig ist), für das Ende der Fahnenstange zu halten. Entscheidend ist, dass die objektiven Daseins- und Gedankenformen überhaupt erst als ein zu kritisierender Gegenstand wahrgenommen werden. Geschieht das nicht, dann ist die Kritik schnell affirmativ, wenn nicht gar reaktionär, selbst wenn sie auf phänomenologischer Ebene durchaus richtige Punkte zu benennen weiß (wie etwa bei den Postwachstumsökonomen überaus deutlich). Affirmative Kritik kann einerseits darauf zielen, die eigene Stellung im Kapitalismus zu verbessern, oder sie kann sich zum Ziel setzen, den Kapitalismus anders zu konfigurieren oder zu modernisieren. Beides setzt eine gewisse immanente ›Gestaltungsfähigkeit‹ voraus und das heißt nichts anderes, als dass dem Kapitalismus noch eine gewisse Entwicklungsfähigkeit inne sein muss, sodass verschiedene Optionen denkbar oder ›wählbar‹ sind, über die dann eventuell ›verhandelt‹ werden könnte. Auf der andern Seite dient affirmative Kritik dazu, die eigenen Interessen gegen andere durchzusetzen. Alle Arten von Tarifkämpfen usw. fallen hier rein. Jeder möchte einen größeren Teil des Kuchens, ohne dass der Kuchen selbst und die Art seiner Produktion wirklich in Frage gestellt werden. D.h. hier werden Einzelaspekte des Kapitalismus (vermeintlich) kritisiert, aber auf die Art, dass der Kapitalismus und seine Formen blind vorausgesetzt werden. Es werden also Verbesserungen in den kapitalistischen Formen gesucht. Bedürfnisse und Interessen werden in diesen gedacht und gefordert. Es geht um Verteilungs- und Interessenkonflikte innerhalb des kapitalistischen Formzusammenhangs, es geht um das Geltendmachen von partikularen Interessenstandpunkten.2 Zur Kenntnis zu nehmen ist, dass keiner dieser partikularen Standpunkte für sich beanspruchen kann, in irgendeiner Weise transzendierend, d.h. prädestiniert zu sein, durch Stellung im Verwertungsprozess (bzw. Entwertungsprozess) das Zwangs-Formgehäuse des Kapitalismus sprengen zu können, oder anders formuliert: Partikulare Standpunkte kollektiver Subjekte sind so wenig ›revolutionär‹ wie die (unvermeidlich partikularen) Standpunkte der Einzelsubjekte. Kollektive Subjekte bewegen sich immer im Zwiespalt zwischen Kooperation im Inneren und gewöhnlicher Konkurrenz nach außen. Da Ersteres dem Zweiteren dient, kann das Konkurrenzverhalten jederzeit nach innen durchschlagen: vom Bürgerkrieg innerhalb der ›Nationen‹ bis hin zur Paranoia des Einzelsubjekts. Das Kollektivsubjekt Proletariat wurde für die revolutionäre Klasse gehalten, die dazu berufen sei, den Kapitalismus abzuschaffen (bzw. das, was darunter verstanden wurde). Schlussendlich wurde es ein immanenter Kampf um Anerkennung, ein innerkapitalistischer Gegensatz, ein Kampf unter Voraussetzung der kapitalistischen Formen wie Arbeit, Wert, Abspaltung usw. Skandalisiert wurde vom Arbeiterbewegungsmarxismus die Vorenthaltung des Mehrwerts und keineswegs die Wertform als solche, zu der das Phänomen ›Mehrwert‹ untrennbar gehört. Die Arbeiterbewegung hat selbst zur Durchsetzung und Verallgemeinerung von Warenproduktion und Arbeit beigetragen. Von Ausnahmen abgesehen wurden die industrielle und technische Entwicklung und die Naturbeherrschung befürwortet bzw. als unproblematisch eingestuft (vgl. Schmied-Kowarzik 2018). Als Problem wurde die nicht vorhandene Verfügungsgewalt durch das Proletariat angesehen. Das Proletariat müsse also den bürgerlichen Staat stürzen und die kapitalistischen ›Gesetzmäßigkeiten‹ in seinem Interesse ›anwenden‹ (vgl. Kurz 2007, 43ff.; ders. 1994, 79ff.). So ergaben sich der ›proletarische Staat‹ und die ›sozialistische Warenproduktion‹, d.h. Resultat war demnach der »Sozialismus des Adjektivs« (Robert Kurz).3 Wenn man Bedürfnisse, v.a. grundlegende, geltend machen will, dann muss es zunächst in kapitalistischen Formen geschehen. Sei es die Forderung nach bezahlbarem Wohnraum, nach medizinischer Versorgung, Umwelt- und Klimaschutz usw. Politik ist dazu angesprochen, und um sie zum Einlenken zu zwingen, organisieren sich die Menschen. Wie man in zahlreichen Weltregionen immer wieder sehen kann, werden solche Proteste meist ignoriert, brutal niedergeknüppelt oder niedergeschossen (so wie z.B. 2012 in Marikana, Südafrika, vgl. Wildcat Nr. 94, 10ff.). Dass bestimmte Forderungen zunächst (notgedrungen) immanent gestellt werden, bedeutet aber nicht, in der Immanenz verbleiben zu müssen. Robert Kurz formuliert dazu: »Wenn man unter dem Diktat einer herrschenden Konstitution steht und diese nicht unmittelbar abgeschafft werden kann, gilt es selbstverständlich trotzdem die Lebensbedürfnisse zu verteidigen und einzufordern durch diese negativen gesellschaftlichen Formen hindurch. Die Bedürfnisse notgedrungen in diesen Formen einzufordern, heißt aber noch lange nicht, sie an diese Formen zu binden oder sie überhaupt in diesen Formen wahrzunehmen. Im Gegenteil ist die grundsätzliche qualitative Differenz zwischen den materiellen und sozialen Bedürfnissen einerseits und ihrer herrschenden Formbestimmung andererseits bewusst zu machen« (Kurz 2011, 118, Hervorh. TM). Wird diese Differenz aber gar nicht wahrgenommen, etwa dadurch, dass die Lohnarbeiter/-innen sich mit ihrer kapitalistischen Existenz identifizieren, bzw. »mit ihrer eigenen Funktion im Kapitalismus und nur im Namen dieser Funktion ihre Bedürfnisse einklagen«, so »werden sie selber zu ›Charaktermasken‹ […] eines bestimmten Kapitalbestandteils, nämlich der Arbeitskraft. Sie erkennen damit an, dass sie nur ein Recht zu leben haben, wenn sie Mehrwert produzieren können« (Kurz 2013, 27, Hervorh. TM). Jede gedachte Maßnahme und Idee finden ihre Schranke im Finanzierungsvorbehalt: Tarifverhandlungen werden dann zur Mitgestaltung der eigenen Prekarisierung, Reformen zu einem Fortschreiten von Verarmung und Entsolidarisierung, und von der Politik bleibt nichts weiter übrig als ein krimineller ›Erfüllungsgehilfenverein‹ von Konzerninteressen (Steuerpolitik, laxe oder keine Umweltgesetze, Freihandelsabkommen usw.). Die Handlungsfähigkeit des Staates ist ebenso an seine Finanzierbarkeit gebunden. Stößt diese an Grenzen, so verwildert und zerfällt der Staat schlussendlich und unterscheidet sich nicht mehr wesentlich von einer Ansammlung konkurrierender Verbrecherbanden (vgl. Bedszent 2014). Engt sich der Korridor der immanenten ›Gestaltungsmöglichkeiten‹ ein, wird affirmative Kritik gegenstandslos. Tarifverhandlungen oder Ähnliches in krisengeschüttelten Ländern wie Griechenland oder erst recht in Ländern wie dem Irak wären nichts anderes als ein böswilliger Witz. Eine Interpretation dieser sozialen Katastrophen nach traditionslinkem Schema zielt an der Realität weit vorbei: »Charakteristisch für den Krisenprozess ist nicht eine etwaige Verfestigung der Klassengegensätze, sondern deren krisenbedingte Auflösung. Das Proletariat – oder, etwas weiter gefasst, die Lohnabhängigen – schwillt ja nicht immer weiter an, es verschwindet in der Krise der Arbeitsgesellschaft, es wandelt sich zuerst in ein Prekariat und dann in ein Heer ökonomisch Überflüssiger […]. Dieser Prozess der Auflösung der Lohnarbeiterschaft ist im arabischen Raum oder im subsaharischen Raum viel weiter fortgeschritten. Es gehört schon sehr viel Fantasie dazu, die brutalen Bürgerkriege im Irak, Syrien, in Somalia oder im Kongo als Formen der Klassenauseinandersetzung interpretieren zu wollen. […] Denn auch die Bourgeoisie ist in der Peripherie […] der krisenbedingten Auflösung anheimgefallen. Diese Auslöschung der Kapitalistenklassen durch das amoklaufende Kapital greift schon in der Südperipherie der EU um sich. In Griechenland hat die Krise unter der dortigen Kleinbourgeoisie härter gewütet, als es die Kommunistische Partei Griechenlands jemals erträumt hätte, indem Zehntausende von Kapitalisten binnen weniger Krisenjahre in die Pleite getrieben wurden. […] In den anomischen Zusammenbruchsgebieten gibt es keine ›herrschende Klasse‹ mehr, sondern ein beständig wechselndes Kaleidoskop mafiöser […] oder kriegsökonomischer Machtfiguren, die allesamt zumeist eine sehr kurze Regentschaft ausüben« (Konicz 2020b, 346f.). Werden also immanente Handlungsoptionen gegenstandslos, d.h. ›nicht finanzierbar‹, so stimmt man entweder im Endeffekt der eigenen Hinrichtung zu oder man fordert – theoretisch wie praktisch – Essen, Wohnung usw. ein, egal ob dies nun ›finanzierbar‹ ist oder nicht oder wie erfolgreich jemand seine ›Arbeitskraft‹ verkaufen kann. Die Absurdität der sog. bürgerlichen Freiheit wird dann deutlich, wenn beispielsweise der Zugang zu Nahrungsmitteln beschränkt wird, zur Not mit Knüppel und Tränengas, währenddessen nicht verkaufte Nahrung in den Müll geschmissen oder anderweitig entsorgt wird. Die Vernichtung von Lebensmitteln trotz Hungers hat sich in der Corona-Pandemie noch einmal verschärft (vgl. Konicz 2021). Der Gipfelpunkt der Frechheit ist, wenn jene, die der Entsorgung praktisch zu widersprechen gedenken und nicht verkauftes Brot aus dem Müll fischen, vom sog. ›Rechtsstaat‹ bestraft werden. Ebenso deutlich werden die Grenzen ›bürgerlicher Freiheit‹, wenn die ›wehrhafte Demokratie‹ Menschen aus sonst leerstehenden Wohnungen hinausprügelt. Ein anderer als ein kapitalistischer Verwendungszweck ist offensichtlich nicht vorgesehen. Das ist offenbar auch nicht ›verhandelbar‹ in der famosen Demokratie mit ihrem angeblichen ›Pluralismus‹. Gelingt also die Verwertung des Werts nicht mehr, kann sich der Mehrwert nicht realisieren, dann kommt auch die Demokratie nicht auf die Idee, die Ressourcen und Reichtümer nach anderen Kriterien als den kapitalistischen zu mobilisieren und zu verteilen, anstatt sie mangels ›Rentabilität‹ stillzulegen oder auszudünnen (vgl. Kurz 1999a, 574ff.; vgl. auch Meyer 2020). Im Gegenteil! Die bürgerliche Gesellschaft hat immer wieder gezeigt, welche Mittel sie bereit ist zu ergreifen, um den Kapitalismus vor einer (mutmaßlichen) sozialistischen Gefahr zu retten (vgl. Landa 2021). Der ›Überbau‹ des politischen Liberalismus (allgemeines Wahlrecht, Parlamentarismus, Pressefreiheit u. a.) hat sich wiederholt als entbehrlich erwiesen. Im Zweifelsfall stehen die Bluthunde Schlange, um die ›bürgerliche Ordnung‹ unter allen Umständen zu verteidigen. Im Ausnahmezustand zeigt sich der Kern der bürgerlichen Demokratie selbst. Die sog. freiheitliche demokratische Grundordnung kann damit auch kein effektives Bollwerk gegen den Faschismus sein. Dies macht etwa ein Rechtsextremist als (Ex-)Verfassungsschutzpräsident mehr als deutlich (vgl. Reuter 2019). Der gesellschaftliche Diskurs müsste die Immanenz dadurch sprengen, dass man alle Denk- und Handlungsoptionen nicht vorher schon durch ›Finanzierbarkeit‹ und irgendwelche aberwitzigen ›Konzepte‹ oder ›Pläne‹ der Politik vorentscheiden lässt. Dies setzt allerdings voraus, die objektiven Gedanken- und Daseinsformen und die sich daraus ergebenden scheinbaren Selbstverständlichkeiten überhaupt als historisch veränderbar wahrzunehmen und zu einem Gegenstand der radikalen Kritik zu machen. Es ginge also gerade nicht darum, die ›Interessen der Lohnabhängigen‹ zu vertreten, um so mit den sozialen Katastrophen fertig zu werden (vgl. Scholz 2020; vgl. auch Meyer 2019). Es ginge darum, die eigene kapitalistische Existenz und damit auch die sog. Interessen, d.h. die »bisherige, unerträglich gewordene bürgerliche Willensform« (Kurz 2006, 397, Hervorh. i.O.), der man als Arbeiter oder Arbeiterin möglichst entsprechen muss, um in dieser Gesellschaft ›bestehen‹ zu können, zu überwinden. Dazu wäre die soziale und ökologische Frage jenseits des kapitalistischen Formzusammenhangs und der binnenkapitalistischen Interessenkonflikte zu stellen. Es ist darauf zu beharren, dass alle einen materiellen Anspruch auf medizinische Versorgung, Wohnung, Essen usw. haben und zwar unabhängig von irgendwelchen Finanzierungsvorbehalten, die einem/einer vorrechnen, was noch geht und was nicht: »Die gesellschaftliche Allgemeinheit eines tatsächlich über das moderne warenproduzierende System hinausgehenden ›Interesses‹ wäre aber erstens nur als Meta-Interesse möglich, d.h. als die Entwicklung eines Interesses gegen die kapitalistische Interessenform selbst; also gewissermaßen das Interesse, endlich keinen durch die bürgerliche Konkurrenz erzwungenen ewigen ›Interessenkampf‹ mehr führen zu müssen, was nur durch die Sprengung der herrschenden Gesellschaftsordnung in ihrem Fundament möglich ist« (Kurz 1999b, 71, Hervorh. TM). Die Grenzen notwendiger Handlungsfähigkeit durch die Schranken des kapitalistischen Verwertungszwangs sind dementsprechend zu transzendieren. Die Frage ist also nicht, wie der Umwelt- und Klimaschutz oder die Rente zu finanzieren wären. In den Worten von Knut Hüller formuliert: »Beim heutigen Stand der Produktivkräfte sind ganz andere Fragen zu stellen. Z.B. ›Wollen (brauchen) wir das?‹. Danach: ›Haben wir die Mittel dazu?‹ Und ergänzend: ›Sind deren Nebenwirkungen vertretbar?‹. Sobald die kapitalistischen Beschränkungen wegfallen, eröffnen sich riesige Freiheiten, die der Kapitalismus gar nicht ausschöpfen kann. Es entfielen insbes. alle rein ›kapitalistischen‹ Hemmnisse, die Menschen von sinnvoller Tätigkeit im gemeinsamen Interesse abhalten, nur weil dabei kein ›Profit‹ genannter Vorteil für ein bestimmtes Subjekt entsteht« (Hüller 2015, 375, Hervorh. i.O.). So berechtigt die Kritik an bestehender Praxis und an allem »Handlungsfetischismus« (vgl. Böttcher 2019) auch ist, es bleibt die Notwendigkeit einer praktischen Infragestellung und Abschaffung des Kapitalismus: »Sicherlich ist es unmöglich, eine soziale Emanzipationsbewegung theoretisch vorwegzunehmen. Aber es ist möglich und notwendig, theoretisch und analytisch die Fragen einer Aufhebung der Warenform zu konkretisieren und eine öffentliche Debatte darüber zu entfalten. Der theoretische Fokus der Wertkritik hat die kritische Theorie des Fetischismus und der Wertform zu entwickeln4, aber er ist hinsichtlich der Aufhebungsfrage nicht zum eisernen Schweigen in der reinen Abstraktion verpflichtet, und er muß auch nicht auf die soziale Massenbewegung warten wie die eschatologischen Christen auf den Jüngsten Tag« (Kurz 1997, 105). Es wäre allerdings »mehr als blauäugig, anzunehmen, daß eine neue soziale Bewegung unter den Bedingungen der Krise aus dem Stand mit einer radikalen Kritik des warenproduzierenden Systems beginnen würde. Vielmehr ist es wahrscheinlich, daß eine solche Perspektive erst durch eine widersprüchliche öffentliche Debatte und durch konzeptionelle Auseinandersetzungen in den tatsächlichen Kämpfen und Konflikten vermittelt werden kann« (ebd., 95, Hervorh. i.O.). 4. Das ›liebe‹ Geld und die falsche Unmittelbarkeit diverser ›Alternativen‹Entscheidend ist es, die Zwangs-Formhülle der kapitalistischen Vergesellschaftung als solche zur Kenntnis zu nehmen und soziale und ökologische Bedürfnisse gegen diese einzufordern. Dies vor allem gegen alle Art von Sparmaßnahmen, die zur Ausdünnung etwa der medizinischen Versorgung führen, sog. Modernisierungen, die auf Kostenreduktion zielen (z.B. Digitalisierung) oder alle Art von bürgerlichen Pseudomaßnahmen gegen den Klimawandel usw. Bei letzterem wird besonders deutlich wie unsinnig und mittel- oder langfristig in Konsequenz mörderisch ›Klimaschutzmaßnahmen‹ sind, wenn sie unter der Voraussetzung einer weiteren Verwertung des Werts getroffen werden (CO2-Steuer, möglicherweise Ausstieg aus was auch immer bis vielleicht 2050ff. usw.). Dies ist »das unantastbare Axiom bei allem Vorschlägen, die Welt zu verändern. Man müsse etwas für die Umwelt tun, wird verlautet, aber auf keinen Fall unter Einschränkung der Herrschaft des Geldes, der Macht einer verrückten Subjektivität, alle Veränderungensprozesse profitabel zu gestalten […]« (Brodbeck 2012, 1124f., Hervorh. i.O.). Was notwendig getan werden muss und anhand technischer Möglichkeiten auch getan werden kann, wird darauf eingeschränkt, dass Einzelkapitale einen Profit für sich erwirtschaften können und eventuell Arbeitsplätze schaffen oder erhalten. Das worum es eigentlich geht (Umwelt- und Klimaschutz) gerinnt so zu Nebensache. In den Worten von Karl-Heinz Brodbeck: »Falls sich dadurch irgendein Effekt der Reduzierung von Umweltschäden einstellen sollte, so ist es notwendig nur ein Nebeneffekt, denn nur profitable Lösungen sind in der Welt der Sachzwänge möglich. Die Menge der profitablen technischen Lösungen zur Verhinderung des ökologischen Desasters ist sicher sehr viel kleiner als die Menge der technisch möglichen und ökologisch notwendigen Lösungen. Man muss deshalb – auch jemand, der nur in Marktlösungen denkt – die Frage stellen, ob aus der Menge der technisch möglichen Lösungen zur Eindämmung der planetaren Verwüstungen, zur Beseitigung des Hungers usw. jene Teilmenge davon, die sich profitabel ausbeuten lässt, hinreichend ist, die erkennbaren Trends umzukehren« (ebd., 1125, Hervorh. i.O.). Der Behauptung, dass die Finanzierbarkeit an Grenzen stößt, würde von vielen sicherlich entgegnet werden, dass vor dem Hintergrund zahlreicher Rettungspakete in Zuge der Krise 2008 ff. und der Corona-Krise eine Grenze scheinbar nicht vorhanden ist oder immer wieder verschoben werden kann (wie etwa die Modern Monetary Theory argumentiert): Geld sei genug da, man müsste es nur anders verteilen. Hierbei wird ein verdinglichtes Verständnis von Geld deutlich werden. Die Menge an Geld wird gleichgesetzt mit z.B. der Menge an Kartoffeln. Man tut so, als ob es sich bei 100 Euro um eine physische Menge analog zu 100 kg Kartoffeln handeln würde. Man ›hat‹ mit Geld eine Menge und kann sie aufteilen. Reicht die Geldmenge nicht, so wird Geld gedruckt, als ob man ein weiteres Feld mit Kartoffeln bepflanzen würde. Des Weiteren wird ›Finanzierbarkeit‹ mit stofflichem Aufwand oder Ähnlichem gleichgesetzt. Ist also etwas nicht finanzierbar, dann wird unterstellt, dass der Aufwand dafür nicht bewerkstelligt werden kann. Deutlich wird dies z.B. bei Rainer Fischbach: »denn alles, was die menschliche Gesellschaft schaffen kann, kann sie auch finanzieren« (Fischbach 2016, 205, Hervorh. i.O.). Finanziert werden kann nur das, wofür Finanzierungsmittel zur Verfügung stehen, was bedeutet, dass diese Finanzierungsmittel zuvor aus einem Verwertungsprozess abgegriffen worden sein müssen. Das Finanzierte trägt dann zur weiteren Verwertung des Kapitals bei (wobei es an der Konkurrenz scheitern kann) oder ›erlischt‹ im Konsum. Dabei wird deutlich, dass 100 Euro nicht gleich 100 Euro sind (Inflation, Preisschwankungen usw., vgl. Kurz 1993, 140ff.). Kapital ist ein fetischistischer Prozess, so dass Geld als physische Menge nicht fixiert werden kann. Oder in den Worten von Marx: »Das Geld ist nicht eine Sache, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis. […] [D]ieses Verhältnis [ist] nur ein einzelnes Glied in der ganzen Verkettung der ökonomischen Verhältnisse und als solches aufs innigste mit ihr verbunden und […] dieses Verhältnis [entspricht] ganz in demselben Grade einer bestimmten Produktionsweise […] wie der individuelle Austausch« (Marx 1990, 107). Wird die Finanzierung immer prekärer, dann kann sie gedehnt werden durch Kredit. Oder man verbessert die Finanzierbarkeit, indem man die Finanzierung zurückfährt. Mit der Austeritätspolitik und sog. Strukturanpassungsprogrammen werden die Ausgaben reduziert, in der Hoffnung, der Verwertungsprozess würde ›danach‹ wieder anlaufen, so dass die Infrastruktur usw. wieder aus regulären Steuern finanziert werden könnte. Angesichts von Staatspleiten, Inflation, maroder Infrastruktur, steigenden Kosten usw. kommt die Dehnung der Finanzierbarkeit an ihre Grenzen. Versuche, die Finanzierbarkeit wiederherzustellen oder aufzubessern, dürften also immer mehr ins Leere laufen und nichts anderes zufolge haben, als dass Leben in den kapitalistischen Real-Kategorien zunehmend verunmöglicht wird (zumal die Finanzierbarkeit des Menschen den erfolgreichen, d.h. rentablen Verkauf von Arbeitskraft impliziert). Das heißt nichts anderes, als dass Produktion und Konsumption auf ihren Beitrag zur Verwertung des Werts (G-W-G’) beschränkt werden. Hungersnöte und gleichzeitige Massenvernichtung von Lebensmitteln sind die Folge. Statt dass diverse Linke allerhand alternative Finanzierungskonzepte oder im Anschluss an kleinbürgerliche ›Kapitalismuskritiken‹, alternatives Geld (wie z. B. Vollgeld, Regionalgeld, vgl. Hüller 2014; vgl. ders. 2015, 308ff.) aushecken, wäre ihnen angeraten, vielmehr die Zumutungen und mörderischen Konsequenzen des Finanzierungsvorbehaltes auszubreiten. Nieder mit dem Lohnsystem (vgl. Marx 1955, 77) sollte die Losung sein und auf keinen Fall ›Her mit dem alternativen Lohnsystem‹ oder ähnlicher Blödsinn. Sog. Regionalgeld ist ein Thema, das in Postwachstumskreisen (auch in Commonskreisen und anderen ›alternativen Ökonomien‹) diskutiert wird. Nicht die Geldform als solche soll abgeschafft werden, sondern offenbar nur das ›falsche Geld‹. Ein häufiges Thema kleinbürgerlicher Kapitalismuskritik ist die Frage nach dem ›richtigen Geld‹, seien es »›Schwundgeld‹ (nach Gesell), ›Schuldgeld‹ (Debitismus) und ›Vollgeld‹ (insbes. in Form der goldgedeckten Währung) […]. Allen ist gemeinsam, dass sie nicht Arbeit als Quelle von Wert ansehen und Geld als Ausdruck verquerer gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern Wohlergehen mit idealisierten Vorstellungen von Geld verbinden, während real Missstände und die eigene Frustration dinglichen Eigenschaften des heutigen ›falschen‹ Geldes angelastet werden« (Hüller 2015, 308). Die Wirkung von Regionalgeld wäre, die »Nachfrage von entfernten Anbietern zu örtlichen umzulenken. Eine generelle Einführung von Lokalgeldern (wie es manche Fraktionen der ›Geldkritiker‹ fordern) liefe deshalb auf ein Zurückdrehen des Vergesellschaftungsprozesses hinaus, was seit jeher eine heimliche Sehnsucht vieler vom Kapitalismus gebeutelter Kleinbürger ist« (ebd., 311, Hervorh. TM). Genau diese Wirkung ist es, die sich Postwachstumsökonomen wie Niko Paech von Regionalwährungen erhoffen. Sie könnten eine »räumliche Entflechtung unterstützen« (Paech 2019, 117). Als Problem werden die globalen Verflechtungen angesehen, wie sie sich im Zuge der sog. Globalisierung ausgeprägt und in der Tat verrückte ›Produktions- und Distributionszusammenhänge‹ gebildet haben, nicht aber die kapitalistische Verwertungslogik, die sich auch im Regionalen zeigt. Für Paech dagegen »können [Regionalwährungen] Kaufkraft an die Region binden und damit globale Abhängigkeiten tilgen (!). So würden die Vorteile einer geldbasierten Arbeitsteilung zwar weiterhin (!) genutzt, jedoch maßvoll (!) und innerhalb eines de-globalisierten, folglich krisenresistenteren (!) und verantwortbareren Rahmens« (Paech 2014, 242). Man muss sich zu Gemüte führen, auf was ein »Zurückdrehen des Vergesellschaftungsprozesses«, also eine ›Strukturverkleinerung‹ der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, ohne diese selbst abzuschaffen, hinauslaufen würde. Ein Zurück-aufs-Land, wie es in Griechenland praktiziert wird, ist nur für eine kleine Zahl der Menschen als ›Krisennotlösung‹ gangbar, im Unterschied zum Großteil der Stadtbewohner/-innen. Ein Zurück-aufs-Land, ein Small-is-beautiful5, eine »Reduktion des Fremdversorgungsgrades (!)« (Paech 2019, 113) würde zum Elend und womöglich zum Hungertod von Millionen führen. Angesichts der hereinbrechenden Krise(n) könnte sich die Postwachstumsökonomie als brutaler Weg der ›Krisenbewältigung‹ herausstellen. Sicherlich ist es angesichts der teils vollkommen absurden kapitalistischen Distributionsketten sinnvoll, diverse Dinge lokal zu erledigen. Es gibt aber viele Dinge, die nur Resultat einer komplexen ›Arbeitsteilung‹ bzw. einer ›stofflich-technischen Funktions- und Organisationsteilung‹ sein können, die keinesfalls lokal erledigt werden könnte (wie das technische Equipment der medizinischen Versorgung, die Herstellung von Medikamenten und die Produktion von Solarzellen usw., ganz zu schweigen von Infrastruktur: Wasserversorgung, Abwasser u.a.). Die entscheidende Frage ist also nicht ›lokal oder global‹, sondern wie gelangt man zu einer Produktionsweise, in der Produktion und Verteilung von allen Gesellschaftsmitgliedern geplant und durchgeführt werden, ohne dass zwischen die Menschen ein fetischistisches Medium tritt, dem sie dann unterworfen sind? Dies muss logischerweise mit ökologischer Verträglichkeit einhergehen. In den Worten von Robert Kurz: »Autonomie heißt nämlich nicht, alles selber zu machen und die Reproduktion unter ein borniertes Gemeinschafts-Ethos zu zwingen. Autonomie bedeutet vielmehr gerade umgekehrt, daß sozialökonomische Beziehungen keinem äußeren, irrationalen und fetischistischen Zwangsverhältnis mehr unterliegen, sondern auf einer bewußten und freien Kommunikation beruhen, die dem Individuum Eigensinn, Entfaltungs- und Rückzugsmöglichkeiten bietet. Es gilt also, ein soziales Terrain der Autonomie in diesem Sinne zu besetzen, das nur leben kann, wenn es sich nicht regressiv abschottet, sondern in vielfältige und weitreichende Beziehungen tritt, die gerade die irrationalen nationalen, religiösen und ›ethnischen‹ Bezüge, wie sie in der Geschichte der Modernisierung zu Ausgrenzungsmustern der Konkurrenz geworden sind, durchbrechen und aufheben können, statt sie zu zementieren« (Kurz 1997, 78f.). Aufgrund der Ignoranz gegenüber dieser ›Autonomie‹ überrascht es also wenig, dass die Postwachstumsbewegung auch in rechten bzw. rechtsextremen Kreisen Gehör und Anerkennung findet.6 5. Stofflicher vs. abstrakter Reichtum – Zur Kritik des WachstumsVor dem Hintergrund der ›doppelten Natur‹ des kapitalistisch produzierten Reichtums bleibt unklar, was ›mehr‹, ›weniger‹, ›wachsen‹ oder ›schrumpfen‹ genau bedeuten. Mit Ortlieb wäre also im Unterschied zu der Postwachstumsbewegung »von einem historisch spezifischen doppelten Reichtumsbegriff aus[zugehen], wie er im Doppelcharakter von Ware und Arbeit repräsentiert ist« (vgl. Ortlieb 2009, 23; vgl. auch Postone 2003, 287ff.). So steht im Kapitalismus der Wert als die herrschende Form des Reichtums dem stofflichen Reichtum gegenüber. Ein grundlegender Denkfehler liegt darin, diese beiden Reichtumsformen in eins zu setzen, wie dies bei der Postwachstumsbewegung der Fall ist. Es kommt aber auf die Akkumulation von Wert an, also die Produktion von Mehrwert, d.h. auf die Produktion von abstraktem Reichtum, und eben nicht auf die Produktion von stofflichem, also wirklichem Reichtum, auch wenn dieser »als Träger des Werts unverzichtbar bleibt« (Ortlieb 2009, ebd.). Dabei ist zur Kenntnis zu nehmen, dass »auch der stoffliche Reichtum in der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft nicht derselbe ist wie in nicht kapitalistischen Gesellschaften, sondern die Gestalten, in denen er auftritt, ihrerseits vom wertförmigen Reichtum geprägt werden« (ebd., 27). Wie es Marx in dem ›Maschinenfragment‹ der Grundrisse bereits vorgezeichnet hat, geraten diese beiden Formen des Reichtums durch die kapitalistische Verwertungsdynamik historisch zunehmend in Widerspruch. Marx bezeichnete diese Dynamik des Kapitals als »prozessierenden Widerspruch«, der »die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren [strebt], während [er] andererseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt« (Marx 1953, 593). Sobald aber »die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muß aufhören die Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der Tauschwert (das Maß) des Gebrauchswertes« (ebd.). Durch diesen prozessierenden Widerspruch wird eine Dynamik in Gang gesetzt, die schlussendlich dazu führt, dass »die auf dem Tauschwert [be]ruhende Produktion zusammen[brechen]« (ebd.) wird. Der Kapitalismus prozessiert also auf eine innere Schranke zu. Der Kapitalismus findet nach der Postwachstumsbewegung eine äußere Schranke in den begrenzt verfügbaren Ressourcen. Eine innere Schranke, d.h. eine Schranke, die in der Verwertungsbewegung des Kapitals selbst begründet liegt und nicht in der Begrenztheit der Ressourcen, bleibt in der Postwachstumsbewegung unthematisiert und offenbar undenkbar. Somit bleibt unklar, was die genauen gesellschaftlichen Mechanismen nun sind, welche Wachstum erzwingen. Obgleich der stoffliche Output stets im Steigen begriffen ist, so heißt dies nicht, dass das für die Produktion und Realisation des Werts bzw. des Mehrwerts gleichermaßen gilt. Wie Ortlieb zeigte (vgl. Ortlieb 2009; vgl. auch Kurz 1994, 1986) schrumpft der Wert einer einzelnen Ware im Zuge von Produktivitätssteigerungen, so dass eine Ware tendenziell weniger Arbeit vergegenständlicht. Die gesamte Wertmasse sinkt, sofern der sinkende Wert pro Ware nicht durch eine Erhöhung des gesamten Warenausstoßes überkompensiert wird, durch Ausdehnung der Märkte, Reduzierung der Fixkosten, Beschleunigung des Transports, Reduzierung von Lagerzeiten, Verbilligung der Ware Arbeitskraft usw. Diese Kompensationsmechanismen haben ihrerseits ihre Grenzen und lassen sich nicht in alle Ewigkeiten dehnen. Jedenfalls wird durch Einbezug der werttheoretischen Ebene deutlich, wie der stoffliche Wachstumszwang der Wertverwertung dynamisch erzeugt wird (G-W-G’!). Das Einzelkapital (d.h. private sowie staatliche Unternehmen) verwirklicht dann denjenigen Anteil des gesamtgesellschaftlich geschaffenen (Mehr-)Werts, also der (Mehr-)Wertmasse, den es durch Konkurrenz auf sich ziehen kann, und keineswegs denjenigen Anteil, der in seinen eigenen vier Wänden produziert wurde (vgl. Marx 1953, 444f.). Es setzt sich derjenige in der Konkurrenz durch, der am billigsten anbietet, also der am erfolgreichsten seine Kosten reduziert. D.h. dasjenige Kapital setzt sich in der Konkurrenz durch, das die Grundlage der Verwertung, also die Verwertung von Arbeitskraft, am erfolgreichsten untergräbt. Im Zuge der dritten Industriellen Revolution wird absolut mehr rentable Arbeit wegrationalisiert, als neue arbeitsintensive Bereiche geschaffen werden können. Der Kapitalismus befindet sich damit in einer grundsätzlichen Verwertungskrise. Ausdruck (nicht Ursache!) davon ist der sich ins Unermessliche ausdehnende Finanzsektor der letzten Jahrzehnte. Der Finanzkapitalismus kann durch scheinbar endlose Kreditketten und Staatsverschuldung die Entwertung hinauszögern. Wenn dies aber nicht mehr gelingt, der Kapitalismus die von ihm produzierten Reichtümer seinen eigenen Kriterien gemäß nicht mehr mobilisieren kann, wird die Produktion gestoppt, die Infrastruktur wird zurückgefahren und geschlossen. Wenn sich der (Mehr-)Wert durch erfolgreiches Verkaufen nicht mehr realisieren kann, dann ist die zugehörige Produktion gesellschaftlich ungültig bzw. ungültig gewesen und jene Bedürfnisse, die sich nicht mehr in zahlungskräftiger Nachfrage äußern können, sind null und nichtig. D.h. in einer krisengeschüttelten Gesellschaft werden die Produktion und der Konsum mangels Finanzierbarkeit ohnehin zurückgefahren und jene Bereiche, die trotz allem noch Verwertungspotential oder Einsparmöglichkeiten versprechen, werden umso hemmungsloser ausgeschlachtet. Daraus folgt, dass im Prozess des Schrumpfens der Wertmasse es dennoch zu noch größeren Umweltschäden und zu noch größerer Verschwendung kommen kann, als gäbe es kein Morgen (man denke etwa an die beschleunigte Vernichtung der Regenwälder). Es gibt also eine Wachstumskrise des abstrakten Reichtums. Doch obgleich der stoffliche Output und der Energieverbrauch nicht schrumpfen, wächst der Wert keineswegs gesamtgesellschaftlich, da der Teil der verausgabten Arbeit sinkt, der selbsttragend rentabel verausgabt werden kann, ohne dass durch Kredit, also durch Vorwegnahme künftigen Mehrwerts, seine Verwertungsmöglichkeit verlängert wird. Die Vorwegnahme künftigen Mehrwerts kann durch eine erfolgreiche Verwertung, also durch Akkumulation von angewandter Arbeitskraft und durch Verkaufserfolg entsprechender Waren, realisiert werden, wie dies im Fordismus noch geschah. Geschieht dies nicht, so erhält der Kapitalismus seine Gegenwart durch Verbrauch seiner Zukunft. Im Zuge von Entwertungsschocks schrumpft die Wirtschaft in der Tat. Dies hat nichts damit zu tun, dass man sich nun einer sparsameren und nachhaltigeren Verwendung von Rohstoffen usw. gewahr wird, sondern es sind die Resultate von Restriktionen gemäß dem Finanzierbarkeitskriterium. Was nicht finanziert werden kann, weil gesamtgesellschaftlich nicht genügend Arbeit rentabel verausgabt wurde, wird stillgelegt. Weil all dies nicht thematisiert wird, ist die Postwachstumsbewegung anschlussfähig an eine repressive Krisenverwaltung (besonders deutlich ist dies bei dem erzreaktionären »Gesundheits- und Mitweltökonomen« Hans-Peter Studer, der ganz offen aus Kostengründen (!) den medizinischen Sektor schrumpfen möchte, vgl. Meyer 2021, 164f.). 6. Natur-Gesellschafts-DialektikDer Stoffwechselprozess mit der Natur (der auch ein Stoffwechselprozess der Gesellschaft mit sich ist) hat einerseits das ›Gedeihen‹ der Natur zur Voraussetzung. Andererseits ist der Stoffwechselprozess technisch vermittelt. Dabei ist die Technik nicht beliebig, sondern sie hat eine gewisse ›Zugänglichkeit‹ der Natur (verfügbare und abbaubare Rohstoffe, technisch ausnutzbare Möglichkeiten) als Grundlage. Technik dient dazu der Natur Energie und ›angemessene Stoffumformung‹ zu ›entlocken‹, was irgendeine Art von ›Eingriff‹ in die Natur impliziert. Die Natur bleibt dabei nicht mit sich ›identisch‹, sondern ihre Dynamik müsste in den Stoffwechselprozess mit der Natur miteinbezogen werden. Die Natur müsste nicht nur ›verbraucht‹ werden, sondern auch (re)produziert (nachhaltige Landwirtschaft etwa). Entscheidend sind dabei die Stoff- und Energieflüsse während des gesamten Produktions- und Distributionsprozesses und wie diese sich auf die Natur auswirken (und wie diese sich wiederum auf die (Re)Produktion auswirkt, z.B.: Auslaugung der Böden – Anbauprobleme – Gefährdung der Ernährung). Entsprechende Kenntnisse und ihre Anwendung sind klarerweise zu entfalten und zwar gegen den sog. Finanzierungsvorbehalt und gegen das zugrunde liegende Profitmotiv des Kapitals. Hierbei ist zu betonen, dass der dazu notwendige Zeithorizont sich grundsätzlich von einer ›kapitalistischen Denkweise‹ (Quartalszahlen usw.) unterscheiden muss. Da das Kapital stets bestrebt ist, die Produktionszeit zu verkürzen, so nimmt es klarerweise keine Rücksicht auf die Produktionszeit der Natur wie bereits Marx anhand der ›Waldzucht‹ erkannte: »Die lange Produktionszeit (die einen relativ nur geringen Umfang der Arbeitszeit einschließt), daher die Länge ihrer Umschlagsperioden, macht die Waldzucht zu einem ungünstigen Privat- und daher kapitalistischen Betriebszweig, welcher letztere wesentlich Privatbetrieb ist, auch wenn statt des einzelnen Kapitalisten der assoziierte Kapitalist auftritt. Die Entwicklung der Kultur und Industrie überhaupt hat sich von jeher so tätig in der Zerstörung der Waldungen gezeigt, daß dagegen alles, was sie umgekehrt zu deren Erhaltung und Produktion getan hat, eine vollständig verschwindende Größe ist« (Marx 1975, 246f.; vgl. auch Saito 2016, 292ff.). Es ist klar, dass ein betriebswirtschaftlicher Standpunkt zu einem Blickwinkel der ›Produktionszeit der Natur‹ grundsätzlich nicht in der Lage ist, interessieren ihn doch nur entsprechende ›Geldflüsse‹ und die ›Kosten‹ für das eigene Kapital. Kommen dann noch Aspekte jenseits der eigenen einzelkapitalistischen Perspektive in den Blick, dann meist erst im Nachhinein, meist als unsinnige oder wirkungslose Versuche des Staates Schäden zu kompensieren oder regulierend einzugreifen (z.B. durch Steuern oder End-of-Pipe-Technologien). Eine Natur-Gesellschafts-Dialektik müsste also ausbreiten »wie wir Menschen in unserer gesellschaftlichen Praxis die Natur beherrschend übergreifen und gleichwohl von dieser zugleich lebendig umgriffen werden« (Schmied-Kowarzik 2018, 115). Es wäre also zu zeigen, welche gesellschaftlichen und technischen (Produktion)-Prozesse wie und auf welche Weise sich auswirken und wie dem abzuhelfen ist. Es müsste also der Stoffwechselprozess mit der Natur »in die bewusste Regulation der Gesellschaftsproduktion einbezogen werden« (Saito 2016, 198), und zwar durch eine gesellschaftliche Verständigung über den sinnvollen Umgang mit der Natur und ihren Rohstoffen. Dies gilt um so mehr bei Rohstoffen, die nicht nachwachsen. Dazu wäre »eine vernünftige Organisation der Gesellschaft erforderlich. Vernunft heißt in dieser Hinsicht nichts anderes als eine Reflexion der Naturzusammenhänge im Bewußtsein und ein entsprechendes Verhalten bei der gesellschaftlichen Umgestaltung der Natur, das sinnlosen Raubbau und destruktive Nebenwirkungen vermeidet« (Kurz 2002). Dabei ist dies alles kein allein quantitatives Problem. Dem destruktiven kapitalistischen Naturge- und -verbrauch wäre also nicht allein durch Stilllegung und Abschaffung beizukommen. Vorschläge einiger Ökosozialisten7 wie Bruno Kern und Saral Sarkar (von der Initiative Ökosozialismus) sich vom ›Industrialismus‹ – im Anschluss an die Postwachstumsbewegung – als solchem zu verabschieden, um einen Ökosozialismus auf vor allem lokaler Ebene zu propagieren, sind doch ein wenig übereilt (vgl. Sarkar 2010; vlg. auch Kern 2019). Es ginge im Unterschied dazu vielmehr darum, »die materiellen Produktionsbedingungen selbst auf gesamtgesellschaftlicher Ebene umzuwälzen und die Bedürfnisse ebenso wie die Erhaltung der Naturgrundlagen zum Zweck zu machen. Das bedeutet, dass es keine unkontrollierte Entwicklung nach dem abstrakt-allgemeinen Kriterium der sogenannten betriebswirtschaftlichen Rationalität mehr geben kann. Die verschiedenen Momente der gesellschaftlichen Reproduktion sind in ihrer inhaltlichen Logik zu berücksichtigen. Beispielsweise kann die medizinische Versorgung ebensowenig wie das Bildungswesen nach demselben Muster organisiert werden wie die Produktion von Bohrmaschinen oder Kugellagern. […] Auch innerhalb der Industrie selbst muss die Logik des Werts überwunden werden, die Produktivkräfte in Destruktivkräfte verwandelt und gleichzeitig lebensnotwendige Bereiche mangels ›Rentabilität‹ ausdünnt. So ist die Mobilität nicht ersatzlos zu streichen oder auf das Niveau von Eselskarren zu reduzieren, sondern aus der destruktiven Form des automobilen Individualverkehrs in ein qualitativ neues Netz öffentlicher Verkehrsmittel zu überführen. Die ›Exkremente der Produktion‹ (Marx) können nicht länger in die Natur ausgeschüttet werden, statt sie in einen industriellen Kreislauf zu integrieren. Und die kapitalistische ›Verbrennungskultur‹ kann nicht beibehalten werden, sondern ein anderer Umgang mit den fossilen Energiestoffen ist erforderlich. Schließlich wird es notwendig, die von Wert und abstrakter Arbeit nicht erfassbaren Momente der Reproduktion, die von der offiziellen Gesellschaft abgespalten und historisch an Frauen delegiert wurden (Haushaltstätigkeit, Betreuung, Fürsorge etc.) bewusst gesellschaftlich zu organisieren und von ihrer geschlechtlichen Fixierung abzulösen. Eine solche umfassende Diversifizierung von industrieller Produktion und Dienstleistungen nach rein inhaltlichen Kriterien ist etwas ganz anderes als ein abstrakter Anti-Industrialismus; aber sie verlangt die Abschaffung der kapitalistischen Vernunft, der Synthesis durch den Wert und des daraus resultierenden betriebswirtschaftlichen Kalküls« (Kurz 2013, 29f.). 7. SchlussbemerkungenDie hier angedeuteten ›Problemfelder‹ sollten zum theoretischen Minimum einer jeden kapitalismuskritischen Position gehören. Aus dem Unbehagen oder dem Leiden in oder an der Moderne folgt noch lange keine radikale Kritik. Oft werden Einzelaspekte hervorgehoben und zum zentralen Problem erklärt und die daraus gefolgerte ›Alternative‹ beschränkt sich häufig auf ein alternatives Weiter-So. Trotz aller Dringlichkeit (Klimawandel usw.) und der Notwendigkeit sich gegen Zumutungen aller Art zu wehren, sollte man sich nicht dazu versteifen, bar aller ernsthaften Theorie blind und blöd ›zur Tat zu schreiten‹, um sich in pseudokritischen Schein-Alternativen einzudecken, womit man effektiv der notwendigen theoretischen und praktischen Kritik ausweicht und schlimmstenfalls Teil einer repressiven Krisen(selbst)verwaltung wird. Zu schnell verorten sich so manche als bereits jenseits des Kapitalismus Seiende, obwohl ihre vermeintlichen Alternativen doch nur auf Surrogate von Markt und Staat zurückgreifen. Dem Drang, praktisch zu werden und rein immanente Notbehelfe schon weitgehend für das Ende der Fahnenstange zu halten, ist entschieden entgegenzutreten, selbst wenn es sich als sinnvoll erweist, ›reale Spielräume‹ zu nutzen. Es ist daher auf der Notwendigkeit einer kategorialen Kritik im Sinne einer »konkreten Totalität« (Scholz 2009) zu beharren. Mit ihr wäre es möglich, von vornherein Pseudoalternativen auszusortieren, die auf nichts anderes als auf eine Krisen- und Elends(selbst)verwaltung der Überflüssigen hinauslaufen würde (und sei es durch ›alternative Räume‹, in denen man angehalten ist/wird, die eigene und anderer Heteronomie autonom zu ›gestalten‹). Aufgabe der Linken bzw. emanzipatorischer Kräfte wäre also, entgegen schlechter linker Gewohnheit, sich einer kategorialen Kritik nicht länger zu verweigern. Von jenen Linken jedoch, die in ihrer ›Szene‹ versacken und versauern, wird das allerdings nicht zu erwarten sein (welche Fossilien zum Teil immer noch unterwegs sind, kann man auf der alljährlichen Rosa-Luxemburg-Museums-Konferenz in Berlin erleben). Autor/-innenkollektiv: Wildcat Nr. 94, Köln Frühjahr 2013. Bedszent, Gerd: Zusammenbruch der Peripherie – Gescheiterte Staaten als Tummelplatz von Drogenbaronen, Warlords und Weltordnungskriegern, Berlin 2014 Böttcher, Herbert: Kapitalismuskritik und Theologie – Versuch eines Gesprächs zwischen wert-abspaltungskritischem und theologischem Denken, in: Nein zum Kapitalismus, aber wie?, 2. Aufl., Koblenz 2015,117–163. Böttcher, Herbert: Wir müssen doch etwas tun! – Handlungsfetischismus in einer reflexionslosen Gesellschaft, 2019, auf exit-online.org, zuerst in: Ökumenisches Netz Rhein-Mosel-Saar (Hg.): Die Frage nach dem Ganzen – Zum gesellschaftskritischen Weg des Ökumenischen Netzes anlässlich seines 25jährigen Bestehens, Koblenz 2018, 357–380. Brodbeck, Karl-Heinz: Die Herrschaft des Geldes – Geschichte und Systematik, Darmstadt 2. Aufl. 2012. Ebert, Georg; Koch, Gerhard; Matho, Fred; Milke Harry: Ökonomische Gesetze im gesellschaftlichen System des Sozialismus, Berlin 1969. Fischbach, Rainer: Mensch, Natur, Stoffwechsel – Versuche zur Politischen Technologie, Köln 2016. Hüller, Knut: Der unkapitalistische Kapitalismus der C. Felber & Co – Warum Geld die Geldwirtschaft nicht vor sich selber retten kann, 2014, auf streifzuege.org. Hüller, Knut: Kapital als Fiktion – Wie endloser Verteilungskampf die Profitrate senkt und ›Finanzkrisen‹ erzeugt, Hamburg 2015. Kern, Bruno: Das Märchen vom grünen Wachstum – Plädoyer für eine solidarische und nachhaltige Gesellschaft, Zürich 2019. Kloos, Dominic: Alternativen zum Kapitalismus – Im Check: Gemeinwohlökonomie, in: Ökumenisches Netz Rhein-Mosel-Saar (Hg.): Die Frage nach dem Ganzen – Zum gesellschaftskritischen Weg des Ökumenischen Netzes anlässlich seines 25jährigen Bestehens, Koblenz 2018, 299–356. Konicz, Tomasz: Der linke Blödheitskoeffizient – Dummheit ist der beste Verbündete des linken Opportunismus – dies macht der aktuelle Krisenschub mal wieder evident, 2020a, auf exit-online.org. 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Dieser Text ist ein überarbeiteter Auszug aus: Meyer 2021/2022.^ Das heißt aber nicht, dass es falsch oder sinnlos wäre, für Kündigungsschutz und würdige und gesunde Arbeitsbedingungen u. Ä. zu streiken.^ So heißt es beispielsweise in einem Buch der Parteihochschule Karl Marx beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands: »Warenproduktion und Wertgesetz sind keine Überbleibsel der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Sie haben ihre eigenen sozialökonomischen Grundlagen in der sozialistischen Produktionsweise. Die Ware-Geld-Beziehungen wirken nicht auf Grundlage sozialistischer Produktionsverhältnisse, sondern sozialistische Ware-Geld-Beziehungen sind den gegebenen Produktionsverhältnissen immanent« (Ebert; Koch; Matho; Milke 1969, 145).^ Zu ergänzen wäre das geschlechtliche Abspaltungsverhältnis, vgl. Scholz 2011.^ Wie Rainer Fischbach betont, verhält es sich keineswegs so, dass lokale Kleinproduktion nachhaltiger und ressourcensparender als eine Fabrik sein muss, vgl. Fischbach 2016, 161ff.^ Vgl. dazu: Matteoni, Federica: Antikapitalistische Querfront – In Italien prägen die Theoreme des Postwachstums die Fünf-Sterne Bewegung, jungle.world vom 11.2.2016, sowie Bierl, Peter: Zurück zu den Wurzeln, jungle.world vom 16.7.2020. Auch der AfD-Faschist Björn Höcke (der bereits vor seiner AfD-Zeit unter dem Pseudonym Landolf Ladig in faschistischen Zeitschriften publizierte) äußerte sich wiederholt kritisch zum ›Wachstum‹. Vgl. auch: https://andreaskemper.org/2021/08/18/hoecke-bleibt-ladig/.^ Dem Thema Ökosozialismus wird sich ein Text in der exit! Nr. 19 ausführlich widmen. Erscheint Frühjahr 2022.^ |