Gemeinsame Veröffentlichung von exit! und Ökumenischem Netz im Netz-Telegramm 1.2021
Zwischen Selbstbezüglichkeit und Solidarität?Corona in der Leere des KapitalismusHerbert Böttcher/Leni Wissen1. Monitor - ein Blitzlicht in Corona-ZeitenIn der Fernsehsendung ‚Monitor‘ des WDR von Anfang Dezember 2020 wurden zwei Phänomene in Verbindung gebracht, die als ein Blitzlicht auf die gesellschaftliche Situation in Corona-Zeiten verstanden werden können: das Pochen auf Freiheit und Demokratie in rechten Bewegungen und die verschärften Repressionen gegen Flüchtende. Am Beispiel Bautzen wurde gezeigt, wie die Rechte in ihrer Verbindung zu Verschwörungsphantasten und Corona-Leugnern zu einem ‚neuen Selbstbewusstsein‘ gefunden hat und sich fest in einer Stadtgesellschaft etabliert hat. Ins Bild kommt ein Kinderspielladen in der Innenstadt, in dem ein Superheld auf einem Plakat an der Tür darauf hinweist, dass hier auch Menschen ohne Masken willkommen sind. Im Schaufenster ist rechte Lektüre ausgestellt. Schon die Eingangsszene ist bedrohlich: Der Blick fällt auf eine 50km lange Strecke, an der Menschen mit Reichsflaggen und Deutschlandfahnen ausgestattet ihren Unmut gegen die ‚Corona-Diktatur‘ äußern; und das trotz massiv ansteigender Zahlen in der eigenen Region. Es folgt ein Beitrag über den neuen Asyl- und Migrationspakt der EU: Nach Schließung der Mittelmeerroute nehmen Menschen die riskantere Route über den Atlantik. Die Ankunftsorte sind die Kanarischen Inseln. Zu befürchten ist, dass Menschen in Lager mit ähnlichen Zuständen wie auf Moria gesteckt werden. Das Problem der beklagten zu langen Verweildauern in den Auffanglagern könne durch Erleichterung von Abschiebungen ‚gelöst‘ werden. Vielleicht – so der Kommentar des Beitrags – exekutiere Spanien hier schon einmal das, was die EU im großen Stil plane: einen neuen Asyl- und Migrationspakt. In seinem Zentrum steht – wie es heißt – ein ‚robustes Management‘ an den Außengrenzen der EU sowie ‚faire‘ und ‚effiziente‘ Verfahren. Es geht vor allem darum, Geflüchtete in der Nähe der Grenzen unterzubringen. Dabei dürfen sie ‚bei Bedarf‘ auch inhaftiert werden. Den ‚Bedarf‘ festzustellen, liegt im Ermessen der Mitgliedstaaten. Das ‚robuste Management‘ wird schon einmal eingeübt im Kampf gegen Rettungsschiffe, mit deren Einsatz Hilfsorganisationen Flüchtende aus Seenot retten wollen. Sie werden aus den absurdesten Gründen festgesetzt, z.B. mit der Begründung, ein Schiff habe zu viele Rettungswesten an Bord. Die beiden Blitzlichter machen Gegensätze deutlich, die in den Auseinandersetzungen um Corona aufeinander prallen und zugleich wirr durcheinander gehen: Freiheit und Ausnahmezustand, Selbstbezüglichkeit und Solidarität, Sozialdarwinismus und Humanität. ‚Wutbürger‘, die den demokratischen Aufstand gegen den Ausnahmezustand einer sog. ‚Corona-Diktatur‘ proben, haben wenig gegen den demokratisch exekutierten Ausnahmezustand gegen Geflüchtete einzuwenden bzw. haben darauf gedrungen und ihren politischen Willen dazu im Anzünden von Flüchtlingsunterkünften demonstriert – in Zeiten, als es noch nicht um Corona ging, sondern die vermeintliche Bedrohung durch Geflüchtete im Fokus stand. Von Protesten der ‚Wutbürger‘ unterscheiden sich die Proteste der ‚Anständigen‘, die Freiheit und Demokratie verteidigen, und stehen ihnen doch nahe. ‚Wutbürger‘ und ‚Anständige‘ treffen sich darin, als dass sie beide ‚Illusionen‘ nachjagen und vermeiden es, diese mit der Realität zu konfrontieren. Hiermit eng verbunden ist der gemeinsame Hang zur ‚Selbstbezüglichkeit‘ im Sinne einer Unfähigkeit, die Welt außerhalb des eigenen Universums wahrzunehmen. Schlussendlich endet bei beiden ‚Solidarität‘ da, wo die eigenen Grenzen der Freiheit – egal ob real oder imaginiert – befürchtet werden. Es geht um die eigene Freiheit als Selbstbehauptung. Von den ‚Wutbürgern‘ unterscheiden sich die ‚Anständigen‘ dadurch, dass sie den demokratischen Anstand wahren und sich an die Spielregeln halten. Zu denen gehört aber als integraler Bestandteil der Ausnahmezustand. Er wird zum Schutz der demokratischen Freiheiten gegenüber denen in Stellung gebracht, die vor Verhältnissen fliehen, in denen der Freiheit zum Leben und der Freiheit vor Repression die Grundlage entzogen ist – nicht zuletzt durch die Freiheit der ‚Anständigen‘, die auf dem Recht auf ‚freie Fahrt für freie Bürger‘ bestehen und das nicht nur im Blick auf den Autoverkehr, sondern vor allem auf die Verkehrsformen der kapitalistischen Normalität, die von der Zerstörung der Lebensgrundlagen nicht zu trennen ist. Bleiben noch die ‚Humanen‘ und ‚Solidarischen‘. Ausgerechnet die sozialdarwinistischer Selektion alles andere als abgeneigte FDP entdeckte in ihren Plädoyers für Lockerungen die soziale Benachteiligung ärmerer Kinder bei der Schließung von Schulen und die soziale Inhumanität der Kontaktbeschränkungen. Daneben finden sich in der wirren und irren Gemengelage diejenigen, die ‚gute Menschen‘ bleiben wollen oder das Bedürfnis haben, ihre ‚Hände in Unschuld‘ zu waschen. Humanität und Solidarität blühte bereits in der Willkommenskultur 2015 und der Bereitschaft, Geflüchtete gastfreundlich aufzunehmen auf. Sie war aber schnell verflogen, als sich herausstellte, dass solche Aufnahme angesichts der sich verschärfenden Krisenverhältnisse nicht so einfach ‚zu schaffen‘ war. Die Parole der Bundeskanzlerin „Wir schaffen das“ wendete sich dann auch schnell zur Verschärfung der Repressionen gegen Geflüchtete (vgl. Böttcher 2016). Dagegen meldete sich nur noch wenig Protest. Ebenso schnell verschwanden in der Corona-Krise die zunächst geteilte Humanität und Solidarität aus großen Teilen der Bevölkerung, als klar wurde, dass sich die Einschränkungen länger hinziehen würden. Eingeklagt wurden sie nun vor allem von Politikern, die über Jahrzehnte das hohe Lied der ‚Eigenverantwortung‘ gesungen hatten, als es darum ging, den Sozialstaat abzuwickeln, und die Individuen auf Ich-AG‘s zu programmieren. Jetzt ist der Jammer groß, wenn festgestellt wird, dass sich der Hebel vom ‚homo oeconomicus‘ nicht einfach auf Solidarität umlegen lässt und der Druck stärker wird, der eine möglichst schnelle Rückkehr zur kapitalistischen Normalität und ihren ‚natürlichen‘ Selektionsmechanismen fordert. „Man könne ja nicht die ganze Wirtschaft lahm legen und das öffentliche Leben stoppen, nur weil die Alten nicht sterben wollten“ berichtete der Kölner Stadt Anzeiger am 21./22. November 2020 über Äußerungen aus Hassmails an den SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach. Die für die Verwertung des Kapitals Überflüssigen sollen sterben. Die einen können im Mittelmeer ertrinken, die anderen – je nach sozialer Lage – auf den Intensivstationen oder auf der Straße umkommen. Das ist ebenso ‚natürlich‘ wie dazu noch kosteneffizient. 2. Die Verhältnisse, die sind nicht so…Die Appelle an Werte und Moral bleiben hilflos. Solidarität stößt an objektive Grenzen. Aber auch der Rekurs auf individuelle Freiheitsrechte einhergehend mit einem Habitus der Selbstbezüglichkeit oder gar dem offenen Billigen sozialdarwinistischer Selektion bietet keinen Ausweg. Die Corona-Krise wirkt als Brandbeschleuniger und macht deutlich, was im Kapitalismus und seiner Krise steckt. Zwar bleibt die ökonomische Krise angesichts der scheinbaren Unerschöpflichkeit der staatlichen Rettungsaktivitäten noch im Hintergrund des Bewusstseins. Die simulierte Vermehrung des Kapitals über Schuldenmechanismen und Geldgeschäfte scheint wieder unerschöpflich – ungetrübt von der mit der Entsorgung von Arbeit verbundenen logischen und historischen Schranke der Produktion von Wert und Mehr-Wert. In aller Welt stützen Zentralbanken die Finanzsysteme. Regierungen verschulden sich exorbitant, um die Konjunktur zu stützen. Entsprechend boomen Finanzmärkte und Börsen auf der Grundlage simulierter Geldvermehrung, von „Geld ohne Wert“ (Kurz 2012).
Es gehört nicht viel Phantasie dazu, um sich vorzustellen, was auf längere Sicht – ob noch ‚mit‘ oder ‚nach Corona‘ – passieren dürfte: Die Rechnung für den Vorgriff auf künftige Produktion wird präsentiert werden – in Gestalt von Zusammenbrüchen und/oder Maßnahmen, die – Klima hin oder her – auf Wachstum setzen und mit verschärftem Sozialabbau verbunden sein werden. Dann wird die laute liberale Klage über die Inhumanität sozialer Benachteiligung von Kindern und soziale Spaltungen verstummen. Soziale Grausamkeiten werden die Tagesordnung bestimmen und repressiv durchgesetzt werden. Der unter Corona eingeübte Ausnahmezustand kann demokratisch gegen die Überflüssigen ebenso wie gegen mögliche Proteste zur Geltung gebracht werden, ohne dass sich dagegen liberales Gewissen nennenswert in Stellung bringt. Lauert die sich verschärfende ökonomische Dimension der Krise gegenwärtig auch noch eher im Hintergrund, zeigt sich die Krise des Kapitalismus ausgesprochen drastisch in der Krise der Subjekte. Mit der logischen und historischen Schränke der Kapitalverwertung und damit einhergehend der Reproduktion verlieren die Subjekte ihre Basis. Ihre Freiheit und Autonomie – philosophisch gesprochen der Selbstvollzug ihrer Freiheit – ist gebunden an die Grundlage der Verwertung der Arbeit als Humankapital. Mit schwindender Arbeitssubstanz gerät nicht nur das Kapital, sondern auch das Subjekt in eine Verwertungskrise seines Humankapitals. Der Konkurrenzkampf um die Verwertung der eigenen Arbeitskraft wird schärfer und produziert VerliererInnen, die im Fahrstuhl nach unten durchgereicht werden. Soziale Absicherungen werden als nicht mehr finanzierbar bzw. als kontraproduktiv für die Kapitalverwertung abgebaut. Die Subjekte sollen einmal mehr zur Ich-AG werden und lernen, sich als ‚unternehmerisches Selbst‘ bis zur Erschöpfung selbst zu behaupten (vgl. Bröckling 2007, vor allem 46ff; vgl. auch Ehrenberg 2004). Dies ist umso aussichtsloser je mehr die Grundlagen dafür einbrechen. Dennoch sind die Strategien der Selbstoptimierung unabschließbar. Sie kommen an kein Ende, weil sie nicht mehr mit einem realisierbaren Ziel als Objekt verbunden werden können, für das sich die Anstrengungen ‚lohnen‘ und mit dem sie ‚belohnt‘ würden. Die Anstrengungen greifen ins Leere. Auch noch das Scheitern fällt auf diejenigen zurück, die sich über die Grenzen ihrer Belastungen angestrengt haben. Sie sind selbst schuld. Dass sie an den Verhältnissen scheitern, darf nicht sein und bleibt unsichtbar. Der Grund des Scheiterns kann nur im eigenen Unvermögen oder an unzureichender Anstrengung liegen. Und so muss der Kreislauf von Neuem beginnen – es sei denn er wird durch Erschöpfung unterbrochen. Trost und Entlastung wird auf den Märkten von Event und Erfahrung, Therapie und Esoterik angeboten. Events bieten unterhaltende Entlastung von der eintönigen Monotonie der alltäglichen Wiederkehr des Gleichen. Scheinbar unmittelbare Erfahrungen imaginieren Authentizität. Therapeutisch gestärkt werden soll ein Selbst, das gesellschaftliche grund- und haltlos geworden ist. Mit den Illusionen esoterischer Spiritualität wird ein Selbst aufgeladen, das die Leere der Verhältnisse als seine eigene Leere erfährt. In dem Imperativ ‚Werde du selbst!‘ konvergieren therapeutische und spirituelle Angebote. Sie verdoppeln und überhöhen die mit der Krise sich verschärfende und zugleich an der substanzlosen Leere der Verhältnisse wie des eigenen Selbst scheiternde Selbstbezüglichkeit. Auch diese ‚Dienstleistungen‘ sind nicht unabhängig vom Verwertungsprozess; auch sie müssen über den Staat, Krankenkassen oder aus der eigenen Tasche finanziert werden. Bricht hier die Finanzierung aufgrund leerer öffentlicher und privater Kassen ein, kann auch auf diesem Markt nicht mehr eingekauft werden. Was bleibt, ist auch hier Verwilderung in ‚Privatesoteriken‘, die nix kosten und dennoch – wie auch Verschwörungsphantasien – einzelnen einen illusionären Halt anbieten. 3. Zwischen Selbstbezüglichkeit und SolidaritätMit den Corona-Maßnahmen sind Menschen noch einmal mehr auf sich selbst zurück geworfen. Manche konnten dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 durchaus noch positive Seiten abgewinnen. Von eher Privilegierten wurde er als Entschleunigung und Chance zur Muße wahrgenommen, während andere unter drohender bzw. sich verschärfender Armut zu leiden hatten und gezwungen waren, in engen und damit infektiösen Räumen zu leben. Je mehr sich jedoch der Lockdown hinzog, meldeten sich vermehrt die Stimmen zu Wort, die Lockerungen einforderten, also auf schrittweise Rückkehr zur kapitalistischen Normalität pochten. In dieser Phase lockerte sich das anfänglich noch vorhandene Wir-Gefühl, das von dem genährt wurde, was die Kanzlerin in der sog. Flüchtlingskrise propagiert hatte: ‚Wir schaffen das!‘. Je klarer aber wurde, dass auch die Corona-Krise nicht mit einem einmaligen und befristeten Lockdown ‚zu schaffen‘ ist, wurde das ‚Wir-Gefühl‘ mehr und mehr dadurch konterkariert, dass Menschen in Corona-Zeiten auf sich selbst zurück geworfen sind und – wie sie es im neoliberalen Kapitalismus gelernt haben – als erstes für sich selbst zu sorgen haben. Hintergrund dafür ist nicht zuletzt die Erfahrung, dass bisher vertraute Orte, an denen Zusammengehörigkeit erfahren werden konnte, einbrechen (Grünewald 2021). Brüchig geworden ist die Familie, wie sich in den Ängsten von Kindern vor ihrem Auseinanderfallen zeigt. Solche Brüchigkeit wird mit der Corona-bedingten Enge immer schwerer aushaltbar. So deutet jetzt schon vieles darauf hin, dass über die Corona-Pandemie Gewalt in Familien nochmals zugenommen hat. In jedem Fall haben Frauen wieder einmal die größten Lasten zu stemmen. Sie sind für Homeoffice und Kinder zuständig, müssen in permanenter Rufbereitschaft arbeiten. In der Arbeitswelt tritt an die Stelle der Erfahrung, mit KollegInnen zusammen zu arbeiten, mehr und mehr die Erfahrung, als MitarbeiterIn outgesourct oder entlassen zu werden. Eingeübt wird der Imperativ: Rette sich, wer kann. Die Erfahrungen, auf sich selbst zurück geworfen und so allein zu sein, konnten ‚vor Corona‘ kompensiert und verdrängt werden, nicht zuletzt durch Illusionen, digital mit allen vernetzt zu sein, oder mit dem Zugriff auf Erlebnis-, Event-, Unterhaltungs- und – für gehobene Ansprüche – auf Spiritualitätsangebote einen erweiterten Gebrauch von den Freiheiten machen zu können, die in der kapitalistischen Normalität angeboten und als ureigene Freiheit erlebt werden. Mit der lang anhaltenden Corona-Krise sind nun kommunikative Entlastungen ebenso eingeschränkt wie die Entlastung, die von der Unterhaltungs- und Kulturindustrie angeboten werden. Zugleich wachsen die Überforderungen durch fehlende Kinderbetreuung bei weiter gehender Arbeitsbelastung und sich verschärfender sozialer Isolation. Wurden die Einschränkungen beim ersten Lockdown unter dem Druck der verheerenden Bilder von Kranken und Sterbenden in Italien noch hingenommen und in eine Beziehung zu den mit der Ausbreitung des Virus verbundenen Katastrophen wahrgenommen, tritt diese Relation im weiteren Verlauf der Pandemie in den Hintergrund. Die Tausende von Toten, die zu Beginn der Pandemie erschrecken ließen, verschwinden in der Statistik. Ihre Leidensgeschichten werden kaum noch erzählt. Es scheint nicht mehr aushaltbar, sich hiermit zu beschäftigen angesichts der Nicht-Aushaltbarkeit der eigenen Leere und der der Verhältnisse, und entsprechend groß ist die Sehnsucht nach ‚Normalität‘, aber auch die Wut aufgrund der persönlich hinzunehmenden Entbehrungen. Das darf so natürlich nicht offen nach außen getragen werden, man möchte sich eben auch nicht vorwerfen lassen müssen, nicht ‚solidarisch‘ zu sein. Da kommt die Sorge um die Kinder und die Jugend genau richtig, so kann von eigenen ‚Befindlichkeiten‘ abgelenkt werden und dennoch das eigene Interesse nach Lockerungen kund getan werden. Nun ist nicht zu leugnen, dass die Corona-Situationen neben sozialen auch psychische Belastungen – nicht zuletzt in den Krankenhäusern und Pflegeheimen – verschärft. Es fällt jedoch auf, dass Forderungen in den Vordergrund treten, die sich an der eigenen Situation orientieren, ohne sie in Bezug zu dem zu setzen, was sich auf den Intensivstationen der Krankenhäuser abspielt. Es scheint eine stumme Vereinbarung zu geben, dass eine unbestimmte Anzahl von Kranken und Toten hingenommen werden soll, um zur kapitalistischen Normalität zurück zu kehren. „Die Leichtigkeit, mit der mitunter die Lebenserwartung älterer Menschen gegen das Recht auf eine Ferienreise eingefordert wurde, lässt noch einiges erwarten“ (Liessmann 2020). Dass das Leben nicht der höchste Wert ist, wusste ja auch Bundestagspräsident Schäuble – sekundiert von Theologen und ‚Ethik-Räten‘ – schon recht früh zur Diskussion um ‚Lockerungen‘ beizutragen, die der Rückkehr zur kapitalistischen Normalität den Weg bereiten sollten. Der ‚Selbstbezüglichkeit‘, zu der einzelne immer mehr gedrängt werden bzw. die ja geradezu auch gefordert ist, um sich in dieser Welt als Ich-AG behaupten zu können, entspricht das Agieren von Unternehmen. Unter dem Zwang zur Konkurrenz müssen auch sie sich behaupten. In der Krise werden auch ihre Spielräume enger und die Furcht aus dem Rennen geworfen zu werden größer. So wundert es nicht, dass sie in der durch Corona verschärften Krise, die Freiheit zu produzieren verteidigen – selbstverständlich ohne Bezug zur Situation, derer die gefährdet sind. Handelsketten und Einzelhandel pochen auf das Recht, dafür sorgen zu dürfen, dass das Einkauferlebnis einschließlich seiner sinnstiftenden Kraft möglich bleibt – erst recht vor Weihnachten. Es können zwar keine Infektionsketten mehr nachverfolgt werden, dennoch wissen Fußballfunktionäre, dass der Bundesliga-Betrieb so hygienegesichert ist, dass er auch mit Zuschauern weiterlaufen könnte. Und das Böllern an Silvester ist wohl auch ein Freiheits-, wenn nicht gar ein Menschenrecht. Und was wird nur aus der Böllerbranche, wenn nicht geböllert wird? Sie wäre so elendiglich dran wie die Rüstungsbranche, wenn keine Waffen mehr verkauft und keine Kriege mehr geführt würden. In der auf Erlebnis und Unterhaltung getrimmten Event- und Kulturbranche wird entdeckt, dass Kultur doch ‚Mehr‘ und ‚Höheres‘ ist als Unterhaltung, sozusagen einen sinnstiftenden Mehr-Wert vorzuweisen hat… Nun wäre es weit gefehlt, solche Selbstbezüglichkeiten vom hohen moralisierenden Ross herab als Egoismus zu brandmarken und Umkehr zur Solidarität zu predigen. Das wäre so illusionär und verschleiernd wie Kants rein formale Moral und ihr inhaltsleerer kategorischer Imperativ – illusionär, weil es um gesellschaftliche Probleme geht, die mit individueller Moral nicht zu lösen sind, verschleiernd, weil moralische ‚Lösungen‘ das Problem von der gesellschaftlichen auf die individuelle Ebene verlagern und seinen gesellschaftlichen Charakter der Reflexion entziehen. 4. Regierungspolitik als Ausdruck von Solidarität?Weit gefehlt wäre es, das Konstatieren der Selbstbezüglichkeit als schlichte Apologie der Regierungspolitik misszuverstehen oder sie mit dem Label der Solidarität zu versehen. Es gibt genug Grund zur Kritik z.B. an mangelnder Ausstattung zum Schutz in Krankenhäusern und Pflegeheimen, in Kitas und Schulen, an mangelnden Konzepten für Homeschooling und nicht zuletzt für den Schutz und die Betreuung obdachloser Menschen. Sie haben ebenso wie Menschen, die in engen Wohnverhältnissen leben müssen, oder Solo-Selbständige wie KünstlerInnen unter den staatlichen Restriktionen besonders zu leiden und werden von staatlichen Abfederungsmaßnahmen kaum erreicht. Trotz aller Widersprüchlichkeiten trägt die Einschränkung von Kontakten aber wesentlich dazu bei, die Ausbreitung des Virus zu unterbrechen und Alte und Kranke sowie andere Risikogruppen, also in der kapitalistischen Normalität ‚Überflüssige‘, zu schützen. Das ist ein nicht zu unterschätzender Effekt. Regierungsamtlich wird dabei immer wieder Solidarität als Legitimation herangezogen und an die BürgerInnen appelliert, sich – im Gegensatz zum bisher gültigen neoliberalen ‚Credo‘, dass die Wahrnehmung des eigenen Interesses die beste soziale Maßnahme sei – ‚eigenverantwortlich‘ solidarisch zu sein. Mit Solidarität im Sinne eines Denkens und Handelns im Zusammenhang aller Menschen mit einer besonderen Berücksichtigung von Schwachen hat dies jedoch nichts zu tun. Die staatlichen Corona-Maßnahmen zielen auf das, wozu der kapitalistische Staat da ist: die Funktionsfähigkeit der kapitalistischen Verhältnisse abzusichern. Die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems sowie des Großteils der Wirtschaft soll aufrechterhalten werden, damit weiter gearbeitet und konsumiert werden kann bzw. soll, während die Einschränkungen in privaten Bereichen ebenso wie in der Gastronomie, im Event- und Kulturbetrieb das Virus ausbremsen und das Gesundheitssystem vor Überlastung schützen sollen. Bei dem um die Jahreswende 2020/21 verhängten Lockdown fällt ja auf, dass sich die Kontaktbeschränkungen vor allem auf den privaten Bereich und die entsprechenden Dienstleistungsbranchen beziehen. Die Welt der Produktion wird hingegen weitgehend ausgespart. Erst in den ersten Wochen von 2021 kam mit Forderungen nach einer Verpflichtung zum Homeoffice die Arbeitswelt ins Spiel. Trotz allen Bildungsgeredes geht es auch bei der Öffnung bzw. möglichst schnellen Wiederöffnung von Kitas und Schulen weniger um Bildung oder ‚die Kinder‘ als vielmehr um deren Verwahrung, um ihren Eltern den Rücken für den Arbeitseinsatz frei zu halten. Es kann also weder darum gehen, die regierungsamtlichen Maßnahmen mit den Forderungen nach individuellen Freiheitsrechten zu attackieren, noch darum, sie als ‚solidarische‘ Maßnahmen misszuverstehen. Zunächst zielen sie darauf, die Funktionsfähigkeit des Kapitalismus halbwegs aufrecht zu erhalten. Darüber, wie das geschehen soll, streiten Etatisten und Libertäre (Hauer, Hamann 2021). „Gemeinwohl oder Egoismus, Freiheit oder Bevormundung, Allgemeinheit oder Individuum“ (ebd.) werden als gut oder böse in Stellung gebracht und dabei die Rolle des Staates im Rahmen der ‚gesellschaftlichen Totalität‘ geflissentlich und illusionär ignoriert. Dass der Staat in der Corona-Krise verschärft in das Dilemma gerät, gleichzeitig die BürgerInnen schützen und so viel kapitalistische Normalität wie möglich aufrecht erhalten zu müssen, kann dann auch nicht mehr in den Blick kommen. Die politischen HandlungsträgerInnen greifen auch im Zusammenhang der Corona-Krise auf ein Mittel zurück, das sich bereits im Management der kapitalistischen Normalkrise bewährt zu haben schien: die Meinung von ExpertInnen. Die scheint über den Parteien zu stehen und einen ideologiefreien, objektiven und alternativlosen, sozusagen ‚postpolitischen‘ Ausweg zu bieten. Nun scheint die Überraschung bei Politik wie BürgerInnen darüber groß zu sein, dass es in der Wissenschaft unterschiedliche Meinungen gibt. Die Folge ist Legitimation durch ‚die‘ Wissenschaft und deren Delegitimierung zugleich. Bei letzterem scheint der formale Hinweis zu genügen, es gebe ja unterschiedliche Meinungen. Gebahnt ist der Weg zu Moralisierung, Artikulation des politischen Willens als ‚Wutbürger‘ – das alles in einer falschen Unmittelbarkeit, deren ‚Selbstbezüglichkeit‘ auch kein Verständnis mehr dafür entwickeln kann, dass ein harter ‚Lockdown‘ im Interesse der kapitalistischen Allgemeinheit und ihres freiheitlichen Normalbetriebs sinnvoller sein könnte als das Drängen auf Freiheitsrechte einhergehend mit dem Zwang zum Herunterspielen und/oder Leugnen der gesundheitlichen Gefahren. Die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus in falscher Unmittelbarkeit zu attackieren oder dabei von Corona-Regime bzw. Corona-Diktatur zu sprechen, verkennt die Gefährlichkeit des Virus ebenso wie die Rolle von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten im Kapitalismus. Schon vor Corona wurden auch in den westlichen Zentren mit Voranschreiten der Krise die Maßnahmen repressiver und die Kontrollen umfassender. Hierzulande zielte gerade die Hartz-Gesetzgebung neben der weiteren Prekarisierung von Arbeit auf Disziplinierung und Kontrolle der ‚Überflüssigen‘ (vgl. Rentschler 2004). Der Maßnahmenkatalog war hier so ‚hart‘, dass sogar das Bundesverfassungsgericht 2019 die Sanktionen teils als verfassungswidrig erklärte. Die Gesetzgebung zielte insgesamt auf den Zwang zur Arbeit, dem sich niemand entziehen darf. Alle werden dazu angehalten, sich in steter Arbeitsbereitschaft zu halten und sich als ‚unternehmerisches Selbst‘ für diesen Zweck zu optimieren. Je mehr die kapitalistische Normalität zusammenbricht, desto mehr werden Staaten auf allen Ebenen versuchen, solange es eben geht, den Zerfall mit autoritären und repressiven Maßnahmen aufzuhalten. In dieser Perspektive wäre es naiv zu glauben, dass die unter Corona eingeübten Maßnahmen, nicht auch über Corona hinaus in den weiteren Krisenverläufen zum Einsatz kommen würden. Darauf verweist u.a. Wilhelm Heitmeyer: Der Staat als der „große Machtgewinner … könnte versucht sein, die eingeführten Kontrollmaßnahmen nach einem (zeitweiligen) Abflauen der Pandemie zu verstetigen“, zumal „politische und kontrollierende Institutionen … auf den Erhalt einmal erlangter Kompetenzen ausgelegt“ (Heitmeyer 2020, 296) sind. Aus diesem Grund aber die aktuellen Maßnahmen als rundweg abzulehnen, ist problematisch, da sie eben neben dem Ziel, die Funktionsfähigkeit des gesamten Ladens halbwegs am Laufen zu halten, eben (dieses mal) auch real das Leben von Menschen schützen. Das heißt freilich nicht, dass es keinen Grund zur Kritik gebe (s.o.). 5. ‚Selbstbezüglich‘ und ‚solidarisch‘ zugleich?‚Solidarität‘ ist in der Corona-Krise nicht nur eine Parole der Regierungspolitik, sondern findet durchaus Anhalt in Teilen der Bevölkerung. Sie ist nicht zuletzt in sozialen Bewegungen wichtig als Eintreten für die Opfer: für die Oper der Pandemie wie für die Opfer der kapitalistischen Krisennormalität von Geflüchteten bis hin zu Opfern sexistischer, rassistischer, antiziganistischer und antisemitischer Gewalt. Aber auch hier werden die von der kapitalistischen Normalität gesetzten Grenzen nicht in Frage gestellt. Den Opfern soll Gerechtigkeit im Rahmen des Systems widerfahren. Die von ihm als überflüssig Ausgegrenzten sollen im Rahmen der Verhältnisse Anerkennung finden und partizipieren können. Letztlich ist es eine Solidarität der ‚Anständigen‘. Sie wollen im Rahmen eines tödlichen Systems anständig bleiben, dazu gehören und doch solidarisch handeln. ‚Selbstbezüglichkeit‘ und ‚Solidarität‘ schließen sich hier keineswegs aus. Die Anerkennung als systemkonforme Anständige bleibt erhalten und wird zusätzlich durch ein gutes Gefühl belohnt. So können sich einzelne über kleine, solidarische Akte vermeintlich von eigener ‚Schuld‘ entlasten, sich weis machen, dass sie eben zu den ‚Guten‘ gehören. Sich individuell zu ‚entschulden‘ ist mit Blick auf den Gesamtzusammenhang aber schlicht unmöglich. Alle stehen unter dem Zwang, in ihrem Tun und Denken die abstrakten Kategorien der Wert-Abspaltungsgesellschaft alltäglich zu vollziehen und zu reproduzieren, wenn sie sich nicht selbst ‚raus‘, d.h. in Armut und ein ‚Nichts‘ katapultieren wollen. Kein im Kapitalismus lebender Mensch kommt da ‚schuldfrei‘ durch. Dennoch wird von den einzelnen immer wieder moralisches und ethisches Handeln im Einklang mit ‚höheren‘ moralischen Werten, vor allem mit denen von Demokratie und Menschenrechten erwartet. Diese widersprüchlichen Anforderungen an das Subjekt hat Robert Kurz so beschrieben: Die „Leute (sollen) gleichzeitig eigennützig und altruistisch, gleichzeitig durchsetzungsfähig und hilfsbereit; konkurrenzfähig und solidarisch sein … gleichzeitig (sollen) sie … arm und reich sein, … sparsam und verschwenderisch, … dick und dünn, asketisch und hedonistisch“ (Kurz 1993; zit. n.: Scholz 2019, 50). Analytisch verstehbar wird dieser den Subjekten zugemutete Irrsinn, wenn er mit der Selbstbezüglichkeit des Kapitals in Verbindung gesehen wird. Die Selbstbezüglichkeit des Kapitals kann sich in kein anderes Verhältnis setzen als dem zu sich selbst. Die Waren, die es produziert, zählen nicht in ihrer stofflichen Inhaltlichkeit, sondern als quantitative Vergegenständlichung von Wert und Mehr-Wert. Das Kapital dient keinem anderen Zweck als dem irrationalen Selbstzweck der Vermehrung seiner selbst. Das konnte in der Aufstiegs- und Hochphase des Kapitalismus durch gesellschaftliche Prosperität, durch partiellen ‚Wohlstand‘ und die Mythologien von einem stetigen Fortschritt „an Erkenntnis und im Bewusstsein der Freiheit“ (Hegel) vernebelt werden. In der Krise wird die tödliche Irrationalität der kapitalistischen Selbstbezüglichkeit, der kapitalistischen Normalität ‚offenbar‘: Das Kapital „muss sich in alle Dinge dieser Welt entäußern, um sich als real darstellen zu können: von der Zahnbürste bis zur subtilsten seelischen Regung, vom einfachsten Gebrauchsgegenstand bis zur philosophischen Reflexion oder zur Umgestaltung ganzer Landschaften und Kontinente...“ (Kurz 2008, 69f).. Es muss sich so entäußern, um zu sich selbst und seinem irrationalen Selbstzweck der Vermehrung um seiner selbst willen zurück zu kehren und wieder neu damit beginnen zu können. 6. Form und SubjektDen Zusammenhang zwischen der irrationalen Selbstverwertung des Kapitals, die mit voranschreitender Krise substanzlos und damit leer wird, und dem Subjekt hat Robert Kurz als „Selbstbezüglichkeit der leeren metaphysischen Form ‚Wert‘ und ‚Subjekt‘“ (ebd., 69) beschrieben: „Die Form ‚Wert‘ und damit die Form ‚Subjekt‘ (Geld und Staat) ist sich ihrem metaphysischen Wesen nach selbst genug und muss sich doch in die wirkliche Welt ‚entäußern‘; aber nur, um stets zu sich selbst zurückzukehren. Dieser metaphysische Ausdruck der scheinbar banalen (und in sinnlich-sozialer Hinsicht tatsächlich grauenhaft banalen) Verwertungsbewegung bildet das eigentliche Thema der gesamten Aufklärungsphilosophie … In dieser Selbstgenügsamkeit, dennoch nötigen Entäußerungsbewegung und letztlichen Selbstbezüglichkeit der leeren metaphysischen Form ‚Wert‘ und ‚Subjekt‘ gründet ein Potential der Weltvernichtung, weil nur im Nichts und damit in der Vernichtung der Widerspruch zwischen metaphysischer Leere und ‚Darstellungszwang‘ des Werts in der sinnlichen Welt zu lösen ist. Die Inhaltsleere von Wert, Geld und Staat muss sich in ausnahmslos alle Dinge dieser Welt entäußern, um sich als real darstellen zu können“ (ebd., 69f). Das Einbrechen der real-kategorialen Halterungen der kapitalistischen Vergesellschaftung lassen sich immer weniger dadurch kompensieren, dass einmal der Markt gegen den Staat wie zu Beginn der neoliberalen Phase des Kapitalismus, dann wieder der Staat stark gemacht wurde wie nach der Finanzkrise 2008/09 oder in repressiven Maßnahmen gegen Geflüchtete und ‚Überflüssige‘ in den Gesellschaften der Zentren, bei militärischen Interventionen etc. Der Wechsel zwischen den Polaritäten von Politik und Ökonomie, Markt und Staat, Planung und Konkurrenz, Subjekt und Objekt geht immer schneller und quer durch Maßnahmenpakete hindurch. Ähnliches gilt im Blick auf die Fragen nach Freiheit und Repression, nach Selbstbehauptung und Solidarität, nach Ich- und Wir-Gefühl. Die Widersprüchlichkeiten schlagen wirr und quer zu Gruppierungen und in den Subjekten durch und sind kaum mehr zu sortieren. Die Leute sollen halt alles gleichzeitig sein. Damit aber werden Subjekte haltlos, drohen ins Leere zu stürzen und finden auch in sich selbst keinen Halt, weil sich die gesellschaftliche Leere auch in ihnen selbst reproduziert und nur in Gestalten illusionärer Aufladungen und Überhöhungen des Selbst beschwichtigt oder betäubt werden kann. Immerhin verlangt die Unerträglichkeit der inhaltlichen Leere „nach einer inhaltlich bedeutungsvollen, sinnhaften Identität“ (Kurz 2018, 161). Trotz ihrer Entleerung können Menschen die an die Leere des Geldes gebundene Subjektform, in die sie gebannt sind, nicht einfach hinter sich lassen und tun „als ob“ es die Subjektform „nicht“ gäbe – analog zu dem Handeln „als ob nicht“, das der Philosoph Giorgio Agamben im Anschluss an seine Interpretation des Paulus als messianische Lebensweise empfiehlt: kaufen, als wäre man nicht Eigentümer, sich die Welt zu nutze machen, als nutze man sie nicht (vgl. 1 Kor 7,29ff) (vgl. Böttcher 2019, 143ff). „Da die eigene Nullidentität als Geldsubjekt nicht in Frage gestellt werden darf, kann es sich … immer nur um synthetische, an sich und a-priori unwahre, mühsam hochgepäppelte und dann vom ruhelosen Nirwana des Geldes, von der eigentlichen Nullidentität doch wieder verdampfte Pseudoidentitäten handeln“ (Kurz 2018, 161). Weder mit Pseudomessianismus noch mit Pseudoidentitäten ist dem Zusammenbrechen der Formen der Wert-Abspaltungsvergesellschaftung zu entkommen. Im Gegenteil, die Krise und die mit ihnen verbundenen Erfahrungen müssen in der und mit dieser Vergesellschaftung verbundenen Subjektform verarbeitet werden. Dies legt die Suche nach identitären Verarbeitungsformen nahe, die sich in Rassismus und Sexismus, in Antisemitismus und Antiziganismus ebenso Ausdruck verschaffen können wie in autoritären Selbstsetzungen oder auch in Querfronten, die in ihren wirren Konstellationen auch noch durch das eigene Denken und Empfinden gehen können bis zum Hin und Her zwischen wechselnden Identitäten, wenn sie nur für den Augenblick Halt und sicheren Grund unter den Füßen versprechen. 7. Eine sozialpsychische Matrix des bürgerlichen SubjektsDie über die Form der Wert-Abspaltung vermittelte Dynamik der Entsorgung alles ‚Inhaltlichen‘ zugunsten einer ‚metaphysischen Leere‘ muss sich auch in den Subjekten selbst zeigen. Auch wenn die sozialpsychischen Verarbeitungsweisen nicht einfach aus der Form der Wert-Abspaltung ableitbar sind, sind sie doch auch nicht einfach ‚frei‘ wählbar. Das „(b)ürgerliche Subjekt und seine sozialpsychische Matrix beruhen dabei zentral auf der Abspaltung des Weiblichen, dem Phantasma der Naturbeherrschung und der Imagination der Selbstsetzung. Sie sind zudem wesentlich mit der Verinnerlichung des Arbeitsethos verbunden. Dem entspricht eine Triebdynamik, in der bei Triebaufschub die Libido in froher Erwartung auf ‚Belohnung für diese Versagung‘ in die Höhe schnellt. Dieser ‚Trick‘ der Libido, mit Triebversagungen umzugehen, legt gleichzeitig die Spur für Triebsublimierungsprozesse“ (Wissen 2017, 39). Freud geht davon aus, dass das bürgerliche Subjekt von zweierlei Trieb’arten‘ her (an)getrieben ist: Eros und Thanatos. In ihrer Vermittlung prägen sie die psychische Zeitlichkeit und Prozesshaftigkeit maßgeblich mit. Die Lebenstriebe zeigen sich dabei v.a. in Form des Narzissmus und der Objektlibido und zielen auf die Herstellung größerer Einheiten (Fortpflanzung)1, während die Todestriebe auf die „Wiederholung eines primären Befriedigungserlebnis“ (Freud GW XIII, 44) zielen:2 etwas, das aber real nicht zu erreichen ist, da es den eigenen Tod bedeuten würde. Freud schreibt: „die eine Triebgruppe stürmt vorwärts, um das Endziel des Lebens möglichst bald zu erreichen, die andere schnellt an einer gewissen Stelle dieses Weges zurück, um ihn von einem bestimmten Punkt an nochmals zu machen und so die Dauer des Weges zu verlängern“ (ebd., 43). Insofern darf der Todestrieb auch nicht zu unmittelbar mit Todeswünschen gleichgesetzt werden. Er zielt zunächst darauf, einen verlorenen Zustand des ‚ozeanischen Einseins mit der Welt‘ wiederherzustellen. Dieser Zustand ist aber eben real nicht zu haben und liegt darum ‚Jenseits des Lustprinzips‘. Neben der Konstitution des Subjekts sind die realen Krisenverläufe in den Blick zu nehmen und von hier aus zu fragen, wie die wegbrechenden Möglichkeiten einer ‚gelingenden Sublimierung‘, im Sinne einer gelingenden Subjektsetzung als verwertbares Subjekt, das sich bei dem, was es tut, auch noch ‚anerkannt‘ und ‚wichtig‘ (Narzissmus) fühlt, verarbeitet werden. Im Verlauf der kapitalistischen Krisenprozesse geht den Subjekten mit dem Schwinden von Arbeit als substantieller Grundlage für die Produktion von Wert und Mehr-Wert ihr Halt weiter verloren, weil die Formen der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion (Arbeit, Familie, Staat) als Halterungen einbrechen. Begleitet werden die Krisenerscheinungen von Individualisierungs- und Flexibilisierungsprozessen, die das Scheitern an der Realität als individuelles Versagen brandmarken. Dies schlägt sich nicht zuletzt in Depressionen nieder, in denen Menschen vor allem damit beschäftigt sind, sich permanent selbst anzuklagen und zu richten. Auf sich selbst zurückgeworfen werden sie ihr eigener Kläger und Richter zugleich. Dabei darf auch die Nähe von Narzissmus und Depressionen nicht übersehen werden; beiden fällt der Bezug auf die Objektwelt schwer, sie kreisen um sich, finden den Weg zu den Objekten nicht. Sich selbst groß zu machen, wenn ‚man‘ sich eigentlich klein fühlt, ist neben der Depression die andere Variante mit der unerträglichen (narzisstischen) Dauerbedrohung, es nicht zu ‚packen‘, umzugehen. Hier werden eigene Ohnmachts-, Abhängigkeits- und Kränkungserfahrungen/-ängste verleugnet, verdrängt und die eigene Genialität im narzisstischen Größenwahn imaginiert. Analog zu den zitierten Analysen von Robert Kurz lässt sich im Blick auf die sozialpsychische Ebene sagen: Der letzte Anker des bürgerlichen Subjekts ist sein ‚Narzissmus‘, hier zieht sich das Subjekt auf sich selbst zurück. Aber: „Nachdem das bürgerliche, aufgeklärte Subjekt alle seine Hüllen abgestreift hat, wird deutlich, dass sich unter diesen Hüllen NICHTS verbirgt: dass der Kern dieses Subjekts ein Vakuum ist; dass es sich um eine Form handelt, die ‚an sich‘ keinen Inhalt hat“ (Kurz 2003, 68). Und da sind wir dann wieder bei der Depression, in der nicht die Welt, sondern das Ich leer geworden ist (vgl. Freud GW X, 431)… Bezogen auf die Frage nach Todes- und Lebenstrieben lässt sich folgern, dass den Lebenstrieben das Leben immer schwerer gemacht wird, und dass davon ausgegangen werden muss, dass die Kräfte, die den Todestrieben entgegengesetzt werden können, schwächer werden. Hier scheint der Amok eine ‚gute Lösung‘ geworden zu sein: im erweiterten Suizid, in dem schlussendlich auch die Weltvernichtung imaginiert wird, wird zugleich der Akt der männlichen Selbstsetzung vollzogen. Hier finden Lebens- und Todestriebe einen prekären ‚Kompromiss‘. Die Hüllen, von denen Robert Kurz spricht, könnten auch als der ‚zivilisierte Anstrich‘ des bürgerlichen Subjekts gelesen werden. Freud hat sich vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs mit der Frage beschäftigt, wie ‚zivilisiert‘ der moderne Mensch ist. In dem Text ‚Zeitgemäßes über Krieg und Frieden‘ beschreibt er, dass die Enttäuschung, die die „geringe Sittlichkeit der Staaten“ und die große „Brutalität“ (Freud GW X, 332) angesichts des Ersten Weltkrieges bei den Menschen hervorgerufen habe, selbst auf einer Illusion beruht. So seien „innerhalb der Nationen der Kulturgemeinschaft … hohe sittliche Normen für den einzelnen aufgestellt worden, nach denen er seine Lebensführung auszurichten hatte, wenn er an der Kulturgemeinschaft teilnehmen wollte. Diese oft überstrengen Vorschriften forderten viel von ihm, eine ausgiebige Selbstbeschränkung, einen weitgehenden Verzicht auf Triebbefriedigung“ (ebd., 326). Dieser Verzicht war aber insofern auch mit einem gewissen ‚Genuss‘ verbunden, als dass der Weltkulturbürger, wenn nicht die „Not des Lebens“ ihn daran hinderte, „aus allen Vorzügen und Reizen der Kulturländer ein neues großes Vaterland zusammensetzen“ konnte (ebd., 327). Dann kam jedoch die ‚Enttäuschung‘: „Der Krieg, an den wir nicht glauben wollten, brach nun aus und er brachte die – Enttäuschung. Er ist nicht nur blutiger und verlustreicher als einer der Kriege vorher, … sondern mindestens ebenso grausam, erbittert, schonungslos wie irgend ein früherer… Er wirft nieder, was ihm im Wege steht, in blinder Wut, als sollte es keine Zukunft und keinen Frieden unter den Menschen nach ihm geben“ (ebd., 328f). Dass die Enttäuschung angesichts des Ersten Weltkrieges auf einer Illusion beruht, hat nun nach Freud damit zu tun, dass häufig angenommen werde, dass die „bösen Neigungen“ über Erziehung und Kulturumgebung ausgerottet werden könnten. Aber dem sei nicht so: Triebregungen sind elementarer Natur und lassen sich ohnehin nicht in gut und böse aufteilen; vielmehr werden sie von uns „je nach ihrer Beziehung zu den Bedürfnissen und Anforderungen der menschlichen Gemeinschaft“ (ebd., 332) klassifiziert. Alle als ‚böse‘ verpönten sind nach Freud ‚primitive‘ Triebregungen, die einen Entwicklungsweg zurücklegen: „Sie werden gehemmt, auf andere Ziele und Gebiete gelenkt, gehen Verschmelzungen miteinander ein, wechseln ihre Objekte, wenden sich zum Teil gegen die eigene Person“ (ebd., 320). Insgesamt werden die „eigensüchtigen Triebe“ durch die „Zumischung der erotischen Komponenten … in soziale umgewandelt“ (ebd., 321), wobei für diesen Prozess der äußere Faktor der Erziehung, in die freilich wiederum gesellschaftliche Normen einfließen, entscheidend ist. Über sie werde äußerer Zwang beständig in inneren Zwang umgesetzt, wobei Freud betont, dass der einzelne dabei auch dem Einfluss der Kulturgeschichte seiner Vorfahren unterliegt. Schlussendlich habe die Kulturgemeinschaft, „die die gute Handlung fordert und sich um die Triebbegründung derselben nicht kümmert(,) eine große Zahl von Menschen gewonnen, die dabei nicht ihrer Natur folgen“ (ebd., 335). Die „fortgesetzte Triebunterdrückung“ äußere sich dabei „in den merkwürdigsten Reaktions- und Kompensationserscheinungen“ (ebd.). Freud schreibt: „Wer so genötigt wird, dauernd im Sinne von Vorschriften zu reagieren, die nicht der Ausdruck seiner Triebneigungen sind, der lebt, psychologisch verstanden, über seine Mittel und darf objektiv als Heuchler bezeichnet werden, gleichgültig ob ihm diese Differenz klar bewusst geworden ist oder nicht. Es ist unleugbar, dass unsere gegenwärtige Kultur die Ausbildung dieser Art von Heuchelei in außerordentlichem Umfange begünstigt“ (ebd., 336). Freuds Deutungen werfen ein erhellendes Licht auf die mit ‚metaphysischer Leere‘, Selbstsetzung und Narzissmus verbundenen Problematiken. Er hatte noch eine Zeit vor Augen, in der immanente Entwicklung, und damit eine halbwegs ‚gelingende Subjektwerdung‘ denkbar war. Das ist heute anders. Die Lage wird prekär: während die ‚Belohnungen‘ für den Triebverzicht einen immer höheren Preis haben und für viele schon gar nicht mehr spürbar sind, wachsen die Zumutungen an die einzelnen stetig. Nun kann das männliche Subjekt eines mit Sicherheit nicht: Die eigene Angewiesenheit, Abhängigkeit und Ohnmacht eingestehen, denn dies würde das eigene Ende bedeuten. Hier kommt der Narzissmus ins Spiel. Er wird gewissermaßen als Abwehr eingesetzt, um der eigenen Nacktheit, Leere und Bedeutungslosigkeit nicht ins Gesicht schauen zu müssen. Dies betrifft, wenn auch jeweils anders gelagert, sowohl den Aufstand der ‚Anständigen‘ als auch den Aufstand der ‚Wutbürger‘. Während die einen versuchen, sich die Hände rein zu waschen und sich zu entschulden (auch als antidepressive Maßnahme), versuchen die anderen, ihre Macht zu demonstrieren, wollen sich nun erst recht noch mal ‚selbst setzen‘ – koste es was es wolle. Die einen setzen auf Solidarität, zielen damit primär auf Menschenrechte und wollen/können nicht sehen, dass die Wert-Abspaltungs-Vergesellschaftung auch die Basis der Menschenrechte ist. Je mehr diese Basis ins Wanken gerät, stürzen auch die Menschenrechte mehr und mehr ab bzw. erweisen sich noch deutlicher als Farce. Die anderen suchen das Heil in ‚Freiheit‘ und ‚Autonomie‘ und verteidigen die Demokratie als deren politische und normative Grundlage. Weil mit den Grenzen der Verwertung von Kapital auch dafür die Grundlage schwindet, droht der Kampf um ‚Freiheit‘ und ‚Autonomie‘ zum sozialdarwinistischem Kampf aller gegen alle zu werden. Das selbstHERRliche bürgerliche Subjekt fühlt sich zu allem frei und selbstmächtig, omnipotent. In seinem Größenwahn kann es – wie bemerkt – ja eines nicht: sich seine eigene Ohnmacht und Abhängigkeit eingestehen und einsehen, dass im Rahmen der kapitalistischen Vergesellschaftung nicht ‚alles geht‘ und auch keine ‚Alternativen möglich‘ sind. In diesen Formen ist schlicht nichts mehr zu machen (Böttcher 2018). Da helfen auch die Apostel illusionärer Möglichkeiten nicht weiter, die in linken Kreisen gerne als Nothelfer angerufen werden: weder Žižeks „Akt“ in seinem Lacan-Marxismus oder Soilands feministischer Marxismus (Scholz 2020, 51), auch nicht Badious „Ereignis“ oder Agambens „Zeit die bleibt“ mit ihrem Rat, so zu tun, „als ob nicht“, also als ob es den Kapitalismus oder auch Corona nicht gäbe (vgl. Böttcher 2019). 8. Kleiner Mann – trotz allem ganz groß?Die Erosionen in der Welt der Erwerbsarbeit sowie die sie begleitenden Desorientierungen erzeugen Absturzängste. Sie sind verbunden mit (männlichen) Ängsten, die ‚männliche‘ Rolle nicht mehr füllen zu können, zu versagen und ‚entmannt‘ zu werden. Die kränkende und nicht aushaltbare Schwäche, nicht Herr seiner selbst und seiner Welt zu sein, die Erfahrung von Unübersichtlichkeit provoziert das Bedürfnis nach Eindeutigkeit, in der Erfahrung der Unsicherheit das Bedürfnis, doch wieder sicheren Boden unter die Füße zu bekommen, Herr seiner selbst und Herr darüber zu sein, wie verfahren wird. „Krisen sind Zeiten der Unübersichtlichkeit und des Kontrollverlusts“ (Heitmeyer 2020, 299). Übersichtlichkeit scheint das ‚Wissen‘ darüber zu verschaffen, wer hinter den Problemen steckt. Kränkende Ohnmacht und Kontrollverlust scheinen in machtvollem Widerstand kompensiert werden zu können. Der Wahn von Verschwörungen oder auch das Bedürfnis, Akteure zu identifizieren, gehen mit einer falschen Unmittelbarkeit einher, die auf Reflexion gesellschaftlicher Vermittlungen verzichtet. So wird die Welt übersichtlich und handhabbar. Der klein gemachte Mann kann in seiner Größe und Macht wieder vor sich und der Welt bestehen. Und dann sind da ‚die Migranten‘, die dem ‚kleinen Mann‘ zeigen, wohin man kommt, wenn man es in der Realität nicht packt (siehe hierzu auch Scholz 2007, 215ff). ‚Oben‘ wie ‚unten‘ gibt es Bedrohung: da ist Bill Gates und die ‚jüdische Verschwörung‘ und da sind die ‚Überflüssigen‘, die am Besten einfach im Meer ersaufen – ganz nach dem Willen eines demokratischen Essener Ordnungsdezernenten, der bereits 2000 seinen politischen Willen bekundete, Geflüchtete auf jeden Fall abzuschieben – „und wenn wir sie aus dem Flugzeug abwerfen“ (Ökumenisches Netz Rhein-Mosel-Saar 2000, 5). Angesichts der Einengung durch umfassende Bedrohungen können Corona-Beschränkungen nicht auch noch hingenommen werden: gerade da, wo die ‚(männliche) Autonomie‘ schon längst ausgehöhlt ist und Freiheit, zuvorderst Zwang zur Verwertung bedeutet, bläht sich das Krisensubjekt noch mal auf, will der Politik, den Medien… und der Welt seine Potenz zeigen, die schon längst keine mehr sein kann bzw. sich als Potenz weiterer Zerstörung zeigt. Selbst wenn es längst auch in der AfD kriselt, scheint die ‚Rechte‘ insgesamt gut aufgestellt zu sein, auch bezogen darauf, den ‚kleinen Mann‘ gerade bei seinen Nöten ‚abzuholen‘. Gerade auch das ‚Gemeinschaftliche‘, ‚Nachbarschaftliche‘, das die rechten Szenen ‚anbieten‘, macht die Sache so gefährlich: denn da, wo immer mehr Menschen, von Isolation und Einsamkeit gefährdet sind, sind solche ‚Projekte‘ sehr attraktiv. Es ist zu vermuten, dass die Corona-Leugner-Szene und ihr Widerstand nicht zuletzt auch von einer Art ‚sozialem Bedürfnis‘ nach Zusammensein und Gemeinschaft getrieben ist, das sich als machtvolle solidarische Demonstration der Wissenden gegen die Unwissenden, der Kleinen ‚unten‘ gegen die Eliten ‚da oben‘, der ‚eigentlichen‘ Demokraten gegen die Interessen der Mächtigen in Szene setzt – freilich, ohne dass ‚man‘ sich die reale Machtlosigkeit und Abhängigkeit eingestehen würde. ‚Man‘ will sich ja beweisen, wie ‚unabhängig‘ und ‚handlungsfähig‘ man ist. Diese hartnäckigen Illusionen machen die verzweifelten Selbstsetzungsversuche des männlichen Subjekts so gefährlich. 9. Rückkehr zur kapitalistischen Normalität?Beim ersten Lockdown konnten sich sogar Stimmen Gehör verschaffen, die darauf hinwiesen, dass er ein Kairos sei, um grundsätzlich über gesellschaftliche Fehlentwicklungen nachzudenken, sogar darüber, was der Ausbruch des Virus mit den gesellschaftlichen Verhältnissen – der Herrschaft über die Natur sowie den kapitalistischen Produktions- und Verkehrsformen – zu tun habe. Die Hoffnung war jedoch schnell verflogen. Schon bald brach sich das Bedürfnis Bahn, zur kapitalistischen Normalität zurückzukehren und forderte im Namen von Freiheit und Demokratie Lockerungen ein. Das Virus verlor seine Unmittelbarkeit in der alltäglichen Erfahrung. Also war es weg oder auf dem Weg seines Verschwindens. Als es sich nicht plötzlich, sondern – wie bei kritischem Nachdenken erkennbar gewesen wäre – vorhersehbar wieder umso heftiger unmittelbar bemerkbar machte, schlug das Pendel bei der Mehrheit wieder in Akzeptanz der Einschränkungen um. Das hat jedoch weniger mit kritischer Einsicht zu tun, sondern ist mehr getragen von der Hoffnung, mittels Impfungen in absehbarer Zeit endgültig wieder zur kapitalistischen Normalität zurückkehren zu können. Diese Normalität war aber bereits vor Ausbruch des Virus eine Krisennormalität, ja diese Krisennormalität hat den Ausbruch des Virus ermöglicht und ihm den Weg gebahnt. Der Biologe Rob Wallace (2021) sieht den Ausbruch des Virus im Zusammenhang mit schwindender Biodiversität, Landübernutzung und Massentierhaltung, also vor allem mit den Rahmenbedingungen, unter denen Nahrungsmittel produziert werden. Sie ermöglichen und begünstigen die Zoonose, die Ausbreitung von Krankheiten, die von Tieren auf Menschen übertragen werden. Dies sind zugleich Phänomene, die Ausdruck des kapitalistischen Naturverhältnisses und seiner Produktions- und Verkehrsformen sind, die zwecks Kompensation der Akkumulationskrise des Kapitals dereguliert, liberalisiert und globalisiert wurden, um kostengünstiger produzieren und neue Absatzmärkte erschließen zu können. Insofern steht der ‚Ausbruch‘ des Virus im Zusammenhang des Krisenkapitalismus. Wenn gegenwärtig Rückkehr zur Normalität gefordert wird, heißt das im Klartext: Weiter so als ob es die Aporien der kapitalistischen Krisennormalität nicht gäbe. Auch wenn sich die Probleme mit und nach Corona verschärfen, ist zu befürchten, dass sie nicht im Zusammenhang der Krise gesehen werden. Sie dürfte weiter verleugnet werden und begleitet sein von dem Versuch, Probleme und vermeintliche ‚Täter‘ unmittelbar und aktionistisch zu bekämpfen. In diesem Zusammenhang wird Freuds Hinweis auf den ‚Kulturheuchler‘ noch einmal interessant. Die Krisennormalität treibt die Konflikte zwischen Anpassung und Selbstsetzung auch psychisch in die Höhe und zwingt Menschen einmal mehr dazu, psychisch über ihre Mittel zu leben. Das ist nicht aushaltbar ohne Täuschungen und Illusionen, die da Halt versprechen, wo die Verhältnisse haltlos geworden sind. Für die einen sind es illusionäre Beschwörungen von Freiheit und Demokratie, die darüber hinweg täuschen, dass die sog. freiheitliche Ordnung und ihre normativen Werte und Menschenrechte an den Rahmen der kapitalistischen Veranstaltung gebunden sind und mit ihr einbrechen. Für die anderen sind es die Werte der Solidarität. Dass sich der Überlebenskampf in der Leere des kapitalistischen Verwertungsprozesses sozialdarwinistisch zuspitzt, wird sich durch keine Solidarität aufhalten lassen. Die Solidarität der Verschwörungswahnsinnigen ist sogar ein Teil dieses Kampfes um das Überleben der Stärkeren. Aber auch die Solidarität der Anständigen stößt auf die Grenzen der Verhältnisse. So viel solidarisches Handeln ist gar nicht möglich, als dass es mit den Opfern der Krisennormalität Schritt halten könnte. Solidarität als Struktur des gesellschaftlichen Zusammenlebens scheitert an den Mitteln, die der Verwertungsprozess des Kapitals dafür zur Verfügung stellen müsste. Die mit dem Insistieren auf Freiheit und Demokratie ebenso wie mit den Forderungen nach Solidarität und einer solidarischen Welt verbundenen Illusionen und Täuschungen haben durchaus den Charakter des Kulturheuchlertums. Sie leben über die Mittel dessen, was die Verhältnisse möglich machen. Mit dem Kapitalismus brechen die mit ihm verbundene ‚Zivilisation‘ und der ‚zivilisierte‘ Mensch ein. Der ‚Verwilderung‘ der Verhältnisse und einem barbarischen sozialdarwinistischen Kampf um das Überleben mit dem Einklagen von Freiheit und Demokratie begegnen zu wollen, ist ebenso illusionär wie es die Forderungen nach Solidarität sind, die sich im Rahmen der unbewusst vorausgesetzten kapitalistischen Normalität bewegen und damit Teil der Kulturheuchelei sind. Werden Demokratie und Solidarität als Teil der kapitalistischen Normalität erkennbar, trifft Freuds Bemerkung zu den Kulturheuchlern ins Mark: „In Wirklichkeit sind sie gar nicht so tief gesunken, wie wir fürchten, weil sie gar nicht so hoch gestiegen waren, wie wirs von ihnen glaubten“ (Freud GW X, 336). Von Freud ist dies als ein gewisser Trost im Blick auf die mit der Desillusionierung verbundenen Enttäuschung gemeint. Enttäuschung im Sinne einer Korrektur der Täuschungen erscheint unabdingbar, wenn es einen Ausweg aus der Krise geben soll. Es ist nicht weniger nötig als ein Bruch mit den Verhältnissen, die der Illusion bedürfen, und der sie prägenden Form der Wert-Abspaltung. Dies wird nicht ohne begriffliche Analyse und kritische Reflexion gehen, die aber eben dazu in der Lage sein muss, die verschiedenen Ebenen der ‚Reproduktion‘ der Verhältnisse zu berücksichtigen und darum weiß, dass Denken allein keinen Bruch vollziehen kann; denn die abstrakten Kategorien werden im Denken, Handeln und Fühlen von Menschen reproduziert und auf diesen Ebenen braucht es auch einen Bruch. Das wird nicht von heute auf morgen zu haben sein, aber eines ist jetzt schon klar: Ohne Enttäuschung des männlichen Wahns herrschaftlicher Selbstsetzung und dem Eingeständnis der Kränkungen, die sich da melden, wo Selbstsetzung auf ihre Grenzen stößt, kann es den notwendigen Bruch mit den Verhältnissen nicht geben. 10. Mit dem Virus leben lernen oder das Virus auf Null bringen?Im Fokus der aktuellen Diskussion stehen Vorschläge zu Strategien, die darauf zielen, mit dem Virus leben zu lernen, und solche deren Ziel es ist, das Virus auf Null zu bringen. In gewisser Weise werden sie durch den ExpertInnenrat der Landesregierung Nordrhein-Westfalens auf der einen sowie einer interdisziplinären Gruppe von WissenschaftlerInnen (vgl. https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2021-01/coronavirus-strat.; https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2021-01/no-covid-strategie) und der Kampagne ZeroCovid (https://zero-covid.org/) auf der anderen Seite repräsentiert. Die einen wollen das Virus sowie gezielte Schutzmaßnahmen in die kapitalistische Normalität integrieren, „um öffentlich und privat mit diesem Virus leben zu können“ – so der NRW-ExpertInnenrat. Die anderen setzen auf eine längerfristige europäische Strategie eines harten Lockdowns, mit dem die Ausbreitung des Virus gestoppt werden soll, um dann wieder den Zustand kapitalistischer Normalität zu erreichen. Es fällt auf, dass die Forderung eines längerfristigen harten Lockdowns wie sie die Kampagne formuliert in einem linken Spektrum um das Komitee für Grundrechte und Demokratie (http://www.grundrechtekomitee.de/details/einige-gedanken-des-grundrechtekomitees-zur-kampagne-zerocovid) sowie von Alex Demirović (Sozialwissenschaftlicher und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Attac und Fellow der Rosa-Luxemburg-Stiftung) auf Kritik stößt (https://www.akweb.de/bewegung/zerocovid-warum-die-forderung-nach-einem-harten-shutdown-falsch-ist/). Dagegen werden erneut die Forderungen nach der Demokratie, den Menschen- und Freiheitsrechten unmittelbar in Stellung gebracht. Es fehlt jede Reflexion auf die Vermittlung von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten mit den bürgerlich-kapitalistischen Verhältnissen. Nicht einmal ein Hinweis auf die ansonsten ebenso beliebte wie verkürzte – weil auf die Ebene der Zirkulation beschränkte – Kritik an der neoliberalen Freiheit des Marktes, der individuelle Freiheit und Menschenrechte geopfert würden, blitzt auf. Letzter Zufluchtsort ist wieder einmal die aufgeklärte Überhöhung des (männlichen) Subjekts und seiner Freiheit, sich selbst zu setzen – selbstverständlich ohne die damit einhergehende Abspaltung der weiblich konnotierten und inferiorisierten Reproduktion zur Kenntnis zu nehmen. Das gilt in gewisser Weise auch für Frauen. Denn auch sie müssen in der ganzen Veranstaltung ihren Part übernehmen. Das bedeutet in der Regel, dass sie sowohl ‚weibliches‘ Subjekt als auch ‚Arbeits’-Subjekt sein müssen, also zwei ‚Rollen‘ zu übernehmen und einen entsprechenden Sozialisationsprozess zu durchlaufen haben. Insofern sind auch Frauen nicht davor gefeit, in die Anrufung von Freiheit und Menschenrechten einzustimmen oder sich autoritäre Eindeutigkeiten ‚zu eigen‘ zu machen, sich einen ‚starken Mann‘ zu wünschen usw. Man denke etwa an die Frauen, die in den USA Trump trotz seiner offenen Frauenfeindlichkeit gewählt haben… Dennoch darf nicht vergessen werden, dass Frauen vor allem in Krisenprozessen schneller zu den ‚Dummen‘ gehören: sie müssen i.d.R. den Alltagswahnsinn mit Kindern und Erwerbsarbeit stemmen, arbeiten öfter in prekären Beschäftigungsverhältnissen als Männer, sind männlicher Gewalt als Lösung narzisstischer Spannungen ausgesetzt etc. Demirović ist sich sicher: „Ein europäischer Lockdown ist nicht realistisch“, „ein Ende der Pandemie … nicht möglich“. Die politischen Vorschläge sind nicht machbar und das Virus gilt als unhinterfragbares Naturgesetz. Es „ist ein von uns erkanntes Virus, mit dem wir als Tiere unfreiwillig im Stoffwechsel leben und noch lange leben werden.“ Die Zoonose ist aber kein einfaches Naturereignis, sondern steht im Zusammenhang mit kapitalistischen Produktions- und Verkehrsformen. Für Demirović gibt es keine kapitalistische Totalität, sondern lediglich komplexe Kapitalinteressen. Entsprechend gibt es auch keinen Staat, der „für das Kapitalinteresse im Allgemeinen“ eintritt; „denn das gibt es nicht“. So kann die Ebene des Staates und der Politik zu einem Ort werden, an dem in demokratischen Prozessen gegensätzliche Interessen ausgehandelt werden. Im Blick auf Corona: Das Virus ist naturgesetzlich gesetzt, Demokratie und Rechtsstaat sind es normativ. So ist es kein Zufall, dass Demirović‘ größte Sorge dem demokratischen Aushandeln gilt, wie mit der Seuche umzugehen ist, kurz: Den „Gefahren für die Demokratie“, die – so seine Kritik am #ZeroCovid-Aufruf – „unter den Tisch“ fallen. Das läuft auf den Gedanken hinaus: „Gesellschaftliche Verhältnisse, Demokratie und wissenschaftliches Wissen sollten in dieser kritischen Perspektive weiterentwickelt werden, so dass sie in und durch Krisen nicht außer Kraft gesetzt werden.“ Entscheidend sind die „autoritären Gefahren“, die der Demokratie bei einer Null-Strategie mit einem befristeten harten Lockdown auflauern. Er betont: „Wir behalten unsere Freiheit und treffen Entscheidungen, die entweder autoritär, liberal, sozialdarwinistisch oder autonom-sozialistisch sein können.“ Fast alles kann frei und demokratisch verhandelt werden. Es gibt nur eine Grenze – nicht die logische und historische Schranke der Kapitalverwertung oder ökologische Grenzen, sondern „der Rückgriff auf an sich geltende Naturgesetze“ und die damit verbundene „autoritäre Gefährdung“. Natürlich wäre es naiv anzunehmen, dass einmal durchgesetzte autoritäre staatliche Interventionen ‚nach Corona‘, was auch immer das heißen mag, einfach wieder zurückgenommen würden (s.o.). Es wäre auch naiv zu glauben: noch ein harter Lockdown und dann war es das. Aber es kann eben trotzdem sein, dass ein solcher harter Lockdown gerade angesagt und sinnvoll erscheint, eben dann, wenn man nicht so zynisch ist, die aktuellen Sterbezahlen, die Überlastung von Pflege- und Klinikpersonal, die Virusmutationen mit den Zuständen gegenwärtig vor allem in Manaus, aber auch Großbritannien und Irland etc. so zu relativieren, dass sie nicht mehr ins Gewicht fallen. Auch in einer vom Kapitalfetisch befreiten Weltgesellschaft könnten beim Auftreten einer lokalen Epidemie Maßnahmen ergriffen werden wie „schnelle Isolierung zur Unterbrechung der Infektionsketten, Versorgung der erkrankten Menschen mit sämtlichen der Gesellschaft zur Verfügung stehenden Mitteln bei zugleich adäquaten Schutzmaßnahmen für die Helfenden“ (Gruppe Fetischkritik Karlsruhe 2020). Um die Gefahren ‚autoritärer‘ Staatlichkeit sorgt sich auch das Grundrechtekomitee. Zudem wird kritisiert, dass über einen harten Shutdown, die „Ungleichheiten und Stigmatisierungen in der Gesellschaft“ fortgeführt würden. Im Rahmen kapitalistischer Krisenverhältnisse wird Corona zum Brandbeschleuniger aller sozialen Probleme. Daher würde ein harter Lockdown Arme, Obdachlose, Alleinstehende, Menschen in beengten Wohnverhältnissen, Menschen auf der Flucht und in Lagern etc. härter treffen als andere Bevölkerungsgruppen. Zum einen könnten und müssten entsprechende Hilfen geleistet werden, z.B. die Unterbringung von Obdachlosen und Geflüchteten in leer stehenden Hotels. Zum anderen ist jetzt schon zu sehen, dass es gerade diese Teile der Bevölkerung sind, die Gefahr laufen, bei einer Ausbreitung der Virus zu den ersten Opfern zu gehören, nicht zuletzt weil ihnen die Mittel und Möglichkeiten fehlen, sich gut vor dem Virus zu schützen (z.B. über medizinische Masken, die Fahrt mit Auto statt mit öffentlichen Verkehrsmitteln, wegen prekären Beschäftigungsverhältnissen in der Dienstleistungsbranche, wegen enger Wohnverhältnisse etc.). Nicht zuletzt das Beispiel der USA zeigt, dass das Virus besonders unter der armen und schwarzen Bevölkerung wütet und in diesen Bevölkerungsgruppen die Mortalität besonders hoch ist. So berechtigt der Hinweis auf sich mit Corona und den politischen Maßnahmen verschärfende soziale Problemlagen und das Einklagen von Hilfen ist, so problematisch und zuweilen auch zynisch ist es jedoch, diese Probleme zur Delegitimation von Strategien zu funktionalisieren, die auf das Eindämmen des Virus und damit auch auf den Schutz von Leben zielen, und in Überlegungen münden, „welche Zahl von Infektionen uns tragbar erscheint: 50, 25, 7 oder 1 pro 100.000“ (Demirović 2021) oder gar auf ein undifferenziertes Plädoyer für möglichst viel Lockerungen hinauslaufen.
Da drängt sich umso mehr die Frage auf, warum gerade jetzt die Angst vor dem ‚Autoritären‘ so groß wird, zumal in Deutschland die Einschränkung der Bewegungs- und Freiheitsrechte im internationalen Vergleich doch sehr harmlos ausgefallen sind. Ärgerlich ist in diesem Kontext ohnehin, dass weder Demirović noch das Grundrechtekomitee auf die Geschichte des Sozialen und ‚Autoritären‘ in dem Sinne reflektieren, als dass es ihnen wichtig genug wäre, darauf hinzuweisen, dass es gerade die demokratisch ausgehandelten und von der Krisenverwaltung durchgesetzten Hartz-Reformen waren, die Menschen in eine zunehmend prekäre Situation drängten, sie entrechteten und einem autoritären Regime aussetzten. Noch mehr gilt das im Blick auf den über Geflüchtete verhängten demokratischen Ausnahmezustand, polizeistaatliche und militärische Sicherung und Internierung in Lagern. Auffällig ist, dass sich die Kritik an Maßnahmen zur Eindämmung des Virus unmittelbar am Autoritären entzündet und ebenso unmittelbar Freiheit und Demokratie einfordert. Auch dies deutet auf den in diesem Text problematisierten Zusammenhang zwischen (männlichem) Freiheits- und Selbstsetzungswahn hin und der Angst vor der eigenen Beschränkung, vor dem eigenen Absturz als Subjekt bzw. der Abwehr dieser Bedrohung. Völlig ausgeblendet ist die Kritik der kapitalistischen Krisennormalität, aus der das Virus entstehen, in deren Rahmen es sich verbreiten und zum Brandbeschleuniger der verschiedenen Problemlagen werden konnte. Die Rückkehr zu dieser Normalität erscheint als rettende Perspektive, dürfte sich aber mit umso heftigeren Folgen von ökonomischen, sozialen, ökologischen und psychosozialen Verwerfungen als Illusion erweisen. 11. Und am Ende: Mit dem Virus in der kapitalistischen Normalität leben lernenDemirović ist – ganz im Einklang mit anderen Linken – ‚realistisch‘. Solcher Realismus wurde durchaus in der Nähe zur ‚Realpolitik‘ in den letzten Jahrzehnten schließlich hinreichend eingeübt. Daraus werden die Gewissheiten abgeleitet, dass ein europäischer Lockdown „nicht realistisch“ und ein „Ende der Pandemie … nicht möglich“ ist. Also heißt die Parole: ‚Mit dem Virus leben lernen‘. Diese ‚Leben lernen mit...‘ bewegt sich in bezeichnender Nähe zu dem, was in der kapitalistischen Normalität alles bereits gelernt worden ist: mit Weltordnungskriegen zu leben, mit der Umweltkrise, immer neuen Zumutungen der Krisenverwaltung. Nur eines passt nicht in das Bild des Realismus: die immanent nicht zu bewältigende Krise des Kapitalismus und seine Normalität. Nur wenn sie geleugnet wird, lassen sich die auch ohne Virus tödliche Realität überhöhenden Weltbilder von Freiheit und Demokratie aufrecht halten. Kapitalismuskritik wird durch ein Aushandeln ersetzt, bei dem die kapitalistischen Rahmenbedingungen immer schon akzeptiert sind. Und wer sie nicht akzeptiert, verliert seinen Platz am ‚runden Tisch‘ der Aushandelnden. Und so bleibt ‚am Ende‘ der Realismus und die Gemeinsamkeit ‚rechter‘ und ‚linker‘ DemokratInnen gegen eine radikale und emanzipatorische Kritik des Kapitalismus. Es bleibt bei der Wiederkehr des Gleichen: demokratisch aushandeln. Darin finden sich Linke zusammen mit dem ExpertInnenrat der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, der vor allem dafür eintritt, nicht ganze Teile der Wirtschaft lahm zu legen und die Illusion befeuert, sog. vulnerable Gruppen ließen sich schützen, ohne die Gesellschaft insgesamt einzubeziehen. Beim ‚demokratischen Aushandeln‘ ist ein aggressiver Ton gegen BefürworterInnen von auf Null zielenden Strategien unüberhörbar. Stephan Grünewald, Mitglied des ExpertInnenrats verstieg sich dazu vom „Endsieg über das Virus“ zu sprechen. Jakob Augstein vergleicht sie mit „einer gefährlichen Kreuzfahrermentalität der im Krieg gegen die Krankheit jedes Mittel recht ist“ (Freitag, Ausgabe 3/2021). Die vollmundige Attac-Parole ‚Eine andere Welt ist möglich‘ hat offensichtlich nicht einmal mehr im Blick auf Strategien Bestand, die darauf zielen, das Virus zu überwinden. Es kann nicht schnell genug gehen mit der Rückkehr zur kapitalistischen Normalität und den Illusionen des Weiter so! – ob mit oder ohne Virus. Solange die ‚andere Welt‘ in der Immanenz des ‚warenproduzierenden Patriarchats‘ (Roswitha Scholz) gesucht wird, bleibt sie verschlossen, eingeschlossen in die Immanenz der Fetischverhältnisse. An ihnen scheitern Selbstbezüglichkeit und Solidarität. Mit dem Begriff der Solidarität und solidarischer Praxis könnten aber auch Dimensionen in den Blick kommen, die über die geschlossene Immanenz hinausweisen. Dies impliziert den Blick auf alle Opfer des Kapitalismus, auf diejenigen, denen die Lebensgrundlagen durch ökologische und soziale Zerstörungsprozesse entzogen werden, auf die Opfer der ‚Weltordnungskriege‘ bis hin zu den Kranken und Alten und auch den Toten, die nur noch kostengünstig entsorgt werden. Wie sich Corona gegenwärtig als Brandbeschleuniger der Krise erweist, so wird es auch ‚nach Corona‘ oder in einem Leben ‚mit Corona‘ sein, nämlich dann, wenn die Rechnung präsentiert wird. Sie wird vor allem die Unrentablen noch mehr treffen – sowohl im Blick auf den Entzug ihrer Lebensgrundlagen wie auch auf ihre Verwaltung im demokratischen Ausnahmezustand. Davor wird sie keine Demokratie retten. Im Gegenteil, sie wird das alles formal korrekt und parlamentarisch aushandeln und exekutieren – wie es ja jetzt schon an den Beispielen von Hartz IV und dem Umgang mit Geflüchteten zu besichtigen ist. Bei einer Solidarität im gerade genannten Sinne kämen also diejenigen in den Blick, die für die Verwertung des Kapitals unrentabel, sozialstaatlich nicht mehr integrierbar und als Unrentable demokratisch ausgeschlossen und zugleich in Arbeit (Hartz IV) und in Lagern eingeschlossen werden. Solidarische Praxis müsste darauf zielen, Reste immanenter Spielräume zu nutzen, „um ‚etwas herauszuholen‘. Aber das geht nur noch im Zusammenhang mit einer breiten sozialen Bewegung, die fähig wird, ansatzweise die universelle Konkurrenz zu überwinden und ein Bündel von Forderungen durchzusetzen, auch wenn dadurch die in den Systemwidersprüchen der ‚abstrakten Arbeit‘ und ihrer geschlechtlichen Abspaltungsstruktur wurzelnde Krise als solche nicht zu überwinden ist. Damit eine solche Bewegung überhaupt möglich wird, bedarf es eines zähen Kleinkriegs auch im Alltag gegen das sozialdarwinistische, sexistische, rassistische und antisemitische Denken in allen seinen Variationen. Darüber hinaus können sich die Verlaufsformen der Krise zu einer neuen Gesellschaft öffnen, wenn der immanente Widerstand die Perspektive einer anderen Produktions- und Lebensweise jenseits des warenproduzierenden Patriarchats und damit auch jenseits des alten Staatssozialismus findet. Diese Öffnung wird nur möglich durch eine Öffnung auch des geistigen Horizonts zu einer neuen radikalen Gesellschaftskritik – statt sich vom Krisenalltag mit Haut und Haar auffressen zu lassen“ (Kurz 2006). Diese Herausforderungen sind durch Corona nicht dementiert. Im Gegenteil, sie haben sich als umso dringlicher erwiesen.
Literatur
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