Robert KurzINTERVIEW MIT DER BRASILIANISCHEN ZEITSCHRIFT CARTA CAPITAL (SAO PAULO)1. Die Einbußen der amerikanischen Banken sind in letzter Zeit enorm gestiegen. Im Laufe weniger Wochen wurden die Verlustschätzungen um Milliarden US-Dollars nach oben korrigiert. Wie bewerten Sie die dortige wirtschaftliche Lage? Die aktuelle Finanzkrise übertrifft alle vorherigen seit Ende der 80er Jahre bei weitem. Vor allem lässt sie sich nicht mehr auf ein Land oder eine Weltregion eingrenzen. Weil die USA das Zentrum der globalen Finanzarchitektur bilden, wird ein Domino-Effekt wirksam, der das gesamte Weltkapital erfasst. Der Rückschlag auf die Realökonomie ist absehbar. In den USA sind die Reallöhne seit langem gesunken. Das „Konsumwunder“ speiste sich aus Krediten, die durch Aktien und Hypotheken besichert wurden. Nachdem die Immobilienblase geplatzt ist, werden sich die Konsequenzen nicht auf eine Rezession von zwei oder drei Quartalen beschränken. Wenn aber die US-Ökonomie in eine lange Stagnation oder sogar Depression übergeht, kann sie die globalen Überschüsse der Warenproduktion nicht mehr absorbieren. Dann ist auch die Export-Einbahnstrasse über den Pazifik versperrt und die Weltkonjunktur wird stärker abstürzen, als die meisten Kommentatoren gegenwärtig glauben. 2. Sie haben den Begriff des „Casinokapitalismus“ geprägt, um die heutige Phase der Weltwirtschaft zu bezeichnen. Glauben Sie, dass die aktuelle Krise der Epoche der „Spekulationsblasen“ ein Ende setzt? Die Notenbanken haben die bisherigen Finanzkrisen durch einen Zinssenkungs-Wettlauf aufgefangen. Die Märkte wurden mit Liquidität geflutet, so zuletzt beim Zusammenbruch der „New Economy“ 2001. Dieses einfache Rezept des US-Notenbank-Chefs Alan Greenspan versucht auch sein Nachfolger Ben Bernanke anzuwenden. Auf diese Weise konnten die Finanzblasen immer wieder erneuert werden. Inzwischen hat aber das „substanzlose“ Geld weltweit zu einer dramatisch steigenden Inflation geführt. Nach den panikartigen Zinssenkungen der US-Notenbank ist die Inflation in den USA mehr als doppelt so hoch wie der Leitzins; der Realzins ist also negativ geworden. Da vor allem die Europäische Zentralbank bei der Zinssenkung bis jetzt nicht mitgezogen hat, drohen die US-Außendefizite unfinanzierbar zu werden und der Dollar ins Bodenlose zu stürzen. Das alte Rezept ist unbrauchbar geworden. Die Weltökonomie wird auf diese Weise inflationiert, was im Resultat erst recht zum Absturz führen muss. 3. Kritiker haben Sie einen „Katastrophist“ benannt, weil Sie meinen, der Kapitalismus wird bald in eine Sackgasse geraten, was zwangsweise zu dessen Überwindung führen wird, wie Marx bereits vorhergesehen hatte. Was meinen Sie, was wollen denn Ihre Kritiker nicht zur Kenntnis nehmen? Die absolute innere Schranke des Kapitalismus wird durch die 3. industrielle Revolution der Mikroelektronik markiert. Erstmals in der modernen Geschichte sind die Potentiale der Rationalisierung größer als die Expansion neuer Märkte. Damit verliert das Kapital seine Arbeits-Substanz, die Verwertung abstrakter menschlicher Energie. Dieser Sachverhalt konnte eine Zeitlang verdeckt werden durch das Recycling von Finanzblasen-Geld in die Realökonomie. Auf diese Weise fand nicht nur eine simulative Kapitalakkumulation statt, sondern es wurden auch Schein-Arbeitsplätze geschaffen; etwa mittels der Immobilienblase in den Bauindustrien oder durch die globale Defizit-Konjunktur in den Exportindustrien. Diese von ihrem Ausgangspunkt her simulierte Arbeits-Substanz ist letztlich unproduktiv und wird schnell aufgelöst, wenn die Finanzblasen-Ökonomie ihr Ende findet. 4. Die Entwicklungsländer, einschließlich Brasilien und vor allem China, sollen die Weltwirtschaft durch einen Rettungsweg aus der aktuellen Krise hinausführen. Wie stehen Sie zu dieser Behauptung? Die sogenannten Schwellenländer können die USA nicht als Lokomotiven der Weltkonjunktur ablösen. Ihre nominell hohen Wachstumsraten beziehen sich auf ein niedriges Ausgangsniveau. Sowohl das Bruttoinlandsprodukt als auch das Pro-Kopf-Einkommen dieser Länder ist absolut viel zu klein, um die Weltwirtschaft aus der Krise zu führen. So ist das chinesische Wachstum großenteils vom einseitigen Export in die USA abhängig, während der Binnenmarkt relativ weit zurückbleibt. Die Binnen-Kaufkraft wurde nur teilweise gestärkt, vor allem durch eine sekundäre Immobilienblase und einen entsprechenden Boom der Bauindustrie. Eine echte Mittelklasse hat sich so nicht herausgebildet. Wenn das defizitäre „Konsumwunder“ der USA erlischt, werden China und ganz Ostasien einen noch viel tieferen Einbruch erleben als die Tigerstaaten in den 90er Jahren. Das gilt auch für alle anderen Schwellenländer. 5. Nach Ihrer grundlegenden Kritik am Kapitalismus laufen die sogenannten Entwicklungsländer einer Illusion hinterher, wenn sie ein wirtschaftliches Wachstumsmodell verfolgen, das jenes der entwickelten Länder nachahmen will. Wie könnten die Entwicklungsländer am besten die vielen Arbeitsplätze schaffen, die sie nötig haben? Das alte nationalökonomische Entwicklungsmodell der kapitalistischen Peripherie ist längst zusammengebrochen und aufgegeben worden. Stattdessen wurden im Zuge der Globalisierung Exportwirtschaftszonen gebildet, die in transnationale Wertschöpfungsketten eingebunden sind. Die Fertigungstiefe dieser Exportindustrien ist relativ gering; die wichtigsten Produktionskomponenten müssen importiert werden in Form von Investitionen westlicher Konzerne. Das ist keine autonome Entwicklung mehr, sondern eine neue Abhängigkeit. Die Mehrheit der Menschen in diesen Ländern bleibt von der einseitigen Exportindustrialisierung abgekoppelt, die außerdem bei einem Ende der globalen Defizitkonjunktur jede Tragfähigkeit verliert. Das moderne Weltsystem der „Arbeitsplätze“ ist überhaupt obsolet geworden. Was zur Disposition steht, ist eine Produktions- und Lebensweise, die auf „abstrakter Arbeit“ (Marx) beruht. 6. In den letzten Jahren hat die brasilianische Regierung in soziale Programme investiert, die losgelöst von der Arbeitswelt ein Mindesteinkommen an arme Familien verteilen. Michael Hardt und Antonio Negri sind der Meinung, das sei ein guter Ausweg. Stimmen Sie ihnen zu? Nachdem der Staatskapitalismus sowjetischer Prägung untergegangen ist, sucht die Linke nach billigen Surrogaten, die allesamt die gesellschaftlichen Formen des modernen warenproduzierenden Systems nicht antasten. Hardt und Negri nennen sich Kommunisten, aber ihre Vision einer bürgerlichen Weltrepublik der „Multitude“ mit einem garantierten Mindesteinkommen in der Geldform ist dürftig. Unter den herrschenden Bedingungen des Weltmarkts wird damit bestenfalls ein allgemeines Armutsniveau zementiert und legitimiert. Da alle Transfers letztlich von der realen Kapitalverwertung abhängig sind, muss in der Krise selbst dafür die „Finanzierbarkeit“ wegbrechen. Die alte Illusion eines „Primats der Politik“ gegenüber der unüberwundenen kapitalistischen Ökonomie kann sich nur noch blamieren. 7. Sie haben den Begriff „Geldsubjekte ohne Geld“ eingeführt, um die Massen von Arbeitslosen in den Entwicklungsländern zu bezeichnen. Was sollen wir aus der historischen Krise erwarten, in der sich diese Menschenmengen befinden? Die Formel „Geldsubjekte ohne Geld“ bezieht sich auf das Dilemma, dass die Menschen in den letzten 200 Jahren die kapitalistischen Formen verinnerlicht haben und für quasi-natürliche, überhistorische Existenzbedingungen halten. Das gilt auch für die Armen und Arbeitslosen. Deshalb ist niemand auf das Ende einer Lebensweise in der „heiligen Trinität“ des Verkaufs von Arbeitskraft, Warenproduktion und Geldeinkommen vorbereitet. Die sachlichen Produktionskapazitäten sind gigantisch und die Lager quellen über, aber die Kaufkraft verfällt. Auch in den kapitalistischen Zentren gibt es immer mehr „Geldsubjekte ohne Geld“, an denen der simulative Aufschwung der Defizitkonjunktur in den letzten Jahren spurlos vorbeigegangen ist. Schon in den bisherigen weltregionalen Zusammenbruchserscheinungen sind die Reaktionen nicht emanzipatorisch, sondern eher barbarisch. Die Ausbreitung irrationaler Ideologien lässt nichts Gutes erwarten. 8. Und in Bezug auf die Mittelschicht? Führt denn kein Weg aus der Verschlechterung der Arbeitslage hinaus? Werden neue Technologien ein Produktionswachstum ermöglichen und neue Arbeitsbereiche schaffen, die zusammen die Entlassungen in der Industrie ausgleichen können? Die neuen Technologien steigern die Produktionskapazitäten, aber sie schaffen keine neuen tragfähigen Arbeitsbereiche im großen Maßstab. Die Hoffnung auf eine qualifizierte Dienstleistungsgesellschaft des „Wissens“- und Informationskapitalismus mit großen Potentialen für die Beschäftigung war trügerisch. Die öffentlichen Infrastrukturen des Bildungs- und Gesundheitswesens werden ausgedünnt oder zu verschlechterten Bedingungen privatisiert und kommerzialisiert. Längst hat die Rationalisierung und Prekarisierung der Arbeit auch die qualifizierten Sektoren der Betriebswirtschaft erfasst. Das „Humankapital“ der Mittelschicht wird entwertet. An die Stelle des akademischen Bildungsbürgertums treten ein Elends-Unternehmertum und eine neue Billig-Intelligenz. In den USA und in Europa gibt es deshalb eine heftige, aber hilflose Debatte über den Absturz der Mittelklassen. 9. Auf welche Weise kann sich die weltweit verbreitete Energiekrise auf die Souveränität weniger entwickelter Länder auswirken, besonders in Lateinamerika? Die Explosion der Energiepreise hat zwei Gründe. Zum einen handelt es sich um eine Folge der hohen Nachfrage in der globalen Defizitkonjunktur. Zum andern gehen aber mittelfristig auch die Reserven und Förderkapazitäten zur Neige. Aufgrund immer größerer Investitionskosten wird der Energiepreis selbst bei einem Absturz der Defizitkonjunktur nicht mehr auf alte Tiefstände fallen. Für die Öl- und Gas-Staaten wie Russland, Iran oder Venezuela geht dann trotzdem der spekulative Boom zu Ende. Die einseitige Abhängigkeit vom Energieexport kann kein eigenes Entwicklungsmodell konstituieren. Dafür fehlt die industrielle Basis, inzwischen auch in Russland nach dem Zusammenbruch des Staatskapitalismus. Umgekehrt bleibt der Energieimport für die Mehrzahl der Länder ohne eigene Reserven eine ständige Belastung. Der Verteilungskampf um die schrumpfende fossile Energie bildet eine besondere „naturale“ Dimension der kapitalistischen Krise. Dieses Problem kann aber ebenso wenig wie alle anderen in Kategorien nationaler Souveränität formuliert werden. Eine andere Produktions- und Lebensweise ist nur noch im Weltmaßstab jenseits von Nation und Staatlichkeit denkbar. 10. Paul Virilio behauptet, dass wir unter der Ägide der Beschleunigung leben. Stimmen Sie dieser Behauptung zu? Sind dieser Beschleunigung keine Grenzen gesetzt? Werden wir ein „Zeitalter der Verlangsamung“ erleben, nachdem die totale Beschleunigung erreicht ist? Paul Virilio hat mit der Formel vom „rasenden Stillstand“ eine treffende Metapher für die kapitalistische Dynamik gefunden. Die vergangenheitsbezogene kritische Reflexion steht still, die blinde und unkontrollierte Veränderung der Strukturen rast. Individuen, Unternehmen und Institutionen werden in ihrer autistischen Aktivität mit Laptops und Mobiltelefonen immer hektischer und realisieren nicht mehr, dass sie sich gemeinsam in einem steuerlosen Hochgeschwindigkeitszug befinden, der unaufhörlich weiter beschleunigt. Wenn die Menschheit nicht die Notbremse findet, wird der Zug entgleisen. Das ist die einzige Art der „Verlangsamung“, die der Kapitalismus kennt. |