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Manfred Sohn


Manfred Sohn

Späte Rezension

Robert Kurz, Weltordnungskrieg – Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung, Bad Honnef 2003

Wer diese 440 Seiten durcharbeitet, hat einiges zu kauen. Aber er – oder sie – bekommt Vollwertkost.

Dies ist eine späte Rezension – mehr als zehn Jahre nach der Veröffentlichung dieses Buches, die geschah, als Bush junior zum Krieg gegen den Irak rüstete, der heute (im Frühsommer 2014) in dem von Kurz bereits prognostizierten blutigen Chaos zwischen autonomen Kurdengebieten, shiitischen Clans und Gotteskriegern untergeht (S. 418), mehr als zwei Jahre nach dem Tod des Autors.

Eine solche späte Rezension hat neben Nachteilen wie dem, dass sie kaum mehr publiziert werden dürfte, ein paar Vorteile. Der größte ist, dass sich bei philosophischen, politischen oder ökonomischen Werken der Wert eines Buches oft besser herausstellt, wenn es gut 10 Jahre nach seinem Erscheinen gelesen wird. Das sortiert den hirnlosen Aktualitätsmüll dann schneller von wichtigen Überlegungen als das Verschlingen von Büchern gleich an der Druckpresse. In diesem Fall – wie schon bei einigen anderen Büchern von Robert Kurz – macht die verspätete Lektüre die Hauptschwäche Kurz‘ deutlich: Seine Irrtümer in der Dimension der Zeit. Er teilt diesen Nachteil mit Marx und anderen, an denen er sich orientiert. An mehreren Stellen redet er von galoppierenden Prozessen, davon, dass sich „das Dilemma des weltimperialen Ausnahmezustandes … fast schon von Monat zu Monat (verschärft)“ (S. 414), dass der „Absturz der letzten Weltmacht … also in den Bereich des akut Möglichen“ gerückt sei (S. 419). Auch die Gefahr eines atomaren Infernos, ausgelöst durch diese letzte Weltmacht USA, sieht er unmittelbar vor sich. Die Entwicklung hat uns mindestens eine weitere Dekade ohne ein Inferno dieses Ausmaßes geschenkt. Das liegt – das wäre aus meiner Sicht die Kernbegründung für diesen offensichtlichen und für uns alle glücklichen Irrtum in der Dimension der Zeit – vor allem darin, dass er als intellektueller Jäger auf den Spuren der kapitalistischen Realmetaphysik seinem Wild zwar auf die Spur und auf die Schliche kommt, sich aber gleichzeitig von ihm in die substanzlose Welt der sinnentleerten Geldvermehrung hineinlocken lässt. Wer aus den Höhen dieser substanzlosen Finanzsphären einen Blick auf die banale Ebene der Produktion von Brot, Häusern und Unterhosen hinunterwirft, muss nüchtern feststellen, dass auch ein historisch überlebtes System häufig noch lange aufrechterhalten werden kann, wenn die grundlegenden Bedürfnisse großer Bevölkerungsschichten einerseits erfüllt werden, andererseits funktionierende ideologische Apparate existieren, die verhindern, dass sich die anwachsenden Spannungen bis zum Kollaps entladen. Im Falle des römischen Reiches vergingen von den christlichen Prophezeiungen seines bevorstehenden Endes bis zum Abdanken des letzten weströmischen Kaisers noch rund 400 Jahre. Vielleicht erstickt dieses System an seiner Produktivität früher – aber die Frage der Dimension der Zeit gehört genauer untersucht. Die meisten Prozesse, die Kurz in diesem gut 10 Jahre alten Buch beschreibt, laufen in ihren Grundstrukturen so ab wie von ihm prognostiziert – aber eben nicht in Form eines Kollaps wie den der nachholenden Modernisierung1, sondern in Form eines quälenden Niedergangs mit sich zwar steigernden, aber in unserer Zeitspanne eher nicht zum erlösenden Finale drängenden beschleunigenden Zerfallsprozessen. Wäre es anders, wären die Alternativen auch schon klarer vom kollektiven Hirn der Menschheit herausgearbeitet als das von Kurz mit Verweis auf die Kibbuzim und seinem Traum von einem „Welt-Kibbuz“ (S. 438) am Schluss des Buches geschieht.

Aber der Reihe nach. Kurz beginnt sein Werk mit Betrachtungen über „Die Metamorphosen des Imperialismus“ mit der Kernthese, dass die Zeit der Weltkriege, in denen imperialistische Zentren mit allen Mitteln bis hin zu kriegerischen miteinander konkurrierten, endgültig vorbei und durch die Ära der im Rahmen des Kapitalismus unanfechtbaren Vorherrschaft der USA als letzter verbleibender Weltmacht abgelöst sei.  Dies ist insofern von hoher Fruchtbarkeit auch für die Beurteilung aktueller politischer Prozesse und wird im vorletzten Kapitel dementsprechend noch einmal intensiv aufgegriffen2, als in der Tat weder die aktuellen Vorgänge in der Ukraine noch die im gesamten Raum zwischen Libyen und Afghanistan nicht mehr mit den Rastern aus der Zeit der Weltkriege begriffen werden können. Sie sind letztlich Ausdruck der begonnenen Kernschmelze im Inneren des warenproduzierenden kapitalistischen Systems, der – anders eben als 1914 oder 1939 – nicht mehr auf der Jagd nach Rohstoffen und vor allem verwertbarer menschlicher Arbeitskraft ist, sondern für den Millionen von Menschen schlicht nicht mehr kapitalistisch verwertbar sind, die infolgedessen zu Gefolgschaften eurozentristisch verhetzender Kräfte in der Ukraine und religiöser Fanatiker in anderen Gebieten der Erde werden – perspektiv- und hoffnungslos das eine wie das andere. Das Buch ist aber weit mehr als eine brillante Beschreibung unserer politischen Weltkarte. Es ist eben auch ein zutiefst ökonomisches und – vielleicht von allen Publikationen Kurz‘ am meisten – ein philosophisches Werk. Das macht es für jemanden, der nicht in der Begriffswelt von Nomos, Ontologie, Mythos und phänomenologischen Postmodernismus zu Hause ist, zuweilen schwer und nur mit Fremdwörterlexikon zu lesen. Aber der Kern ist im Grunde einfach und nachvollziehbar auch für philosophische Laien: Kapitalismus ist das Gesellschaftssystem, das sich um die Verwandlung von G (=Geld) in G‘ (=mehr Geld) dreht und es ist insofern das System, das ein seelenloses Nichts zu seinem Wesenskern erhoben hat. In dieses schwarze Loch saugt es im Laufe der Jahrhunderte seiner Entwicklung immer mehr menschliche Beziehungen hinein, entleert und zerstört sie. Diese Seelenlosigkeit und das Bestreben des Kapitalismus, alles Lebendige in diese sinnlose und damit tote Leere von G – G‘ zu ziehen, bezeichnet Kurz als den Todestrieb des Kapitalismus, der sich in seiner Niedergangs- und Endphase folgerichtig in individueller Verachtung sogar des eigenen Lebens in den Selbstmordattentätern der Zerfallsregionen des Kapitalismus und in der (für Kurz nahen) Perspektive im bevorstehenden atomaren Untergangsinferno dieses System manifestiert. Die Ära des deutschen Faschismus betrachtet er in einer der brillantesten Passagen als eine Art Prolog dieser in seiner Sumpfblüte erst noch vor uns liegenden Entwicklung.

Die Düsterheit dieser Prognose macht die Lektüre psychisch anstrengend. Aber zum einen wissen gerade wir Linken eben: Kopf in den Sand hat noch niemanden genützt, und ohne der Wahrheit mutig ins Auge zu sehen ist zumindest für unsere Sache noch nie ein Kampf gewonnen worden. Zum anderen gibt es für die intellektuelle und psychische Mühe der Lektüre dieses Buches auch den Lohn, viele politisch-praktische Fragen wie die der Auseinandersetzung um die Asylpolitik als handgreifliches Beispiel des Übergangs vom Expansions- zum Ab- und Ausgrenzungsimperialismus tiefgründiger verstehen und damit auch handhaben zu können. Also nix für „mal eben“, aber trotzdem: Kurz‘ Weltordnungskrieg unbedingt lesen. Eilt auch nicht – das ist eines der Bücher, die mit der Zeit an Wert nicht verlieren, sondern sogar gewinnen.

Manfred Sohn ist Autor des Buches „Am Epochenbruch. Varianten und Endlichkeit des Kapitalismus“, PapyRossa Verlag, Köln 2014. Wir werden uns mit diesem Buch und den in der vorliegenden Rezension vertretenen Thesen – den darin enthaltenen Gemeinsamkeiten und Dissens-Punkten – im Laufe dieses Jahres noch kritisch auseinandersetzen, auch im Rahmen des EXIT!-Seminars zum Thema „Krise und Transformation“ vom 17. - 19. Oktober 2014 in Mainz.




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