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Klaus Kempter


Translation [pt]: A importância da crítica do valor e da crítica da dissociação-valor para a ciência da história

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Klaus Kempter

Die Bedeutung von Wertkritik und Wert-Abspaltungs-Kritik für die Geschichtswissenschaft

Zur fortbestehenden Relevanz von Karl Marx

Der folgende Text entstand in der Absicht, die grundlegenden theoretischen und historischen Einsichten von Robert Kurz in die akademische Geschichtswissenschaft einzuspeisen und für künftige Forschung fruchtbar zu machen. Dass die Vermittlung von Wertkritik und Wert-Abspaltungs-Kritik in den Wissenschaftsbetrieb hinein erhebliche Hindernisse zu bewältigen hat, liegt auf der Hand. Schließlich haben sich die genannten Stränge einer neuen kritischen Theorie abseits der konventionellen akademischen Formen entwickelt, und die historische Wissenschaft, sofern sie überhaupt gesellschaftstheoretisch orientiert war, hat sich bereits in den 1970er Jahren von marxistischen Diskursen ab- und dem Poststrukturalismus zugewandt. Zwischen der Wert-Abspaltungs-Kritik und der Geschichtswissenschaft – wie der akademischen Sozialwissenschaft insgesamt – herrscht folglich bis heute vollständige Beziehungslosigkeit.
Das Bemühen um die Veröffentlichung des vorliegenden Aufsatzes in einer geschichtswissenschaftlichen Fachzeitschrift war denn auch nur zum Teil von Erfolg gekrönt: Eine stark gekürzte Fassung erschien unter dem Titel Robert Kurz, die „Wertkritik“ und die radikale Gesellschaftstheorie oder Ist Karl Marx doch noch relevant für die Geschichte? schließlich in WerkstattGeschichte, Nr. 72, 2016, S. 65-76.

Nachdem der „real existierende Sozialismus“ 1989/91 recht abrupt zugrunde gegangen war, schien nicht nur die historisch-materialistische, marxistisch-leninistische Weltanschauung endgültig ins Museum untergegangener Ideen eingetreten zu sein. Auch die zahlreichen in sozialdemokratischen, linkssozialistischen oder heterodox-marxistischen Zirkeln des liberalen Westens hin- und hergewendeten Gedanken von Karl Marx galten auf einmal selbst den Mitgliedern dieser Gruppen ähnlich obsolet wie der biblische Schöpfungsglaube angesichts der Darwinschen Revolution. Auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften, wo es eine zwar marginale, gleichwohl angesehene, von Tagespolitik wenig affizierte Tradition des „westlichen Marxismus“ gegeben hatte – man denke an die Frankfurter Schule und ihre Derivate, aber auch an die Rezeption des Denkens von Antonio Gramsci – verschwanden „Ansätze“, die sich auf Marx zurückführten, fast gänzlich aus dem Diskurs. Freilich finden sich nach wie vor etliche Philosophen, Sozialwissenschaftler, Geographen oder Ethnologen – und aktuelle Maître-Penseurs wie Alain Badiou und Slavoj Žižek –, die in Marx einen weiterhin fruchtbaren Denker sehen.1

Nicht einfach randständig, sondern so gut wie verschwunden erscheint die Auseinandersetzung mit Marxschen Ideen in der akademischen Geschichtswissenschaft. Gab es früher renommierte Historiker, die sich explizit zur marxistischen Tradition bekannten, so ist heute kaum noch einer zu finden, der wenigstens ein fortdauerndes Anregungspotential der Konzepte von Marx konstatierte. Eric Hobsbawm, der sich bis zum Ende seines langen Lebens als Marxist verstand – wenn er auch in seinen politischen Äußerungen mehr und mehr einem wenig radikal anmutenden sozialdemokratischen Reformismus zuneigte –, hat keinen Nachfolger gefunden, und so dürfte wohl der Weltsystem-Theoretiker Immanuel Wallerstein der letzte weithin bekannte historiographische Vertreter einer fast gänzlich versunkenen Wissenschaftstradition sein.

Allenfalls finden sich noch Spuren des früheren historiographischen Marxismus in den Postcolonial Studies: Gramscianische Hegemoniedebatten, Begriffe wie die des „Subalternen“, die Einspeisung von Konzepten, die sich mit Rassismus, Sexismus und den Kolonisierten befassen, stellen – wie auch die „Empire“- und „Multitude“-Theoreme des Postoperaismus und die Mehrzahl der postmarxistischen Theoriebeiträge überhaupt – Erweiterungen und Entdogmatisierungen des Klassen-Diskurses dar. Mit ihrer bloßen geographischen, soziologischen und kulturwissenschaftlichen Ausweitung des Blickfeldes und der dezidierten antiökonomistischen Vernachlässigung der Marxschen Basiskategorien berauben sie sich aber des möglicherweise entscheidenden theoretischen Potentials.

Die seit 2008 anhaltende Instabilität und krisenhafte Entwicklung der Weltwirtschaft hat in der politisch-journalistischen Debatte Marx und seine Kapitalismuskritik wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Etliche Publikationen erinnern seither an den Kirchenvater der Kapitalismuskritik und fragen sich, ob er vielleicht doch recht hatte, und wenn ja, warum und wo genau.2

In den Vereinigten Staaten, dem Zentrum des Weltsystems, haben junge Intellektuelle radikale Zeitschriften ins Leben gerufen, etwa „The Jacobin“ oder „n + 1“, in denen mit Marxschem Begriffsbesteck hantiert wird.3 Ein marxistisch inspiriertes aktivistisches Manifest über den „kommenden Aufstand“ und ein sich philosophisch gebendes für die „akzelerationistische Überwindung“ des Kapitalismus machten Furore.4

Ohnehin lässt der inzwischen recht unbefangene Gebrauch der früheren Reizvokabel „Kapitalismus“ mitunter eine Marx-Renaissance erwarten. Doch die Geschichtswissenschaft scheint davon unberührt. Warum ist das so?

Eine naheliegende Vermutung drängt sich auf: Womöglich sind diejenigen Marxschen Ideen, die in der bisherigen marxistischen Geschichtsforschung Orientierungsfunktion hatten, entweder überlebt oder waren gar seit jeher untauglich. Die Vorstellung etwa, dass die sogenannte ökonomische Basis von bestehenden Gesellschaften stets den Ausgangspunkt ihrer historiographischen Durchdringung bilden sollte; das Dogma, dass alle Geschichte die Geschichte von Klassenkämpfen sei, dass man immerzu nach divergierenden, einander widerstreitenden materiellen Interessen zu suchen habe, um der wirklichen Geschichte auf den Grund zu gehen, und sich nicht ablenken lassen sollte von den bloß ideologischen Reflexen in Kultur und Ideologie; der Gedanke, dass der moderne Staat nichts weiter sei als geschäftsführende Ausschuss der Bourgeoisklasse, all diese Annahmen, die der marxistischen Geschichtsschreibung in ihren gröberen wie auch in manchen subtileren Varianten zugrunde lagen, sind ganz zu Recht aus der geschichtswissenschaftlichen Debatte verschwunden.

Dieser alte Marxismus – und auch jeder neue – ist jedoch nicht der ganze Marx. Im gigantischen Bergwerk des Marxschen Denkens stößt man, gräbt man tief genug, auf Adern, die die Mühe lohnen. Die folgenden Betrachtungen sind ein Plädoyer dafür, diese Anstrengung auf sich zu nehmen, um der Geschichtswissenschaft neue Impulse zu geben, und dabei sowohl die konventionelle akademische Reserve gegen gesellschaftstheoretisch fundierte Geschichtsschreibung als auch die zunehmend unfruchtbar werdende postmoderne Abneigung gegen Große Erzählungen abzulegen. Um die Welt von heute und ihr Werden im Laufe von, je nach Betrachtungsweise, zweieinhalb bis fünf Jahrhunderten der kapitalistischen Moderne zu verstehen, ist der Rückgriff auf Marx nach wie vor unerlässlich – freilich nicht auf den transhistorischen Marx des Klassenkampfs, des Kommunistischen Manifests und des unaufhaltsamen, wenn auch in dialektischen Verlaufsformen sich vollziehenden gesellschaftlichen Fortschritts; sondern auf den Marx, der die Gesellschaften analysiert, „in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht“5, also den Theoretiker des grundlegenden gesellschaftlichen Mechanismus der Wertverwertung, des blinden Prozessierens des Kapitals als des „automatischen Subjekts“ der modernen Welt. Vorgeschlagen wird der Geschichtswissenschaft hier die Beschäftigung nicht mit dem Marxismus, auch nicht dem „westlichen“, sondern mit dem recht unbekannten, „esoterischen“ Marx, wie ihn der in akademischen Kreisen wenig gelesene Theoretiker und Historiker Robert Kurz verstanden hat, und die Prüfung der Frage, ob Kurz‘ von Marx inspiriertes Werk einen profunden Beitrag zum Verständnis der modernen Geschichte leisten kann.6

Robert Kurz und die Wertkritik

Robert Kurz (1943—2012) gehörte zu den zahlreichen Aktivisten, die sich im „roten Jahrzehnt“ nach der westlichen Studentenrevolte von 1968 einer der neuentstandenen linksradikalen Sekten anschlossen und etliche Jahre lang die Revolution in den „kapitalistischen Zentren“ zu initiieren versuchten. Am Ende der siebziger Jahre brach er mit diesem von ihm später so genannten „Politizismus“, um sich gemeinsam mit einer Gruppe Gleichgesinnter der theoretischen Grundlagen linker politischer Praxis zu versichern. Im folgenden Jahrzehnt beschäftigte sich dieser Nürnberger Theoriezirkel mit Marx und dem Marxismus, und dies vor allem unter krisentheoretischen Vorzeichen. Seit 1986 gaben Kurz und einige Mitstreiter das Theorieorgan „Marxistische Kritik“ heraus. 1990 erhielt die Zeitschrift den neuen Namen „Krisis“ – programmatisch nicht allein wegen des damit identifizierten thematischen Fokus, sondern auch in der Verabschiedung des Marxismus, die jedoch keinen Abschied von Marx implizierte. Kurz blieb bis zur Spaltung der Redaktion im Jahr 2004 und der Gründung der neuen Theoriezeitschrift „Exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft“ ihr wichtigster Autor. Sein Aufsatz „Die Krise des Tauschwerts“7 aus dem Jahr 1986 stellt das Gründungsdokument einer neuen kritischen Theorie dar, die die Nürnberger Gruppe mit Bezug auf die Marxsche Basiskategorie „Wertkritik“ nannte. Und seit Beginn der neunziger Jahre trat Kurz auch als Verfasser mehrerer größerer und kleinerer Monographien hervor, von denen vor allem das „Schwarzbuch Kapitalismus“ (1999) weithin zur Kenntnis genommen wurde. Mit wachsendem Bekanntheitsgrad erweiterten sich seine Publikationsmöglichkeiten. Er schrieb seit Mitte der neunziger Jahre für die brasilianische Tageszeitung Folha de São Paulo, hatte von 2002 an eine wirtschaftspolitische Kolumne in der Tageszeitung Neues Deutschland und veröffentlichte Artikel in der Wochenzeitung Freitag. Auch als Vortragsredner und Referent, freilich wiederum fast ausschließlich in linken Polit-Zirkeln, versuchte Kurz zu wirken. Sein Leben verlief mithin fernab von den akademischen Foren, in denen üblicherweise „Wissenschaft“ angeregt, verarbeitet, weiterentwickelt wird. In den Diskussionen gelehrter Kreise spielt Kurz‘ Werk infolgedessen ebenso wenig eine Rolle wie im üblichen akademischen Schriftgut. Wissenschaftliche Qualifikationsschriften und professorale Überblickswerke kommen bislang ohne Bezug auf Kurz aus – auch, wenn es um die Themen geht, die er eingehend und überaus anregend behandelt hat. In jüngster Zeit sind immerhin einige seiner Aufsätze, zusammen mit denen anderer „Wertkritiker“, in einer englischsprachigen Sammlung wertkritischer Basistexte erschienen.8 Die Zukunft wird zeigen, ob dies die internationale Rezeption nicht nur bei Spät- und Postmarxisten befördern kann. Die Kurzschen Erkenntnisse – unter absichtsvoller Vermeidung der „Betulichkeit und Ausgewogenheit“ akademischer Prosa formuliert9 – sind, wie aus dem Folgenden hervorgehen sollte, viel zu originell und relevant, zumal für die Geschichtswissenschaft, um sie linken Politzirkeln zu überlassen.

Dabei war zweifellos Kurz‘ Ausgangspunkt, wie angemerkt, ein eminent politischer: die zeitgenössische Befassung mit der, wie es der akademische Diskurs formulieren würde, Krise der Industriegesellschaften in den siebziger und achtziger Jahren, die für Kurz auf die endgültige Erschöpfung der Energien der kapitalistischen Produktionsweise hindeutete. Diese Erschöpfung schlug welthistorisch zunächst als Zusammenbruch des „Kasernensozialismus“ der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten zu Buche.

Der Kollaps der Modernisierung und die Historizität des Kapitalismus

Dass Kurz und die Nürnberger Wertkritiker, ähnlich wie die seinerzeitigen Vertreter der „bürgerlichen“ Konvergenztheorie, zwischen den Industriegesellschaften der westlichen Marktwirtschaft und des östlichen Staatssozialismus keine „kategoriale“ Differenz sahen, mag zunächst der politischen Herkunft aus dem Maoismus geschuldet sein, wurde aber dann auch ausführlich theoretisch begründet. In seinem 1991 erschienenen ersten Buch „Der Kollaps der Modernisierung“ erläuterte Kurz, bevor er die systemischen Schwächen des realsozialistischen „geplanten Marktes“ einer Analyse unterzog, was er für den historischen Ort der sowjetischen und osteuropäischen Produktionsregimes seit 1917 bzw. seit 1945 hielt.10 Unter Verweis auf frühe Denker der Moderne wie Fichte und Tocqueville schrieb er dem Staatssozialismus die historische Funktion zu, in Nachzügler-Gesellschaften der kapitalistischen Peripherie die ökonomisch-reproduktive Rückständigkeit auf dem Wege staatlicher Kommandowirtschaft wettzumachen. Nach Kurz‘ Beobachtung hatte Fichte in seiner Schrift „Der Geschloßene Handelsstaat“ (1800) bereits eine vom Staat geplante Warenproduktion skizziert und damit einen ideologischen Grundstein für den bekannten (nicht nur) deutschen Etatismus in Wirtschaftstheorie und -politik gelegt. Tocquevilles Leistung war es, Kurz zufolge, als Analytiker des revolutionären Geschehens in Frankreich in L’Ancien Régime et la Révolution ganz unsentimental und antiidealistisch darauf hinzuweisen, dass der Wechsel der politischen Herrschaftsformen von der Monarchie zur parlamentarischen Republik zweitrangig war gegenüber der Durchsetzung des modernen Staates überhaupt und es bei der Französischen Revolution nicht so sehr um einen Kampf für Bürgerrechte und Volkssouveränität, sondern vor allem um die Beerbung des vom Absolutismus bereits geschaffenen nationalen Staates und Marktes und deren Indienstnahme für privatkapitalistische Zwecke gegangen sei. Die russische Oktoberrevolution und die darauffolgende Etablierung so genannter sozialistischer Staaten und Wirtschaften standen für Kurz in dieser Tradition etatistisch gesteuerter, nunmehr zweifelsfrei „nachholender Modernisierung“. Sie stellten demnach mitnichten einen Versuch dar, die Konsequenzen aus Marx‘ radikaler Kritik der kapitalistischen Warenproduktion zu ziehen, sondern unternahmen es vielmehr, diese Produktionsweise überhaupt erst, unter staatlicher anstelle privater Regie, zu implementieren.

Als nun dieser unter Staatskommando stehende „Kapitalismus des Ostens“ am Ende der 1980er Jahre kollabierte, waren Kurz und seine Mitstreiter weder betrübt noch überrascht. Sie hatten vielmehr die Unhaltbarkeit des Kasernensozialismus, die Absurdität seiner geplanten Märkte, seiner „sekundären“ Konkurrenzverhältnisse seit Jahren in ihren Texten beschrieben.11

Doch Kurz war ganz gegen den Zeitgeist der frühen 1990er Jahre zugleich der Auffassung, dass der Zusammenbruch des Ostblock-Sozialismus keineswegs den welthistorischen Sieg von Demokratie und Marktwirtschaft und damit das von Francis Fukuyama diagnostizierte „Ende der Geschichte“ bedeutete.12 Der Triumphalismus des Westens schien ihm gänzlich deplatziert. Die alten Zentren der Modernisierung hatten nicht gesiegt; sie waren nach dem Untergang der weniger entwickelten Peripherie lediglich – vorläufig – übrig geblieben. Die allgemeine Krise des Kapitalismus, der die östliche Konkurrenz in Wirklichkeit zum Opfer gefallen war, hatte sie ebenfalls im Griff, wie Kurz schon in seinem ersten grundlegenden theoretisch-empirischen Artikel von 1986 nachzuweisen versucht hatte.

Worin besteht diese Krise des Kapitalismus, die nicht eine gewöhnliche, zyklische und auch nicht eine der seltenen, aber doch historisch wenigstens einmal – Anfang der 1930er Jahre – aufgetretenen existenzgefährdenden Krisen darstellt, sondern das Erreichen der absoluten „inneren Schranke“ der kapitalistischen Produktionsweise anzeigt? Robert Kurz und die Wertkritik folgen hier einigen eher erratischen Bemerkungen von Marx, etwa derjenigen aus dem so genannten „Maschinenfragment“ des 1857/58 geschriebenen, umfangreichen Manuskripts zur Kritik der Politischen Ökonomie, das erstmals Ende der 1930er Jahre unter dem Titel „Grundrisse“ veröffentlicht wurde: „Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch [dadurch], dass es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren strebt, während es andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt“13, um den Grund für ihre Annahme zu legen, dass von einer bestimmten Höhe der Produktivitätssteigerung an die einzige wertbildende Potenz, die menschliche Arbeitskraft, in einem so hohen Maße aus dem Produktionsprozess hinausrationalisiert wird, dass die gesamte Produktionsweise nicht mehr weiter existieren kann. Diese innere Schranke ist den Analysen der Wertkritik zufolge mit dem Einsatz der Computertechnik, der Automatisierung, Computerisierung und Digitalisierung, d. h. mit der dritten industriellen, der mikroelektronischen Revolution seit den 1970er und 1980er Jahren erreicht. Seither befinde sich das moderne Produktionsregime im unaufhaltsamen Abstieg.14

Von dieser zeitgenössischen Krisendiagnose ausgehend und den entsprechenden Fingerzeigen Marx‘ folgend unterzog Kurz im Verlaufe der 1990er Jahre nicht bloß den aktuell existierenden Kapitalismus – unter anderem in verschiedenen polemischen Schriften etwa zu den Problemen der deutschen Wiedervereinigung15 –, sondern die gesamte historische Formation einer Musterung. Er unternahm den Versuch (das unterscheidet seine Narration fundamental von allen akademischen wie auch von den außeruniversitär-„restmarxistischen“ historischen Deutungen), die Gesamtgeschichte des Kapitalismus im Angesicht seines bevorstehenden Endes zu schreiben – als Geschichte gewissermaßen „von außen“, mit einem zwar alles andere als kühlen oder neutralen, aber doch einem Blick aus der Distanz. Er ging mithin von der Annahme aus, das in Sicht gekommene Ende der kapitalistischen Marktwirtschaft deute darauf hin, dass diese auch einen historisch bestimmbaren Anfang, eine „Konstitutions-“ und eine „Durchsetzungsgeschichte“, und einen weiteren, „prozessierenden“, progressiven Verlauf hat und nicht gewissermaßen, als zwar evolutionär entstandene, dann aber ontologisch verfestigte Konstante, in sich selbst ruht und auf Ewigkeit angelegt ist.

Damit richtete er sich gegen weit verbreitete a- und antihistorische Vorstellungen von marktwirtschaftlichen Gleichgewichtszuständen und Kreislaufprozessen. Bemerkenswerterweise ist es ja offenkundig und daher jedermann in den und außerhalb der Wirtschaftswissenschaften bekannt, dass die moderne Wirtschaft beständig Steigerungen des Güterausstoßes, größeren Kapitalstock, technische Innovationen, Ausdehnung des Konsumentenkreises etc. hervorbrachte, doch führt dies in der Regel nicht zu einer historisch-evolutionären Betrachtung des ökonomischen Geschehens.

Vielmehr bleiben die unterschiedlichsten Analytiker der modernen Wirtschaft einem geschichtslosen Kreislaufdenken verhaftet, wie es die Wirtschaftswissenschaft seit ihren Anfängen geprägt hat. Immer wieder werden medizinische, mechanische oder kosmologische Analogien bemüht, um die ewige Wiederkehr des Immergleichen (bei wundersamerweise vermehrtem Güterreichtum) zu konstatieren und Markt-Idyllen zu malen. In der akademischen Volkswirtschaftslehre bildete von den großen Theoretikern lediglich Schumpeter mit seiner „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“, der vielzitierten Idee von der „schöpferischen Zerstörung“ und dem Prozessverlauf von Innovationen und Imitationen eine Ausnahme. Allerdings endet die bei ihm und anderen zu beobachtende Adaption der Kondratieffschen „langen Wellen“ ebenfalls in Kreislaufvorstellungen, wenn auch in weit größer dimensionierten als den in der kurzfristig operierenden Konjunkturtheorie verwendeten.

Gegen die statischen Gleichgewichts- und Kreislaufideen der Wirtschaftswissenschaft sowohl neoklassischer als auch keynesianischer Provenienz, aber auch des Marxismus in Form der stetig, wenn auch „auf höherer Stufenleiter“ wiederkehrenden Überakkumulations- und Reinigungskrisen oder der These, „das Kapital“ neige zum Krieg, um den vorhandenen Reichtum an Gütern und Produktionsanlagen zu vernichten und mit der Akkumulation wieder von vorne anzufangen, unternahm Kurz seit den 1980er Jahren nicht nur die Anstrengung, die in Marx‘ Werk an vielen Stellen aufscheinende, jedoch nicht systematisch dargelegte und letztlich fragmentarisch gebliebene Krisentheorie auszuführen – ein Versuch, dessen Ergebnisse hier nicht gewürdigt werden können. Er wurde zugleich zum Historiker des Kapitalismus und zu einem eminenten historischen Denker.

Die Geschichte des Kapitalismus I: Konstitution und Durchsetzung der industriellen Markwirtschaft

Als Kurz in den späten 1990er Jahren sein umfängliches historiographisches Hauptwerk „Schwarzbuch Kapitalismus“ mit dem Untertitel „Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft“16 verfasste, folgte seine Darstellungsweise der Einsicht, dass „blinde Strukturprozesse und apologetische Reflexion zusammen den historischen Realprozess bilden.“17 Das Schwarzbuch als „integrierte Darstellung“ der drei industriellen Revolutionen schildert folglich zum einen die teils quasi-naturwüchsigen, „blinden“, teils politisch implementierten Strukturprozesse seit dem späten 18. Jahrhundert: die Herausbildung der großen Industrien in England und in den nachfolgenden Ländern des westlichen Europa, verbunden mit dem terroristischen Zwang, der von Anfang an auf die agrarischen Bevölkerungsmassen ausgeübt wurde, um sie zu „Zugochsen“ des abstrakten Kapitalverwertungsprozesses zu erziehen – hier schließt sich Kurz in origineller, weiterführender Weise an die Darstellungen Marx‘ und Foucaults zur „ursprünglichen Akkumulation“ an.18 Zum anderen greift es auf die ideologische Kommentierung und Konzeptualisierung dieser Wandlungsprozesse zurück und belegt in extenso die affirmative Rolle der Philosophie der Neuzeit – des Aufklärungsdenkens, des deutschen Idealismus, des englischen Utilitarismus etc. – für die Genese und Durchsetzung des Kapitalismus, der Marktwirtschaft, der Moderne. Kurz nutzt die Schriften der bürgerlichen Philosophie und des frühen ökonomischen Denkens – etwa von Mandeville und Adam Smith, aber auch von Kant –, um zu zeigen, dass von einer emanzipatorischen, die Freiheit des einzelnen, die Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen anstrebenden Denkbewegung, einer Zivilisations-„Geschichte des Westens“ nicht die Rede sein kann. Leitbild war vielmehr, in Frontstellung gegen die Herrschaft vormoderner, religiös fundierter Instanzen, das universale eigenschaftslose Subjekt umfassender, alle Lebensäußerungen affizierender marktwirtschaftlicher Konkurrenz. Kurz liefert auf diese Weise eine erstaunlich „idealistische“ Version der Geschichte des Kapitalismus: eine Darstellung der Verwirklichung des Aufklärungsdenkens, das bei ihm freilich nichts Ideales hat, sondern – in extremer Weise etwa bei de Sade, den er zu den Aufklärern zählt, aber auch beim liberalen Demokraten Jeremy Bentham und seinem Panopticon – im Kern eine „schwarze Utopie“ ist: ein Denken der Zu- und Abrichtung für den marktwirtschaftlichen Kampf aller gegen alle. Das Aufklärungsdenken stand im Dienst einer umfassenden Dressur der Menschen mit dem Ziel, wie es der Fabrikantensohn Friedrich Engels fasste, „die Feindschaft der einzelnen, den ehrlosen Krieg der Konkurrenz, auf die höchste Spitze zu treiben.“19

Bereits im „Schwarzbuch“ von 1999, wesentlich genauer dann in seiner letzten Monographie „Geld ohne Wert“ (2012), beschrieb Kurz die Ablösung der Produktionsregimes der vorkapitalistischen, religionszentrierten Agrargesellschaften durch die warenproduzierende Moderne: Er sah sie nicht als evolutionären Prozess, wie er trotz der Marxschen Hinweise auf den Gewaltcharakter der „ursprünglichen Akkumulation“ selbst im marxistischen Schriftgut oft konzeptualisiert wurde, nicht als im Großen und Ganzen friedlichen Stabwechsel vom Feudaladel zur städtischen Kaufmanns- und Manufakturbourgeoisie. Vielmehr waren sowohl die ländliche Hauswirtschaft als auch das zwar statische, aber eben auch die soziale Balance garantierende städtische Zunftwesen durch die absolutistischen staatlichen Instanzen aktiv zerstört worden. Mit der Aufhebung der alten Regulierungen und der Schaffung großräumiger Marktbeziehungen wurde die universale Konkurrenz installiert, was unter anderem verhinderte, dass die technischen Innovationen der frühindustriellen Ära zum Nutzen der allgemeinen Wohlfahrt und Arbeitserleichterung eingesetzt wurden. Vielmehr nutzte man sie als Mittel zur abstrakten Reichtumsproduktion sowie zur Einspannung der Besitzlosen und der ihres Besitzes Enteigneten in die industrielle Apparatur.20

Das Massenelend der frühen Industrialisierung ist schon zeitgenössisch etwa von Friedrich Engels in seinem Bericht über „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ (1845) sowie anhand der Berichte der englischen Fabrikinspektion von Marx in „Das Kapital“ (1867) beschrieben worden; gleichwohl lohnt es sich, die sprachmächtigen Schilderungen der kapitalistischen „Mühlen des Teufels“ (William Blake) in Kurz‘ „Schwarzbuch“ zu lesen. Die westliche akademische Geschichtsschreibung hat überwiegend von der Warte der entwickelten Konsumgesellschaften des späten 20. Jahrhunderts aus das soziale Elend und den Pauperismus des frühen 19. Jahrhunderts nicht auf die kapitalistische Industrialisierung, sondern gerade auf deren Verspätung gegenüber dem vorauslaufenden Bevölkerungswachstum zurückgeführt und wollte die Elendszustände der Industrialisierung als betrübliches, mehr oder weniger unumgängliches Durchgangsstadium der Marktwirtschaft auf dem Weg zu einem egalitäreren, wohlfahrtsstaatlichen „guten Kapitalismus“ verstehen. In Robert Kurz‘ Erzählung werden beide Rechtfertigungsdiskurse zurückgewiesen: Zum einen war das Elend kein vor-kapitalistisches, den traditionellen, primitiven, mittelalterlichen Verhältnissen geschuldetes, im Gegenteil: Am Ausgang des Mittelalters seien die Lebensverhältnisse für die einfache Bevölkerung weitaus besser gewesen als in späterer Zeit. Das galt sowohl für die materielle Versorgung als auch für die Möglichkeiten, selbst über die eigene Zeit und den eigenen Alltag bestimmen zu können, und insofern war es die Durchsetzung des Kapitalismus und nicht, wie der „akademisch-staatsfromme[] Wissenschaftsbetrieb“ in „malthusianische[r] Argumentation“ darlegte, die Bevölkerungsvermehrung, die weite Teile der europäischen Bevölkerung in die soziale Katastrophe stürzte.21

Zum anderen war auch der späte Kapitalismus, selbst in den Wohlstandsregionen Nordamerikas und Westeuropas, kein idyllisches Zeitalter, sondern für Kurz die ans vorläufige Ziel gekommene negative Utopie einer Gesellschaftsmaschine, die das Regime der abstrakten Arbeit, d. h. der nicht auf konkrete „nützliche Dinge“, sondern auf die Vermehrung von Geldreichtum gerichteten Tätigkeit zum Selbstzweck erhoben hat. Dass der Spätkapitalismus wenigstens für einige Jahrzehnte im „kurzen, sibirischen Sommer des Wirtschaftswunders“ nach dem Zweiten Weltkrieg für einen Teil der Weltbevölkerung einen gewissen materiellen Wohlstand gebracht hatte, konnte weder die Verelendung der Massen im 19. Jahrhundert noch die Zerstörung der Subsistenz-Ökonomien der sogenannten Dritten Welt wettmachen. Und schon gar nicht vermochte die kurze Prosperitätsphase über die übrigen gravierenden Kosten der Modernisierung hinwegzutäuschen: die Tatsache, dass die Menschheit anfangs unter brutalem Zwang, dann mehr und mehr mittels verinnerlichter Mechanismen der Selbstdisziplinierung – eingeübt etwa unter der tayloristischen Dressur der Hochindustrialisierung – dazu gebracht wurde, sich dem automatischen Regime der „Arbeit“, der absurden Verausgabung von „Hirn, Muskel, Nerv, Hand usw.“ (Marx)22 für den Selbstzweck der bloßen „Plusmacherei“, zu unterwerfen.

Mit der Kritik der Arbeit als solcher, als einem Derivat der unfreien und qualvollen Sklaventätigkeit, entfernte sich Kurz so weit wie nur irgend möglich nicht allein von der herkömmlichen Politischen Ökonomie der „unsichtbaren Hand“ und prästabilierten Harmonie des Marktes, sondern auch von der Ideologie sowohl der reformerischen Arbeiterbewegung der Gewerkschaften und Sozialdemokraten als auch des revolutionären Kommunismus aller „Schulen“, seien sie leninistischer, trotzkistischer, stalinistischer, gramscianischer oder reformkommunistischer Denomination. Allen diesen marxistischen und sozialistischen Lagern ist aus der Sicht von Kurz‘ fundamentaler Wertkritik gemein, dass sie sich innerhalb des Paradigmas des „Werts“ und der „abstrakten Arbeit“ bewegen, sich auf die letztere sogar affirmativ und stolz beziehen und geradezu von einem Standpunkt der – lebendigen – Arbeit aus den Standpunkt des (toten) Kapitals bekämpfen. Der von Kurz so genannte Arbeiterbewegungsmarxismus wollte, wie es in der „Internationale“ hieß, die Herrschaft der Arbeit aufrichten und die „Müßiggänger beiseite“ schieben statt, wie Kurz es im Anschluss an eine ganz minoritäre Strömung der Linken empfahl, die Emanzipation in der Befreiung von der Arbeit und der Gewinnung von Muße zu sehen.

Marx selbst wurde im Zusammenhang mit dieser Neubewertung der Arbeitskategorie, die sich in mancher Hinsicht auf seinen Schwiegersohn Paul Lafargue („Das Recht auf Faulheit“) berufen konnte, nicht verschont. Auch der Ahnherr der Wertkritik hatte sich immer wieder zu antimüßiggängerischen Arbeits-Elogen hinreißen lassen, so schon im Kommunistischen Manifest von 1848 oder in seinen Polemiken gegen die bourgeoisen Feinde der Pariser Kommune in „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ (1871). Robert Kurz unterschied folglich auf theoretischer Ebene zwischen diesem aus dem Liberalismus und dem Aufklärungsdenken stammenden „exoterischen“ Modernisierungs-Marx, auf den sich sämtliche Parteikommunismen positiv bezogen, und dem radikal modernekritischen „esoterischen“ Marx23, der nicht den Einbehalt des Mehrwerts durch die angeblich „Herrschenden“ thematisierte, sondern die absurde Funktionsweise der modernen Gesellschaft überhaupt, die alle Menschen, auch die „Reichen“ und „Ausbeuter“ in ein stahlhartes Gehäuse „fetischistischer“ Verhältnisse sperrt, in dem sie nichts als Material für die Selbstverwertung des Wertes sind.

Im „Schwarzbuch Kapitalismus“ nahm Kurz für die antikapitalistischen Widerstands- und Protestbewegungen eine ähnliche Zweiteilung in kategorische und immanente Strömungen vor. Die jüngere von beiden stellte die sozialistische Arbeiterbewegung – gleich, ob revolutionärer oder reformistischer Gestimmtheit – dar, wie sie aus den liberal geführten Arbeitervereinigungen im 19. Jahrhundert hervorgegangen war und in der von Marx gefeierten Pariser Kommune ein Vorbild für die späteren revolutionären Aufstände abgegeben hatte. Sie bildete Kurz zufolge die Strömung, die auf Modernisierung angelegt war und letztlich in einer immanenten Dialektik an der Formung des entfalteten demokratischen Kapitalismus konstruktiv mitwirkte.

Die ältere, radikale Bewegung, an die Kurz emphatisch anknüpfte, waren die Volksaufstände gegen die Durchsetzung des Systems der abstrakten Arbeit seit dem 16. Jahrhundert. Die Bauernkriege, die Sozialrevolten während der Französischen Revolution von 1789 – die paradoxerweise gerade zum Sieg der kapitalistischen „Vernunft“ beitrugen –, die Maschinenstürmerei der englischen Luddites, der Aufstand der schlesischen Weber 1844 und die Meutereien der unterbürgerlichen Schichten während der europäischen Revolution von 1848 stellten die eigentlich emanzipatorischen Strömungen in der Geschichte des Kapitalismus dar. Dabei deutete Kurz sie keineswegs romantisch als Ausdruck der überlegenen Moral des einfachen Volkes. Dass aufrührerische Impulse sich allzu leicht auch in reaktionäre, etwa antisemitische Bahnen lenken ließen, war ihm bewusst. Gleichwohl zeigten sie das Potential des Ganz Anderen: der grundsätzlichen Zurückweisung der irrationalen Logik der Moderne, zu der sich der konventionelle Marxismus als Erbe des aufklärerischen Liberalismus nie verstehen konnte.24 Von diesen oppositionellen Bewegungen verloren sich denn auch in der Aufstiegsgeschichte des Kapitalismus, mit der endgültigen Durchsetzung des Industriesystems, die historischen Spuren. Übrig blieb die sozialistische und marxistische Arbeiterbewegung, die auch in ihren politisch radikalen Varianten, etwa derjenigen Rosa Luxemburgs, den Kategorien der kapitalistischen Modernisierung verhaftet blieb.

Die Geschichte des Kapitalismus II: Krisen, Kriege, Barbarei

Die marxistische Orthodoxie hat den von Marx benannten Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen in der Regel in eine simplifizierende Lesart übersetzt: als Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung. Sie sah den Klassenkampf um das Arbeitsprodukt als das wesentliche Merkmal der kapitalistischen Krisengeschichte und fand im Proletariat den Agenten des geschichtlichen Fortschritts, den „Totengräber“ des Kapitalismus.

Für die Kurzsche Wertkritik stellt sich, wie gezeigt, der historische Zusammenhang nicht auf dieser „soziologistischen“ Ebene her, sondern in den Kategorien des von Marx identifizierten historischen Subjekts, das kein menschlicher Akteur, sondern eine bewusstlose gesellschaftliche Maschine ist: der Mechanismus der konkurrenzgetriebenen Wertverwertung. Krisen sind in dieser Sicht nicht einfach Wirkungen von Fehlallokationen und Vermögenskonzentration, von Verteilungskämpfen oder Konflikten um die politische Macht. Sie sind die Folge des oben genannten prozessierenden Widerspruchs zwischen der Notwendigkeit, immer mehr lebendige Arbeit zu vernutzen, weil sie die einzige Produzentin von Wert ist, und dem von der Marktkonkurrenz herrührenden Zwang, diese Arbeit immer weiter aus dem Produktionsprozess hinauszurationalisieren. Mit zunehmendem Kapitalisierungsgrad der Gesellschaft entfalten derlei Krisen eine immer durchschlagendere Wirkung. Einen Ausweg fanden sie in der Regel durch die Ausdehnung von Produktion und Handel, die Einführung neuer Produkte und die Erschließung zusätzlicher Absatzmärkte.

Allerdings „staut“ sich diese Lösung gewissermaßen immer wieder einmal auf, es werden keine neuen Gebiete erschlossen, in die Ausdehnung möglich ist, es tritt vorübergehend kein innovativer Produktionszweig auf, der große Geldkapitalmengen und entsprechend großen Arbeitseinsatz auf sich zu ziehen imstande wäre. Das Ausweichen des Geldkapitals in die Finanzmärkte, Börsenkräche und darauf folgende lang andauernde Stagnationsphasen wie nach der „Gründerkrise“ seit 1873 können ebenso eine Folge sein wie weitgehende Zusammenbrüche von Volkswirtschaften mit anschließender dauerhafter tiefer Depression wie in den Jahren der großen Weltwirtschaftskrise nach dem Schwarzen Freitag von 1929.

Der Ausweg aus der Great Depression wurde erst mit dem Zweiten Weltkrieg gefunden. Der Nachkriegsboom, das Golden Age (Eric Hobsbawm), die Trente glorieuses (Jean Fourastié) bis Mitte der 1970er Jahre werden häufig auf den Rekonstruktions- und Aufholprozess zurückgeführt, der auf die Kriegszerstörungen folgen musste. Robert Kurz hingegen identifizierte in den neuen Produktlinien, die nun die Märkte eroberten, die Grundlage des Welt-Wirtschaftswunders: die weiße und braune Elektronik in den Küchen und Wohnzimmern der Konsumentenmassen, vor allem aber die umfassende Automobilmachung der industriellen Gesellschaften. Die fordistisch-tayloristische Massenproduktion und die Ausdehnung des Massenkonsums mit dem Leitprodukt des Automobils stellten die Signatur der langgezogenen zweiten industriellen Revolution dar, an deren Ende der Kapitalismus, zwei Jahrhunderte nach Einsetzen seiner industriellen Phase, schließlich die vor- und nichtkapitalistische Alte Welt gänzlich zersetzt und aufgesaugt hatte. 25

Auf dem Weg zu diesem Goldenen Zeitalter aber richteten die kapitalistischen Gesellschaften die größten Katastrophen der Menschheitsgeschichte an, die beiden Weltkriege und millionenfache Massenmorde, darunter besonders die Ausrottung der europäischen Juden. Für Kurz waren diese Kataklysmen keine selbständigen politischen Entwicklungen jenseits der kapitalistischen Logik, sondern zwar nicht zwangsläufige, aber eben auch nicht unwahrscheinliche Resultate des Prozessierens der modernen Produktionsweise. Sie stellten keine Abweichung von der politischen und Ideen-„Geschichte des Westens“ dar, sondern waren eine Konsequenz sowohl des blinden Kapitalverwertungsprozesses als auch der ideologischen Entwicklung des Aufklärungsdenkens und des Liberalismus, der seit je ein Denken in Kategorien der Konkurrenz, damit der Abgrenzung, Abwertung, Hierarchisierung gewesen war. Im Gegensatz zu den geläufigen Großerzählungen betrachtete Kurz die „Biologisierung der Weltgesellschaft“26, den Sozialdarwinismus und Rassismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nicht als Abirrung des auf Freiheit, Gleichheit und Emanzipation gerichteten westlichen Geistes, sondern als dessen legitime Nachfolger.

Ein Sonderfall des aus der Aufklärung stammenden antihumanen Denkens war auch für Kurz der Antisemitismus, dessen praktische Konsequenz, die Schoa, für den selbst zutiefst der Aufklärung, dem Rationalismus und dem Fortschrittsnarrativ verhafteten Marxismus letztlich ebenso unerklärlich blieb wie für das affirmative liberal-demokratisch-idealistische Denken, das aus seiner Aporie Zuflucht suchte bei Formeln wie denen vom deutschen „Sonderweg“, von der „Singularität“ und vom „Zivilisationsbruch“. Gemeinhin wird von den Vertretern der These vom Zivilisationsbruch nicht bestritten, dass die Geschichte dieser Zivilisation ungeheure Verbrechen, etwa in den Kolonien, mit sich gebracht hatte. Mit dem Verweis darauf, dass die Ausrottung der amerikanischen Ureinwohner oder die Vernutzung der schwarzen Bevölkerung im kongolesischen heart of darkness einer von materiellen Interessen geleiteten Zweck-Mittel-Rationalität gefolgt sei, markieren sie jedoch einerseits einen kategorialen Unterschied zur nationalsozialistischen Vernichtung der europäischen Juden, die als reiner, aus jedem rationalen Zusammenhang gelöster Selbstzweck erscheint. Andererseits wird suggeriert, die „normalen“ Verbrechen der kapitalistischen Moderne liefen letztlich einer übergeordneten ethischen Rationalität der westlichen Zivilisation zuwider und würden von dieser eingehegt, bis die Neigung zu solchen Verbrechen im Laufe des historischen Fortschritts immer weiter abnehme und letztlich möglicherweise gar verschwinde. Der Krieg der USA gegen das nationalsozialistische Deutschland bekräftigt in dieser Sicht den diametralen Widerspruch von „normal“ entwickelten kapitalistischen Zivilisationen und dem antiwestlichen, antidemokratischen, in gewisser Weise auch „antikapitalistischen“ deutschen Sonderweg.

Kurz hingegen bestand zwar ebenfalls darauf, dass der deutsche Nationalsozialismus von einer „singulären Barbarei“ gekennzeichnet und Ergebnis einer besonderen Nationalgeschichte gewesen sei. Er löste ihn aber nicht aus dem Gesamtzusammenhang der modernen Zivilisation. Auch wenn er den Besonderheiten der nationalen Entwicklung entsprang – die etatistischer und in ideologischer Hinsicht sowohl kulturalistischer als auch biologistischer gewesen war als diejenige etwa Englands oder der USA –, war der Nationalsozialismus ein integraler Bestandteil der Modernisierungsgeschichte: die „deutsche Version der Transformation zur fordistischen Entwicklungsstufe“.27 Dass in dieser Transformations- und Krisenphase der Antisemitismus im liberal-kapitalistischen Amerika wie auch in der staatskapitalistischen Sowjetunion – das eine Mal als Perhorreszierung des „raffenden“ Finanzkapitals, das andere Mal als Ressentiment gegen den abstrakten Intellektualismus – ebenfalls um sich griff, deutet darauf hin, dass es hier nicht allein um nationale Besonderheiten ging. Weitere Hinweise auf die Barbarisierungstendenzen, die der modernen Zivilisation seit jeher, besonders aber auch in der fordistischen Epoche der total werdenden Arbeitsgesellschaft innewohnten, sah Kurz in der Erfindung des Konzentrationslagers gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch die Kolonialmächte sowie in der Übernahme dieser Form der modernen Menschenverwaltung im sowjetischen GULAG-System. Auch die Ausgrenzung „lebensunwerten Lebens“, d. h. derjenigen Menschen, das sich im Kapitalverwertungsprozess nicht gewinnbringend nutzen ließen oder diesen Prozess gar aktiv störten, und die daraus resultierende Psychiatrisierung politischer Abweichler oder die Zwangssterilisation von Behinderten galten ihm als Konsequenzen der Verwertungslogik der Moderne, sei sie demokratisch, sozialistisch oder faschistisch etikettiert. „Die Nazis“, folgerte Kurz, „kamen nicht vom andern Stern, sie waren Fleisch vom Fleisch der Modernisierungsgeschichte.“28

Die nationalsozialistische Kennzeichnung der Juden als Gegenrasse war eine Folge von deren jahrhundertealter Position der Fremden par excellence in der europäischen Geschichte. Zugleich stellte sie das Ergebnis der Identifikation der Juden mit dem Geld, dem unheimlichen abstrakten Kapital dar, das als Gegenprinzip zum guten, werteschaffenden, konkreten industriellen Kapital betrachtet wurde. Kurz zufolge, der sich hierbei auf Studien des kanadischen Soziologen Moishe Postone stützte, verkörperten die Juden im nationalsozialistischen Denken jene modernen, Krisen und soziale Katastrophen zeitigenden Mächte, die anonym, hinter dem Rücken der Subjekte, die gesellschaftliche Entwicklung formen, ohne sie wirklich zu lenken.29 Und Auschwitz, „authentisches Produkt der westlichen Zivilisation“30, stellte, zugespitzt formuliert, eine kapitalistisch-antikapitalistische „negative Fabrik“ zur „Vernichtung des Werts“ dar.31

Die deutsche Judenvernichtung als Resultat spezifischer Nationalgeschichte, aber eben auch als Konsequenz eines allgemeinen Wahns der modernen Zivilisation, eines „Todestriebs“ des Kapitals, der sich zuvor bereits in den Arbeitshäusern der frühen Neuzeit wie in den Massakern der Kolonialisierung ausgetobt hatte: Vor allem im deutschen Diskussionskontext könnte diese Position leichthändig in die Nähe eines Geschichtsrevisionismus gerückt werden, der mit relativierenden Gleichsetzungen arbeitet. Derlei Tabuisierungsbestrebungen zum Trotz wäre es wohl an der Zeit, den von Kurz benannten Kausalnexus und die daraus resultierende Historisierung und Entmythologisierung des Holocaust auch in der akademischen Geschichtswissenschaft ernsthaft zu prüfen. Das gedankenlose Gerede vom „Zivilisationsbruch“ – ein gelehrt klingendes Pendant zu den Betroffenheitsfloskeln in Gedenkansprachen von Politikern – hätte sich damit erübrigt; die Fassungslosigkeit angesichts der deutschen Massenmorde bliebe bewahrt.32

Der „Todestrieb des Kapitals“ war mit der NS-deutschen Götterdämmerung nicht endgültig befriedigt. In den goldenen Jahren nach dem Ende der Weltkriegsepoche war die offene Barbarei aber in den Hintergrund gerückt. Zwar benannte Kurz auch für diese Periode, anders als die keynesianisch-altsozialdemokratischen Nostalgiker33 des „guten Kapitalismus“ vor allem die Schäden, die mit dem gelungenen Übergang in Automobilmachung, Fordismus und Massenkonsum verbunden waren – er sah darin den Sieg der Totalität von Marktwirtschaft, abstrakter Rechtssubjektivität und Demokratie –, doch waren sie von anderer Qualität als die der früheren wie auch der nachfolgenden Konstellationen.

Die Jahre nach dem Boom stellen eine Zeit der allgemeinen Krise dar, und selbst die Strategien, die gegen das Abschmelzen der Arbeitssubstanz aufgeboten wurden, also die Finanzialisierung, die verstärkte Akkumulation von bloß fiktivem Kapital – wie Marx es im dritten Band des „Kapital“ genannt hatte – auf der einen, die „Globalisierung“ genannte Zerlegung der Produktionsketten und ihre Anordnung entsprechend den Kostenvorteilen, die ein offener Weltmarkt bot, auf der anderen Seite vermochten nicht, diesen Trend umzukehren. In seiner Monographie „Das Weltkapital“ legte Kurz dar, dass es im Gefolge der mikroelektronischen dritten industriellen Revolution keinen neuen, bedeutenden Schub der Wertakkumulation mehr geben konnte; es ging nur noch darum, die tendenzielle Überflüssigmachung von Arbeit in eine globale, immer größer werdende Verelendungsperipherie auszulagern.34

Damit hebt die Barbarei vielerorts unübersehbar wieder ihr Haupt. In dem Buch „Weltordnungskrieg“35 analysierte Kurz die sogenannten humanitären Militärinterventionen des Westens – Irak, Jugoslawien, Afghanistan – als Versuche, die von der kapitalistischen Moderne hervorgebrachten Monster, die gescheiterten nationalistischen Modernisierungsdiktaturen und ihre bandenförmigen, mal islamistischen, mal ethnonationalistischen, mal (drogen-)kriminellen Zerfallsprodukte mit überlegener Gewalt in Schach zu halten und sich damit einerseits Zugang zu Rohstoffen zu sichern, andererseits die aus dem Zerfall der Peripherie notwendig resultierenden Flüchtlingsströme zu kanalisieren. Das Bild, das Kurz von der Weltgesellschaft im langen Augenblick ihres möglichen Untergangs zeichnet – scheiternde Staaten, Privatisierung der Gewaltinstanzen, Aufstieg von Warlords, Verwilderung, Anomie, „Plünderungsökonomie“ –, zeigt die Wiederkehr verschiedener Erscheinungen aus den Kinderjahren von Kapitalismus und modernem Staat, des frühneuzeitlichen Krieges aller gegen alle. In seinem letzten Buch, dem 2012 erschienenen langen Essay „Geld ohne Wert“, griff Kurz hinter die in seinem Schwarzbuch beschriebene Epoche der frühen Industrialisierung zurück und wandte sich intensiv der Frühphase der Moderne zu. Sein Interesse war abermals vornehmlich theoretischer Natur – der Untertitel „Grundrisse zu einer Transformation der Kritik der politischen Ökonomie“ zeugt von seinem Willen, Marx zu korrigieren und über ihn hinauszugehen –, die Argumentation war wiederum mit historischer Empirie gesättigt.36

Die Geschichte des Kapitalismus III: eine neue Sicht auf seine Genesis

Bereits im Titel seines Essays verkoppelt Kurz die von ihm diagnostizierte derzeitige Verfallsepoche des Kapitalismus mit seiner Frühgeschichte: Heißt „Geld ohne Wert“ heute, dass aufgrund der Abschmelzung der Arbeitssubstanz auch die allgemeine Wertform, das Geld, seine Substanz verliert und buchstäblich wertlos wird, so bedeutet diese Formel für die Vorgeschichte des Kapitalismus, dass es zwar in den Nischen der materiellen Reproduktion etwas gab, was späterem Geld ähnlich sah, aber eben nicht die Funktion des Trägers von „Wert“ innehatte. Kurz wandte sich damit sowohl gegen die anthropologisch und naturwüchsig-transhistorisch argumentierenden Geschichten vom Geld als auch gegen die traditionelle marxistische, von Marx selbst genährte Vorstellung, der Frühkapitalismus habe auf eine seit Jahrhunderten entwickelte Geldform zurückgreifen können. Das Geld in vorkapitalistischen Gesellschaften war, wie er mit Verweis auf den heterodoxen Geldtheoretiker Bernhard Laum und den Mediävisten Jacques Le Goff zeigen zu können glaubte, nicht Tauschmittel, sondern symbolische sakrale „Opfergegenständlichkeit“.

Auf die Frühmoderne kam diese Gegenständlichkeit als „historische Fundsache“. Die entscheidende Differenz zwischen der modernen Welt und den vorkapitalistischen Gesellschaften wird laut Kurz in der Regel sowohl von der Geschichtswissenschaft als auch vom Marxismus nur oberflächlich phänomenologisch gefasst. Der „fremde, andersartige Charakter“ dieser nichtkapitalistischen Welten besteht ihm zufolge aber darin, dass die Basiskategorien heutiger Vergesellschaftung nicht existierten: Es gab kein modernes Geld, keinen „Wert“, keine Waren, keinen Warentausch, ja, keine „Ökonomie“. Selbst ein unkonventioneller Denker wie Karl Polanyi, der eine fundamentale Transformation der Vergesellschaftung darin erblickt hatte, dass in der Moderne die Ökonomie aus dem sie umfassenden sozialen Gesamtgeflecht herausgelöst wurde37, war noch nicht imstande zu erkennen, dass der Bruch wesentlich tiefer ging und schon der Begriff „Ökonomie“ für die vormodernen Gesellschaften anachronistisch war.

Karl Marx hatte als Historiker der kapitalistischen Frühphase zwar entdeckt, dass sich eine fundamentale Umwälzung zwischen der alten Welt und der Frühmoderne ereignet hatte und dass diese Umwälzung ein gewaltsamer Akt gewesen war („blut- und schmutztriefend“38), doch hatte er die „sogenannte ursprüngliche Akkumulation“ lediglich als Trennung der Produzenten von ihren Produktionsmitteln, als Enteignung des bäuerlichen Grundbesitzes durch die adligen Herren, als Vertreibung der freien Bauern und Drangsalierung der aus dieser Zerstörung der alten Ordnung erwachsenen pauperisierten Bevölkerungsmassen im vorindustriellen England konzipiert. Sein Narrativ schildert, wie eine wesentliche Voraussetzung des Kapitalismus, eine Masse von eigentumslosen, auf Lohnarbeit angewiesenen Menschen, geschaffen wurde, nicht aber, wie der Kapitalismus selbst, der Kreislauf der Verwertung, entstand. Diese eminente historiographische Lücke in der Marxschen Darstellung suchte Kurz zu füllen, indem er den Funktionswandel des Geldes nachzeichnete: Wie wurde aus der historischen Fundsache, aus der alten sakralen Opfergabe, das allgemeine Äquivalent, der Ausdruck für den Kern der kapitalistischen Wirtschaftsweise, den Wert?

Den entscheidenden Mechanismus identifiziert Kurz, auch dies unterscheidet seine Sicht von derjenigen sowohl der marxistischen wie der konventionellen akademischen Geschichtsschreibung, nicht in der Entwicklung privater Gewinninteressen, in der Expansion des Handels- oder des „Wucher“-Kapitals, sondern in der Kombination eines technologischen Entwicklungsschubs mit den Staatswerdungsprozessen der Frühmoderne.39 Ausgangspunkt der die Zukunft bestimmenden Wert-Produktion war demnach die so genannte military revolution (Geoffrey Parker), die Implementierung der Feuerwaffen – Kanonen und Musketen – sowie der entsprechenden Festungsbollwerke und die Ausrüstung von großen stehenden Söldnerheeren. Die sich herausbildenden frühneuzeitlichen Territorialstaaten sahen sich gezwungen, im überaus kostspieligen europäischen Rüstungswettlauf mitzuhalten. Zu diesem Zweck erhob man Steuern, schöpfte Märkte ab und nicht nur das: Man schuf erst die Waren- und Geldzirkulation, der man dann die Mittel entnehmen konnte, die zum Aufbau einer nie dagewesenen militärischen Infrastruktur, eines „militärisch-protoindustriellen Komplexes“, erforderlich war. Der gewissermaßen gleichursprünglich mit der Geldwirtschaft entstehende Kanonen-, Steuer- und Beamtenstaat setzte die Umwandlung der alten feudalen Abgaben, Tribute, Dienste, „Geschenke“ in monetäre Leistungen durch. In einem nächsten Schritt löste sich allmählich die Geldbeschaffungsmaschine von ihrem ursprünglichen Zweck und begann, die Produktion sämtlicher Gebrauchsgüter zu dominieren und diesen Gegenständen marktförmige Warengestalt aufzudrängen. So kam, der Kurzschen historischen Skizze zufolge, das Kapital als sich selbst verwertender Wert in die Welt. Die von Marx und Foucault beschriebenen Schrecken der Enteignung und Entwurzelung großer Bevölkerungsteile und der Malträtierung von Teilen der Überschussbevölkerung in Gefängnissen, Arbeitshäusern und Irrenanstalten waren die Folgen dieser von ihnen noch nicht thematisierten ursprünglichen In-Wert-Setzung des Geldes im Rahmen der militärischen Revolution.

Blutig und repressiv – sichtbar an der Jahrhunderte anhaltenden Verfolgung von „Hexen“ – verlief auch ein zweiter gleichursprünglicher Fundamentalprozess der frühen Moderne, der im herkömmlichen Marxismus weder begrifflich noch historiographisch-deskriptiv angemessen gefasst wurde: die Herstellung der die Folgejahrhunderte begleitenden asymmetrischen Geschlechterverhältnisse, die „Abspaltung“ eines als weiblich gekennzeichneten Bereichs der gesellschaftlichen Reproduktion von dem sich etablierenden kapitalistischen Wertverhältnis. Im Laufe der 1990er Jahre hatte sich die „Krisis“-Gruppe feministischen Ansätzen angenähert und mit dem von Roswitha Scholz entfalteten „Abspaltungs“-Theorem die bloße Kontinuität von traditionalen patriarchalischen Verhältnissen in der Neuzeit verneint – die geschlechtliche Abspaltung war eine neue, spezifisch moderne Form, Frauen dienstbar zu machen.

Zudem hatte sie festgestellt, dass es sich dabei eben nicht um einen „Nebenwiderspruch“ des Kapitalismus oder ein gesellschaftliches „Subsystem“ handelte, sondern um eine fundamentale Ordnung der modernen Gesellschaft, die mit dem Wertverhältnis auf gleicher kategorialer Ebene stand.40 Kapitalismus konnte folglich übersetzt werden mit: das warenproduzierende Patriarchat.

Der esoterische Marx, Robert Kurz und die Geschichte: ein Paradigma für die Historiographie der kapitalistischen Epoche?

Unsere postmodernen Zeiten sind pluralistisch, antitheoretisch, den master narratives abhold, dem Besonderen, Differenten, Mikrohistorischen und erzählerisch unterhaltsam Fassbaren zugewandt. Schlechte Voraussetzungen für eine anspruchsvolle, theoretisch kohärente, das Systemische gegenüber dem Individuellen, das Objektive gegenüber dem Subjektiven privilegierende, die angeblichen „Akteure“ oft als bloße „Charaktermasken“ ins Auge fassende Konzeption der modernen Geschichte.

Gerade der derzeitige globale ökonomische, soziale, kulturelle und politische Krisenzusammenhang, der seit dem wirtschaftlichen Einbruch von 2008 kaum mehr in Abrede gestellt werden kann, bietet aber vielleicht die Chance, doch noch einmal das Ganze in den Blick zu nehmen und es nicht von vornherein in detaillierende Differenzierungen aufzulösen. Geht man einmal versuchsweise für die Zeitgeschichte von der nicht mehr ganz fernliegenden Annahme aus, dass die verschiedenen Krisenerscheinungen in einem inneren Zusammenhang stehen, so liegt der ebenso tentative Ansatz nahe, die Totalitätskategorien des „esoterischen“ Marx vielleicht zum ersten Mal ernsthaft auszuprobieren, und zwar für die gesamte Geschichte der „Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht“. Robert Kurz hat das mit immer wieder erstaunlich großer Plausibilität getan. Die Potenziale seines „wertkritischen“ Denkens, über die bisher dargelegten einzelnen Erkenntnisse hinaus, für die Geschichtswissenschaft seien hier abschließend genannt.

Da wäre zunächst einmal die gesellschaftstheoretische Fundierung einer solchen Geschichtsschreibung. Zwar sind frühere vor allem sozialhistorische Schulen mit einem ähnlichen Anspruch aufgetreten – dabei freilich dem dezidierten modernisierungstheoretischen Eklektizismus gegenüber einem wie auch immer auf Marx bezogenen Monismus den Vorzug gebend –, doch seither hat sich einerseits im Zuge von linguistic turn, neuer Kulturgeschichte etc. eine begrifflich-konzeptionelle Pluralisierung auf der theoretischen Meso-Ebene, andererseits eine Rückkehr zur konventionellen Narration ereignet. Beides hat Vorzüge. Befriedigend kann es auf Dauer, gerade angesichts neuer gesellschaftlicher und damit auch innerwissenschaftlicher Krisenerscheinungen, nicht sein.

Zum zweiten sollte der entschiedene „Historismus“ der Wertkritik für Historiker attraktiv sein: Anders als die modernen Sozialwissenschaften, vor allem die Ökonomie und die Soziologie, ist sie sich der Notwendigkeit eines historischen Herangehens an die gesellschaftlichen Phänomene bewusst, das davon ausgeht, dass man nicht zweimal in denselben Fluss steigt, jedenfalls nicht unter modernen, kapitalistischen Verhältnissen, weil Kapitalismus stets Voranschreiten, Expansion (oder Niedergang), Anhäufung und Akkumulation heißt, so dass keine Kreisläufe und keine Rückkehr zu bestimmten Punkten stattfinden. Hinzu kommt – gegen die bornierte marxistische Geschichtsphilosophie –, dass ein tiefer Bruch zwischen den vorkapitalistischen agrarischen, religiös bestimmten Gesellschaften und der kapitalistischen Moderne festgestellt wird. Damit ergibt sich auch die Historizität von Erscheinungen, die sich erst in der Moderne real und begrifflich entfaltet haben: „Ökonomie“ und „Politik“ gab es als solche demnach vor dem Eintritt der Modernisierung nicht.

Als drittes zu nennen ist die Macht struktureller Entwicklungen, dies in einem ebenfalls viel radikaleren Sinne als in der bisherigen Sozial- und Strukturgeschichte: Die alte, bereits die Aufklärung irritierende Erfahrung, dass die Geschichte sich nicht dem menschlichen Willen fügt, sondern „hinter dem Rücken“ der Subjekte Entwicklungen vollzieht, die von niemandem geplant sind und von denen alle überrascht werden; dass ein von der Menschenwelt unabhängiger „Weltgeist“ dialektisch die Geschicke der Menschen bestimmt (Hegel), dass eine „unsichtbare Hand“ des Marktes (A. Smith) die Weltläufte regiert und dabei besser nicht gestört werden sollte, dass „wir gelebt werden“41, führt Kurz nicht auf widerstreitende Interessen und deren kämpferischen Austrag sowie dessen stets ungewissen Ausgang zurück, sondern auf das Walten des von Marx beschriebenen „automatischen Subjekts“, das zwar von Menschen – unabsichtlich, ohne es zu planen – geschaffen wurde, aber seither als Fetisch sein Eigenleben führt und alle unter seine innere unentrinnbare quasi-natürliche Logik zwingt.

Viertens bietet diese Betrachtungsweise eine Alternative zu den sehr wohl existierenden Großnarrativen der Moderne, die unter dem Etikett vom „Westen“ reüssieren. Diesen in der Öffentlichkeit beliebten Narrativen zufolge ist das Projekt des Westens eine lange umkämpfte, am Ende aber siegreiche Geschichte des Fortschritts, in der sich Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Volkssouveränität, Menschenrechte und Rechtsstaat gegen konträre Ordnungsvorstellungen durchsetzen und auch die inneren autoritären, gegenaufklärerischen und antidemokratischen Anfechtungen jeweils niedergerungen werden. Die Geschichte des Westens, die auf der Grundlage der von Robert Kurz neu gelesenen Einsichten von Marx zu schreiben wäre, ist eine gänzlich andere: diejenige der Durchsetzung der Wertlogik in allen Räumen und Zwischenräumen der verfügbaren Welt und des allmählichen Stockens der kapitalimmanenten Antriebskräfte. Die Entfaltung von Demokratie und modernem Recht wäre im Rahmen der vom Wert bestimmten Totalität zu beschreiben.

Fünftens ermöglicht es eine wertkritisch transformierte Marxsche Theorie, etliche der dogmatischen, den freien Gedankenfluss hemmenden Erblasten des Marxismus abzuschütteln und einen zwar von dem universellen Geist Marx‘ inspiriertes, aber nicht dogmatischen Zugang zur Geschichte zu eröffnen. Die Wiederkehr der unfruchtbaren und häufig doktrinär-gewaltsamen Analyse von Klassenverhältnissen und Klassenkämpfen, die einseitige Konzentration auf soziale Ungleichheit42, die darauf aufsetzende oft höchst konventionelle parteilich-politizistische Geschichtsschreibung des Marxismus wären in einer am „esoterischen“ Marx orientierten Historiographie jedenfalls ausgeschlossen.

Und schließlich lässt sich mit dem von Kurz gelesenen Marx sechstens Globalgeschichte schreiben. Schon beim jungen Marx gibt es keinen Zweifel, dass das Kapital, wiederum verstanden als abstrakter, sich selbst verwertender Wert und nicht soziologistisch als Kapitalistenklasse mit materiellen Interessen, in seinem Prozessieren weder vor inneren gesellschaftlichen oder psychischen noch vor äußeren, geographischen Grenzen Halt macht; und daran, dass in der Moderne dieses Prozessieren des Kapitals die entscheidende offensive, letztlich nicht durch partikulare Traditionen eindämmbare historische Macht darstellt. Geschichte ist damit a priori in der Moderne Universalgeschichte: als Geschichte des Weltmarkts und der – keineswegs harmonisch zusammenwachsenden – Weltgesellschaft. Eine global history, die sich zu Recht gegen Meistererzählungen à la „the West and the Rest“ wendet43, sollte nicht alle theoretisch fundierten großen Darstellungen abwehren. Die Geschichte des sich selbst in globalem Maßstab verwertenden Werts, des alle natürlichen und politischen Grenzen zur Makulatur machenden automatischen Subjekts bietet zugleich eine Alternative zur marxistisch inspirierten Weltsystem-Theorie von Immanuel Wallerstein mit ihren Defiziten, nicht zuletzt ihrem mangelhaften Verständnis der grundlegenden kategorialen Zusammenhänge des Kapitalismus.44

Eine gesellschaftskritische, theoretisch aufgeschlossene Geschichtswissenschaft kann in den Werken von Robert Kurz eine Vielzahl an Anregungen finden. Sie sollte das Angebot nutzen.

 


 

 




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