Erschienen in der FAS am 09.05.2010 Claus Peter OrtliebÖkonomie ist eigentlich keine WissenschaftInterview mit der Frankfurter Allgemeinen SonntagszeitungWas fällt einem Mathematiker in diesen Tagen zum Thema Griechenland ein? Was mir zuallererst auffällt, allerdings weniger als Mathematiker, ist die nationalistische Wut auf die „Pleite-Griechen“, wie sie von einigen Medien geschürt wird, die damit vom deutschen Beitrag an der griechischen Misere ablenken. Schließlich verdankt sich die deutsche Exportweltmeisterschaft wesentlich dem durch Schulden finanzierten Export nach Südeuropa. Als Mathematiker fallen einem vielleicht die großen Zahlen ein, die jetzt zu Ehren kommen und von denen ein Pythagoras sich nicht hätte träumen lassen. Und ein weiterer, sehr interessanter Punkt ist dieses plötzlich Kippen der Situation von einer normal verschuldeten Volkswirtschaft in die Pleite, in der nichts mehr geht. Welche Grenze wurde da eigentlich überschritten? Mir ist das nicht wirklich klar. Ständig werden einem riesige Beträge um die Ohren gehauen. In Griechenland fehlen 120 Milliarden, vielleicht auch 150 Milliarden, Deutschland übernimmt davon 22 Milliarden oder noch ein paar Milliarden mehr. Verlieren wir so langsam das Gefühl für große Summen? Seit der Lehman-Pleite bestimmen in der Tat fast nur noch riesige Zahlen das Geschäft; die Milliarde ist gewissermaßen zur kleinsten Einheit geworden. Wirklich vorstellen kann sich solche Zahlen niemand, und auch mathematische Bildung nützt da übrigens wenig. Eine gewisse Veranschaulichung bietet die Rechnung pro Kopf: 8 Milliarden Euro Steuergelder verteilt auf 80 Millionen Einwohner bedeutet 100 Euro pro Person. Das kann man sich dann wieder vorstellen, ist aber womöglich auf andere Weise irreführend, weil hier volkswirtschaftliche Größen auf Einzelhaushalte einfach herunter gebrochen werden. Wenn Politiker mit Zahlen um sich werfen, erwecken sie den Eindruck von Kompetenz – sogar dann, wenn niemand diese Zahlen nachprüfen kann. Woran liegt das eigentlich? Wahrscheinlich liegt es daran, dass bei Zahlen zumindest die Fiktion von Nachprüfbarkeit da ist. Wer eine Zahl in den Raum wirft, setzt sich der Gefahr aus, widerlegt zu werden. In Talkshows ist das allerdings kaum möglich, deswegen wird da besonders gern mit irgendwelchen Zahlen argumentiert. Erstaunlicherweise verbinden Politiker und sogar manche Ökonomen die vermeintlich rationale Welt der Zahlen gern mit der Welt der Zauberei, wenn zum Beispiel bei den Arbeitslosenzahlen von der „magischen Fünf-Millionen-Grenze“ die Rede ist. Wie passt das zusammen? Solchen Zahlenfetischismus könnte man vielleicht als die Magie der Aufklärung bezeichnen. Zahlen haben in der Moderne einen unglaublichen Bedeutungszuwachs erfahren, und gerade die Ökonomie versucht, den Naturwissenschaften nachzueifern, indem sie sich als Sozialphysik versteht. Das führt dann in der Tat zu magischem Denken. Denn es ist ja offensichtlich, dass sich die Gesellschaft als Ganzes nicht allein mit mathematischen Methoden erfassen lässt. Stört es Sie, dass Ökonomen so stark auf die Mathematik setzen? Nein, das stört mich an sich nicht, im Gegenteil: Als Mathematiker verdiene ich mein Geld damit, dass Mathematik in anderen Wissenschaften und auch außerhalb der Wissenschaften eingesetzt wird. Die Frage ist allerdings, in welchen Bereichen und auf welche Probleme die mathematisch-naturwissenschaftliche Methode überhaupt sinnvoll angewendet werden kann. Und da gibt es, gelinde gesagt, Übertreibungen. In den mathematischen Naturwissenschaften liegt die Verbindung zwischen Mathematik und Realität im Experiment, in dem die mathematischen Idealbedingungen im Labor erst hergestellt werden. Nur dort tritt ein mathematisches Naturgesetz in seiner vollen Pracht und Herrlichkeit überhaupt in Erscheinung. Oder eben auch nicht, was dann zur Revision der zugrunde liegenden Theorie führt. So. Was macht nun aber ein Fach wie die Ökonomie, in dem Experimente nicht möglich sind, sondern allenfalls Beobachtungen. Hier fällt das mit der mathematisch-naturwissenschaftlichen Methode verbundene Wahrheitskriterium weg, und was tritt dann an seine Stelle? Daraus ergeben sich schwierige methodische Fragen. Was ich den mathematischen Ökonomen zum Vorwurf mache und mich an ihrem Vorgehen wirklich stört, das ist, dass sie sich mit diesem Problem gar nicht erst auseinandersetzen, jedenfalls ist das für mich nicht erkennbar. Warum spielt Mathematik dann überhaupt eine so große Rolle in den Wirtschaftswissenschaften? Die mathematische Naturwissenschaft hat aufgrund ihres unbestreitbaren Erfolges die Funktion einer Leitwissenschaft übernommen, so dass in der Zeit um 1900 herum in vielen anderen Wissenschaften versucht wurde, ihre Methoden zu adaptieren, auch in der Ökonomie. Damit war und ist die Vorstellung verbunden, die Exaktheit der Mathematik auf die eigene Wissenschaft übertragen zu können. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass das ohne die Möglichkeit des Experiments nicht so ohne weiteres funktioniert. Darauf scheint es heute aber gar nicht mehr anzukommen. Das hat wohl damit zu tun, dass Wirtschaftswissenschaftler als Politikberater und in den Medien höchst präsent sind, und dort vor allem Eindruck schinden müssen. Und dabei hilft die Mathematik. Ihre Verwendung gilt an sich schon als Qualitätsmerkmal. Mit ihr wird eine Exaktheit und Wissenschaftlichkeit vorgespiegelt, die überhaupt nicht vorhanden ist. Wenn die ökonomischen Modelle von ihren Annahmen her nicht zutreffen und sich an der Realität gar nicht überprüfen lassen, hilft für den Wahrheitsgehalt der Resultate noch so viel Mathematik nicht weiter. Sie zweifeln am neoklassischen Modell mit Angebots- und Nachfragekurve? Ja. Beim so genannten Marshall-Kreuz, also dem neoklassischen Modell des einfachen Marktes, sind sehr spezielle Voraussetzungen zu machen mit etlichen idealisierenden beziehungsweise realitätsfernen Annahmen über das Verhalten der Wirtschaftssubjekte und über die Rahmenbedingungen am Markt. Dagegen ist unter dem Aspekt der mathematischen Modellbildung auch nichts zu sagen, das gehört zum Geschäft. Ein Modell ist nicht einfach wahr oder falsch, sondern es hat einen mehr oder weniger großen Geltungsbereich. Vom Missbrauch eines Modells muss aber dann gesprochen werden, wenn sein Geltungsbereich überschritten wird, wenn das Modell also auf Situationen angewandt wird, in denen seine Voraussetzungen erkennbar nicht erfüllt sind. Und genau das passiert mit dem Modell des einfachen Marktes, das in einführenden VWL-Büchern bis zum Erbrechen auf jede nur denkbare Situation angewandt wird. In einem dieser Standard-Lehrbücher habe ich das zugehörige Diagramm auf 800 Seiten mehr als neunzigmal gefunden, und nirgendwo kümmert sich der Autor darum, ob seine Voraussetzungen denn tatsächlich erfüllt sind. Der Erkenntnisgewinn eines solchen Vorgehens liegt nahe bei Null. Hier wird die Mathematik missbraucht, um eine bestimmte Ideologie zu transportieren, nämlich die neoklassische Harmonielehre des Marktes: Märkte funktionieren angeblich immer und überall, wenn man sie nur ungestört gewähren lasse. Trotzdem ist die neoklassische Lehre fast konkurrenzlos. Woran liegt das? Das liegt zum einen am praktischen Scheitern des Keynesianismus, ich erinnere an die so genannte Stagflation der 1970er Jahre. Danach begann der Siegeszug des Neoliberalismus, die Zurückdrängung des Staates zugunsten des Marktes. Und die Neoklassik war dafür gewissermaßen das pseudowissenschaftliche Vehikel. Sie hat dreißig Jahre lang die Begründung für das geliefert, was im Neoliberalismus sowieso passierte, und befand sich damit auf der Seite der Sieger. Zum anderen besteht der Reiz des neoklassischen Dogmas, polemisch gesagt, in seiner Stammtischnähe, die aus dem so genannten methodologischen Individualismus resultiert. Der besagt, dass sich die Funktionsweise einer Volkswirtschaft aus dem Handeln der einzelnen Wirtschaftssubjekte erklären lassen muss. Und diese Erklärung besteht dann oft in einfachen Begründungen, die auf den ersten Blick plausibel wirken, indem sie nämlich irgendwelche Alltagssituationen betriebswirtschaftlicher Art auf ganze Volkswirtschaften schlicht und einfach übertragen, also mit Analogien arbeiten. Und das verfängt. Derartige Begründungen füllen die Wirtschaftsseiten vieler Tageszeitungen und bestimmen das Denken der politischen Klasse. Angela Merkel empfahl die Sparsamkeit der „schwäbischen Hausfrau“ sogar als Krisenbewältigungsstrategie. Und diese Strategie soll jetzt anscheinend der griechischen Volkswirtschaft verschrieben werden. Das kann natürlich nicht funktionieren: Dem verschuldeten Privathaushalt mag es ja helfen, wenn seine Mitglieder drei Jahre lang nur ranklotzen und Konsumverzicht leisten. Aber auf eine Volkswirtschaft lässt sich das nicht übertragen. Der Verzicht auf Konsum bringt auch die Produktion zum Erliegen und kann nur in die Depression führen. Das ist nun wiederum ein Standardargument linker Ökonomen. Der griechischen Misere lässt sich ja kaum Herr werden, indem dort einfach weiter gewirtschaftet wird wie bisher. Damit haben Sie vermutlich recht, woraus zunächst aber nur folgt, dass die Lage aussichtslos ist. Und ganz bestimmt habe ich kein Rezept anzubieten, mit dem die griechische Volkswirtschaft wieder auf einen grünen Zweig käme. Es ging hier aber gar nicht um das Beispiel Griechenland, sondern um die Fehlerhaftigkeit einer solchen Argumentation auf Stammtischniveau, die in der schlichten Übertragung betriebswirtschaftlicher Überlegungen auf die makroökonomische Ebene besteht. Selbst wenn das Resultat zufällig einmal richtig sein sollte, muss ich als Wissenschaftler doch auf der logischen Korrektheit von Begründungen beharren. Als Mathematiker halten Sie die Ökonomie für keine echte Wissenschaft? Zumindest was die neoklassische Lehre angeht, muss man wohl eher von einer wissenschaftlich verbrämten Ideologie sprechen. Ich stelle bei der Lektüre von VWL-Lehrbüchern regelmäßig fest, dass die Wirklichkeit der kapitalistischen Wirtschaft dort gar nicht reflektiert wird. Stattdessen werden die eigenen ideologischen Vorurteile in mathematische Modelle gegossen und diese der Wirklichkeit einfach übergestülpt. Damit hat aber in der Tat das Fach Wirtschaftswissenschaft seinen Gegenstand letztlich aufgegeben und streng genommen seinen wissenschaftlichen Status verloren. Was ist Ihrer Ansicht nach zu tun? Innerhalb der VWL wird inzwischen ja wieder über Gegenstand, Grundlagen und Methoden des eigenen Fachs breit diskutiert – etwa in der F.A.Z. Das hat seinen Grund natürlich auch darin, dass sich die neoklassische Harmonielehre des Marktes an den kapitalistischen Krisenerscheinungen vollständig blamiert hat. Man kann nur hoffen, dass daraus ein Neuanfang resultiert, indem das neoklassische Dogma vollständig abgeschüttelt wird. Als Mathematiker liegt mir eine andere Konsequenz näher, die die Mathematikausbildung betrifft. Ich denke, dass dort stärker als bisher der richtige und falsche Gebrauch mathematischer Modelle thematisiert werden sollte. Die Verwendung von Mathematik führt nicht automatisch zu wahren Ergebnissen, sondern sie kann auch dazu missbraucht werden, Ideologie zu transportieren. Es wäre viel gewonnen, wenn sich diese Einsicht im öffentlichen Bewusstsein verankern ließe. Die Fragen stellte Alexander Maguier |