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Claus Peter Ortlieb


Erschienen in der Internet-Zeitschrift TELEPOLIS am 13.12.2011

Claus Peter Ortlieb

Lohndumping, Hightech und Krise

Nach allgemeiner Auffassung liegt einer der Gründe dafür, dass „Deutschland die Krise besser überstanden hat als andere“, wieder „wettbewerbsfähig“ wurde und „heute wirtschaftlich so glänzend dasteht“, in der Agenda 2010 der rotgrünen Koalition unter Kanzler Schröder und dem dazu notwendigen „Umbau des Sozialstaats“.1 Was damit gemeint sein könnte, mögen die folgenden Daten verdeutlichen. Sie wurden im November 2011 zweimal in SPIEGEL-Online veröffentlicht, am 09.11. unter dem Titel „Sinkende Reallöhne: Deutsche können sich immer weniger leisten“, am 23.11. dann noch einmal unter dem Titel „Steigende Reallöhne: Arbeitnehmern bleibt mehr Geld in der Tasche“. Während es am 09.11. um die Entwicklung der letzten 10 Jahre ging, handelte es sich am 23.11. um die Zukunftsmusik irgendwelcher „Wirtschaftsweisen“, denen zufolge die Stundenlöhne 2012 um 2,7% steigen, während die Inflation im kommenden Jahr bei 1,9% liegen soll. Aber wer mag daran schon glauben?

  • Vom 1. Zehntel der geringfügig Beschäftigten abgesehen gilt: Je geringer der Lohn, desto höher die Reallohneinbußen.
  • Für die unteren 70% gab es bis 2010 Reallohneinbußen von durchschnittlich 9,5%.
  • Auch die Löhne von FacharbeiterInnen (Exportindustrie!, 6. bis 8. Zehntel) sanken real.
  • Während die unteren 60% bereits bis zum Jahr 2005 Reallohneinbußen erlitten, folgten die übrigen erst in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts. Die Reallohneinbußen haben sich also von unten nach oben durch das Lohngefüge gefressen. Eine Ausnahme bildet nur das oberste Zehntel, das eine Sonderrolle spielt, aus hier nicht weiter untersuchten Gründen.

Das deutsche „Erfolgsmodell“, mit dem im letzten Jahrzehnt die angeblich verloren gegangene „internationale Wettbewerbsfähigkeit“ zurückgewonnen wurde, besteht also kurz gesagt aus einer Kombination von Lohndumping und Hightech. Die nach wie vor hohen Produktivitätszuwächse wurden – anders als im Fordismus und anders als bisher noch in allen übrigen EU-Ländern – nicht mehr an die lohnabhängig Beschäftigten weitergegeben. Es kommt noch hinzu, dass der Anteil der Industrieproduktion am Bruttoinlandsprodukt in Deutschland signifikant höher ist als in anderen Ländern und dass sich diese Relation gerade wegen der geringeren Lohnstückkosten immer weiter zugunsten der deutschen Industrie verschiebt, weil die – beispielsweise – südeuropäischen Industrien unter diesen Bedingungen nicht mehr konkurrenzfähig sind.

Die besonderen, also über die globale Wirtschaftskrise noch hinausgehenden Verwerfungen in der Euro-Zone – bis hin zu ihrem inzwischen für denkbar gehaltenen Zusammenbruch –, deren Länder sich nicht mehr durch Währungs-Abwertungen voreinander schützen können, haben darin ihre Ursache, dass ausgerechnet die größte Volkswirtschaft, die zugleich eines der Länder mit der höchsten Arbeitsproduktivität ist, Lohndumping betreibt. Darauf ist frühzeitig hingewiesen worden, so etwa von der EU-Kommission und von der damaligen französischen Finanzministerin und jetzigen IWF-Chefin Christine Lagarde, die die Deutschen zu Lohnerhöhungen und Zurückhaltung in ihren Exportaktivitäten aufforderten, selbstverständlich ohne jegliche Resonanz auf deutscher Seite. Wer lässt sich schon gern sein Erfolgsmodell kaputtmachen? Stattdessen ergeht die Empfehlung, das übrige Europa solle sich das deutsche Modell zum Vorbild nehmen: „Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht.“ Dabei wird freilich übersehen oder verschwiegen, dass dieses Modell auf einer Asymmetrie beruht, also nur funktionieren kann, solange es nicht alle anderen genauso machen. Es ist ebenso banal wie offenbar schwer zu vermitteln, dass nicht alle Handelsbilanzen gleichermaßen positiv sein können, weil sie in der Summe notwendig Null ergeben.

Also wird in den südeuropäischen „Krisenländern“ ein Sparkurs gefahren, gegen den „die Hartz-IV-Reformen wie ein Spa-Urlaub auf Sri Lanka wirken“ (so Georg Diez in SPIEGEL-Online vom 02.12.11), doch mit welchem Ergebnis? Natürlich wird die EZB, um einen Euro-Crash zu vermeiden, in immer größerem Umfang faule Staatsanleihen aufkaufen müssen, was zumindest tendenziell eine Inflation nach sich zieht. Gleichzeitig rauscht die EU geschlossen in die Depression, und das selbstverständlich unter Einschluss Deutschlands: Mehr als 60% der deutschen Exporte (578 von insgesamt 957 Mrd. Euro) gehen in die EU-27, sie machten im Jahr 2010 etwa 23% des deutschen Bruttoinlandsprodukts aus4, und die Exporte in die übrige Welt stehen schließlich ebenfalls auf der Kippe. Die zu erwartende Koinzidenz von Depression und Inflation und der damit verbundene Verarmungs-Schub dürften bereits kurzfristig nicht nur europa- sondern weltweit zu sozialen Revolten führen, die freilich hilflos bleiben müssen, solange sie sich – wie derzeit noch alle einschlägigen Bewegungen – an das Geldmedium klammern und nur dessen gerechtere Verteilung einklagen.

Bei der inzwischen – genau genommen bereits seit den 1980er Jahren – in der Landwirtschaft und der industriellen Produktion erreichten und weiter zunehmenden Arbeitsproduktivität genügt ein immer kleinerer Bruchteil der weltweiten Arbeitskraft, um für alle zu produzieren. Diese von ihr selbst induzierte Entwicklung hat die kapitalistische Produktionsweise – und mit ihr die von ihrem Funktionieren abhängige Menschheit – in eine Bredouille gebracht, aus der es innerkapitalistisch keinen Ausweg gibt. Hierin liegt der tiefere Grund der aktuellen Krise, die als immer höher sich auftürmende Schuldenkrise erscheint. Wer nicht selbst produziert – bei dem erreichten Produktivitätsniveau also die große Mehrheit –, vom erreichten Lebensstandard aber nicht runter will, muss anschreiben lassen, also Schulden machen, am einfachsten bei den Produzenten, die sich freuen, erst einmal weiter produzieren zu dürfen. Dieser Mechanismus allein hat die Weltwirtschaft in den letzten dreißig Jahren noch in Gang gehalten. Im Rückblick erweist sich somit der Neoliberalismus – ganz entgegen seiner eigenen Ideologie – als „gigantischstes kreditfinanziertes Konjunkturprogramm, das es je gegeben hat“ (Meinhard Miegel). Doch irgendwann ist die Party vorbei, und dieser Zeitpunkt scheint jetzt erreicht.

Um es noch einmal an der EU zu verdeutlichen: Selbst wenn es wider Erwarten und dann nur unter erheblich höheren Opfern, als sie u. a. die griechische, portugiesische, spanische Bevölkerung jetzt schon bringen müssen, gelingen sollte, die EU oder auch nur die Euro-Zone nach dem deutschen Modell zu trimmen und wieder „international wettbewerbsfähig“ zu machen, m. a. W. die EU auf chinesisches Niveau zu bringen, auch was die Lebens- und Arbeitsverhältnisse betrifft: Wo wären dann die KonsumentInnen, die uns die all die schönen Produkte, die wir dann billiger produzieren könnten, noch abkaufen? Von der sich abzeichnenden Abwärtsspirale betroffen sind übrigens nicht allein der Massenkonsum und der damit verbundene Lebensstandard, sondern auch der eigentliche Zweck kapitalistischen Wirtschaftens, also die Erzielung von Profiten. Auf dem erreichten Produktivitätsniveau ist Kapitalakkumulation ohne Massenkonsum, dieser aber ohne Aufnahme weiterer Schulden nicht möglich. Die kapitalistische Produktionsweise hat kein Licht am Ende des Tunnels mehr zu bieten, noch nicht einmal für sich selbst.

 




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