Langfassung des unter dem Titel „Zwang und Ethos“ in konkret 5/2012 erschienenen Textes Claus Peter OrtliebArbeitszwang und Arbeitsethos
Offenbar sind wir achtzig Jahre und eine Weltwirtschaftskrise später kein bisschen klüger geworden, im Gegenteil: Die Arbeitsproduktivität in Industrie und Landwirtschaft dürfte sich seither ungefähr verzehnfacht haben, und doch kann keine Rede davon sein, dass sie zum Zwecke eines behaglichen und sicheren Lebens aller Menschen eingesetzt würde. In Europa, dem es ja immer noch vergleichsweise gut geht, ist die Arbeitslosigkeit auf Rekordhöhe angestiegen und steigt weiter, während die verbliebenen Inseln der globalen Wettbewerbsfähigkeit schon seit Jahren mit neuen, durch Arbeitsverdichtung verursachten Volkskrankheiten kämpfen: Vom Burn-out-Syndrom über den gewohnheitsmäßigen Psychopharmaka-Konsum bis hin zum plötzlichen Tod durch Überarbeitung. Nun handelt es sich allerdings bei der von Russell konstatierten übertriebenen Arbeitsamkeit keineswegs bloß um eine einfach abzulegende, da obsolet gewordene Gewohnheit aus Zeiten, in denen es noch keine Maschinen gab. Tatsächlich wurde im Mittelalter, das die Arbeit als Selbstzweck nicht kannte, weniger gearbeitet als heute. Der Grund dafür ist simpel: Arbeit nach heutigem Verständnis, also die abstrakte, von ihrem Inhalt unabhängige Verausgabung von Arbeitskraft, ist historisch spezifisch. Es gibt sie nur im Kapitalismus. Die hier ja allgemein verbreitete Vorstellung, dass „jede Arbeit besser als keine“ sei, wäre in jeder anderen Gesellschaftsformation zurecht als völlig verrückt angesehen worden. Diese Verrücktheit beherrscht als abstraktes Prinzip die gesellschaftlichen Beziehungen im Kapitalismus. Von kriminellen Aktivitäten einmal abgesehen, ist Arbeit – als eigene oder als Aneignung fremder Arbeit – das einzige Mittel, an der Gesellschaft teilzuhaben. Auf den Inhalt der jeweiligen Tätigkeit kommt es dabei nicht an; ob ich Kartoffeln anbaue oder Streubomben produziere, spielt keine Rolle, solange mein Produkt einen Käufer findet und so dafür sorgt, das aus Geld mehr Geld wird. Arbeit als Basis der Wertverwertung ist Selbstzweck und gesellschaftliches Zwangsprinzip, dessen einziger Sinn darin besteht, immer mehr „tote Arbeit“ als Kapital anzuhäufen. Ein Zwang, dem alle gleichermaßen unterworfen sind, lässt sich nur dann dauerhaft aufrechterhalten, wenn die an ihn Gefesselten gelernt haben, ihre Ketten zu lieben. Auch darin unterscheidet sich die bürgerliche Gesellschaft von ihren Vorgängerinnen. Von Aristoteles über Augustinus bis zu Thomas von Aquin haben antike und mittelalterliche Philosophen die Muße und nicht etwa die Arbeit als Weg zum guten Leben propagiert:1
Es gab auch andere Stimmen, so etwa die von Begründern bestimmter Mönchsorden, die die Arbeit als Mittel zu Askese und Selbstkasteiung anpriesen. In großem Stil und auf die gesamte Bevölkerung bezogen hat das aber erst der Protestantismus getan:
Und der Aufklärung blieb es vorbehalten, das Arbeitsethos, also die moralische Verpflichtung zur Arbeit zum Selbstzweck zu erheben:
Wie sich schon in den letzten Zitaten andeutet, ist die Liebe zur Arbeit mit dem Hass auf die Müßiggänger eng verbunden:
Die ausgrenzenden und rassistischen Auslassungen der Aufklärungsphilosophen sind keine bloßen Betriebsunfälle, sondern gehören zum innersten Gehalt ihrer Arbeitsideologie. Weil das Aufklärungsdenken die Arbeit zum eigentlichen Daseinszweck „des Menschen“ verklärt, muss es im Umkehrschluss alle Nichtarbeitenden aus der „menschlichen Rasse“ ausschließen: Der Mensch muss arbeiten; wer nicht arbeitet, kann folglich kein vollwertiger Mensch sein. Es ist die Wut des weißen Arbeitsmannes über den selbst auferlegten Zwang, die sich hier ausagiert. Sie richtet sich gegen alles, was diesem Zwang nicht zu unterliegen und ein Leben ohne Arbeit zu führen scheint: Gegen die Frauen, die in dem von der Arbeit abgespaltenen Privatbereich der bürgerlichen Familie für das „eigentliche Leben“ zuständig sind; gegen jede Art Volk (die Zuschreibungen sind hier vielfältig), dem sich ein Leben in Saus und Braus ohne Arbeit andichten lässt; und gegen das „raffende Kapital“, das sich den von anderen geschaffenen Mehrwert ohne eigene Arbeit aneigne. Die modernen Ideologien des Sexismus, Rassismus, Antiziganismus und Antisemitismus sind auch im Arbeitsethos fundiert. Seit den 1970er Jahren haben die mikroelektronischen Rationalisierungspotentiale in immer stärkerem Maße die Arbeit aus dem Produktionsprozess verschwinden lassen und den Kapitalismus damit in die Krise geführt. Gleichwohl hat sich der innere und äußere Zwang zur Arbeit nicht verringert, sondern durch die zunehmende Verknappung der „Arbeitsplätze“ sogar verschärft. Die Bedingungen für die Herausgefallenen sind härter geworden: Es sind inzwischen zu viele, als dass sich ihre menschenwürdige Versorgung mit der Aufrechterhaltung der globalen Wettbewerbsfähigkeit noch dauerhaft vereinbaren ließe. Der „Sachzwang, Menschen in Arbeit zu bringen“ (Angela Merkel), vernebelt schon die Problemwahrnehmung: Nicht das allmähliche Verschwinden der Arbeit sei schuld an der Arbeitslosigkeit, sondern die Arbeitslosen seien es, die daher mit allen zur Verfügung stehenden Zwangsmitteln in gar nicht mehr existente Arbeit gebracht werden müssen. Ähnliches vollzieht sich auf europäischer Ebene: Den ins Hintertreffen geratenen „Pleitestaaten“ werden Austeritätsprogramme aufgezwungen, auf dass sie, ist das Tal der Tränen erst durchschritten, wieder wettbewerbsfähig werden. Das ist so aussichtsreich, wie es ein Versuch des Deutschen Fußballbunds wäre, durch geeignete Trainingsprogramme alle achtzehn Bundesligavereine auf die vier vorhandenen Champions-League-Plätze zu hieven. Offenbar kann die Lösung nur in der Abschaffung der Arbeit liegen, was freilich die Abschaffung des Kapitalismus bedeutet. Dagegen steht auch das über mehrere Jahrhunderte andressierte Arbeitsethos:
Was Hegel „dem Barbaren“ zuschrieb, fällt auf uns selbst zurück: Dass nämlich, wer beschäftigungslos ist, nur noch „in der Stumpfheit vor sich hin brütet“. Anders gesagt: Das bürgerliche Subjekt mag sich ein Leben ohne Arbeit auch deswegen nicht vorstellen, weil hinter seinem Arbeitsethos das Grauen vor der eigenen Leere lauert. 1 Diese und fast alle weiteren Zitate finden sich auf der lesenswerten Internetseite www.otium-bremen.de |