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Robert Kurz
Postmarxismus und Arbeitsfetisch Zum historischen Widerspruch in der
Marxschen Theorie
Wenn der Marxismus als historische (und zu historisierende) Gestalt der
gesellschaftstheoretischen Reflexion heute weder ungebrochen fortzuführen noch
simpel als "Irrtum" zu verwerfen, sondern vielmehr aufzuheben ist, dann stellt
sich natürlich die Frage, anhand welcher Inhalte und Kriterien diese anstehende
Aufhebung vor sich gehen soll. Denn einen ungebrochenen, einheitlichen und
unumstrittenen Marxismus als solchen hat es bekanntermaßen auch in der
Binnengeschichte der nunmehr zu Ende gehenden Epoche der "Modernisierung" nie
gegeben - was auch heute wieder scheinbar eine Reaktion auf die Krise (oder
eigentlich schon den Untergang) des Marxismus möglich macht, die wesentlich
vergangenheitsbezogen ist und irgendeinen alten Knochen jener vielen Abarten und
Seitenzweige wieder ausgraben möchte, die schon früher ein ideologisches
Neandertaler-Schicksal erlitten hatten. Das Aufhebungsproblem kann aber kein
archäologisches sein, sondern die gesamte Modernisierungsgeschichte der letzten
hundert Jahre mit ihren sämtlichen Marxismen steht zur Disposition. Um einen
Ausgangspunkt zu gewinnen, kann ein kurzer Blick auf die Brüche schon in der
ideologischen Binnengeschichte des bisherigen Arbeiterbewegungs- oder
Modernisierungs-Marxismus hilfreich sein.
Geschichte und Untergang des Marxismus
Oft schon ist die Marxsche Theorie totgesagt worden, und immer wieder hat sie
ihre Überlebenskraft bewiesen angesichts unaufgehobener Verhältnisse, in denen
der Mensch weiterhin ein von stummen Zwängen geknechtetes Wesen bleibt. Dieser
Zustand konnte unübersehbar in der bisherigen Modernisierungsgeschichte niemals
überwunden werden, und heute sind wir anscheinend weiter von der Einlösung des
revolutionären Aufhebungsversprechens entfernt als je zuvor. Allerdings sollte
man nicht allzu sehr auf eine quasi-automatische Wiederauferstehung des
Marxschen Ansatzes und seiner emanzipatorischen Gehalte hoffen, etwa so, wie die
Neoliberalen auf die Selbstheilungskräfte des Marktes, manche Spätmarxisten auf
das nächste kapitalistische "Akkumulationsmodell" und die eschatologischen
Sekten auf die Wiederkehr Christi warten. Schon in der Vergangenheit war
Begräbnis und Auferstehung des Karl Marx stets von gesellschaftlichen wie
theoretischen Brüchen und Verwerfungen begeleitet, in denen sich der noch
unerschöpfte Modernisierungsprozess schubweise durchsetzte und in neuen,
überraschenden Gestalten entpuppte. Dementsprechend führten die diversen "Krisen
des Marxismus" auch jeweils zwangsläufig zu einer kontroversen Neuinterpretation
und Reformulierung der Marxschen Theorie im veränderten gesellschaftlichen
Kontext.
Die erste "Krise des Marxismus" brach auf, als sich spätestens mit dem Ende
der langen Gründerzeit-Stagnation die weitere langfristige
Akkumulationsfähigkeit des Kapitalismus erwies und die anwachsende
westeuropäische Arbeiterbewegung sich überall einer reformerischen,
kapitalimmanenten "Realpolitik" zuwandte. Während die Reform-Marxisten, für die
in Deutschland Eduard Bernstein repräsentativ war, die Marxsche Theorie in
diesem Sinne reformulierten und einige ihrer Momente als falsifiziert bzw.
"metaphysisch" verwarfen, beharrten die Gralshüter des unverfälschten Marxschen
Erbes mit Karl Kautsky an der Spitze auf einer zunehmend sterilen Orthodoxie,
die in der damaligen gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht konkretisiert werden
konnte. Trotzdem blieb diese Orthodoxie, jedenfalls in Deutschland, die
offizielle theoretische Doktrin der Sozialdemokratie, auch wenn die tatsächliche
politische Praxis damit immer weniger zu tun hatte.
Die zweite "Krise des Marxismus" brachte im Ersten Weltkrieg das große
Schisma zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus. Diesmal kam die
Neuinterpretation der Marxschen Theorie im Gegensatz zur vorhergehenden Epoche
von "links". Die Oktoberrevolution im Rücken, brach Lenin sowohl mit dem
westlichen Reformismus als auch mit der langweiligen Kautskyschen Orthodoxie.
Den Problemen der Revolution im kapitalistisch rückständigen Russland
entsprechend, wurde die Marxsche Theorie jedoch weniger von der Kritik der
Politischen Ökonomie bzw. von ihrem philosophischen Gehalt her reformuliert, als
vielmehr "politizistisch" im Sinne revolutionärer Machtbehauptung und einer
Modelung weitgehend agrarischer, vormoderner Verhältnisse. Die "Radikalität"
bezog sich vor allem auf die Vorgehensweise und auf die Formen der politischen
Bewegung, weniger auf den historischen Inhalt und fast gar nicht auf die
ökonomische Formbestimmung der Gesellschaft selbst; denn die postulierte
planökonomische Alternative verließ niemals die ökonomischen Grundkategorien der
warenproduzierenden Moderne, deren westliche Gestalt in vieler Hinsicht
ausdrückliches Vorbild blieb. Alles was unter "Planwirtschaft" und "Beseitigung
des Privateigentums" lief, war nur ein staatsökonomisches Derivat des
Kapitalverhältnisses.
Die kommunistische bzw. bolschewistische Neuinterpretation der Marxschen
Theorie wurde so zum theoretischen Programm einer nachholenden Modernisierung im
kapitalistisch rückständigen Osten und Süden des Planeten. Sie fand ihre
historische Wirksamkeit in der sowjetischen Industrialisierung, in der
chinesischen Revolution und in den antikolonialen nationalen
Befreiungsbewegungen. Im Westen blieben der Kommunismus und linksradikale
Ableger dagegen in der Minderheit oder bloße Randerscheinungen, da ihre Theorie
nicht den entwickelten westlichen Verhältnissen entsprach. Das eigentlich auf
dem Boden einer nachholenden Modernisierung erwachsene sogenannte "Primat der
Politik" wurde so, oft noch voluntaristisch verlängert, zum theoretischen
Erbteil und Markenzeichen auch des westlichen Kommunismus bis heute, während die
Kritik der Politischen Ökonomie substantiell nicht über den Stand von
Kautsky/Hilferding (bzw. in deren Gefolge Lenin) hinauskam.
Der Schock der kapitalistischen Weltwirtschaftskrise, die zeitweilige großen
Erfolge der sowjetischen Industrialisierung, die chinesischen Revolution und in
die Resultate des Zweiten Weltkrieges stabilisierten zunächst die kommunistische
Reformulierung der Marxschen Theorie und schienen die Heraufkunft eines
kommunistischen (staatskapitalistischen oder staatssozialistischen) Weltsystems
anzudeuten. Die dritte "Krise des Marxismus" wurde aber unvermeidlich, als das
westliche "Wirtschaftswunder" der Nachkriegsära mit historisch beispiellosen
Wachstumsraten die Kapitalismuskritik in den entwickelten westlichen Ländern
verblassen ließ und zum Umverteilungsritual degradierte, während gleichzeitig
die östlichen (und südlichen) Ökonomien einer nachholenden Modernisierung
relativ wieder weit zurückfielen und ökonomisch wie sozial, kulturell wie
theoretisch zu versteinern begannen. Der "Marxismus-Leninismus" erstarrte zum
dogmatischen Schema, und die westliche Sozialdemokratie entledigte sich der
Marxschen Theorie überhaupt als Doktrin ("Godesberg").
Die Rekonstruktion und Reformulierung der Marxschen Theorie kam auch in
dieser Situation wieder von "links", diesmal in einem eigentümlichen Amalgam
einerseits von westlichen Subjekttheorien, repräsentiert vor allem durch die
Jugend- und Studentenbewegung von 1968, und andererseits von der letzten Welle
der nationalen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt (Vietnam u. a), flankiert
von der spezifisch chinesischen Marx-Interpretation durch Mao Tsetung. Der
gemeinsame Nenner dieser Neuinterpretation war die theoretische Apotheose des
"politizitischen" Voluntarismus. Insofern war diese Reformulierung der "Neuen
Linken" vielleicht die bisher schwächste, weil sie nur den alten linksradikalen
"Politizismus" und seine voluntaristische Verlängerung durch einschlägige
Strömungen der 20er bzw. 30er Jahre in einem neuen Kontext erweitert
reproduzierte. Die einzige wirklich originäre Quelle innerhalb der "Neuen
Linken" war (neben Ernst Bloch, dessen Rezeption aber randständig blieb) die
Kritische Theorie der Frankfurter Schule, die allerdings schon viel früher
ausformuliert worden war und überhaupt quer zum Gang der marxistischen Dinge
liegt. Dieser Ansatz, dessen "dunkle" und oft kryptisch formulierte
Implikationen unausgeschöpft blieben, wurde aber fast nur nach seiner
voluntaristischen Ausdeutungsmöglichkeit hin aufgenommen und z. B. mit der
kruden utilitaristischen Doktrin der "Mao-Tsetung-Ideen" kompatibel gemacht. Die
Reformulierung der Marxschen Theorie durch die "Neue Linke" erscheint so bereits
als das Produkt einer Spätzeit des Marxismus, in der keine wirklich
eigenständigen Ansätze mehr erarbeitet, sondern die sämtlichen Konzepte der
Vergangenheit noch einmal eklektisch durchlaufen wurden.
Die Kapitalismuskritik dieses aufgewärmten Linksradikalismus war immer eine
schwache, insofern er die bloß äußerlich wahrgenommenen Basisformen des
kapitalistischen, warenproduzierenden Systems weiterhin unangetastet ließ. Die
staatsökonomischen nachholenden Entwicklungsgesellschaften des Ostens und Südens
wurden auf der politischen bzw. kulturellen Ebene (inadäquat und folgenlos)
wegen gewisser "undemokratischer" Erscheinungen kritisiert, während ihre reale
bürgerliche Reproduktionsform als "sozialistische Wirtschaftsgrundlage"
missverstanden blieb. So wurde die vierte "Krise des Marxismus" unvermeidlich.
Unter den Produktivitätsbedingungen und der Weltmarktentwicklung der 80er Jahre
brachen zuerst große Teile der sogenannten Dritten Welt, dann die Ökonomien des
sogenannten "Realsozialismus" zusammen. Die westlichen links-politizistischen
Konzepte entpuppten sich als letztlich kapitalkonform und mutierten zur neuen
"Realpolitik". Die Neue Linke erlebte also ihr spezifisches "Godesberg". Die
Marxsche Theorie, ungleichzeitig schon durch ihre widersprüchliche
Rezeptionsgeschichte in den globalen Modernisierungsschüben seit Beginn des 20.
Jahrhunderts, wurde wieder einmal (voreilig) zu Grabe getragen.
Wenn sich nun die Frage des abermaligen Revivals einer kritischen Theorie
erhebt, die nur zusammen mit ihrem Gegenstand, dem Kapital, wirklich sterben
kann, dann gewiss nicht aus Gründen der ideologischen Anhänglichkeit einer
gläubigen und bibelfesten, in Treue fest beharrenden marxistischen
Kirchengemeinde. Auch heute kann es nur die gesellschaftliche Konstellation der
eigenen Zeit sein, deren Probleme der totgesagten Marxschen Theorie wieder neues
Leben einzuhauchen vermögen. Die heutige Wirklichkeit der Weltgesellschaft ein
halbes Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus ist aber
unübersehbar diejenige einer in ihren Dimensionen noch nie da gewesenen globalen
Krise. Viel wahrscheinlicher als die Transformation der
Zusammenbruchsgesellschaften des Ostens und Südens zu funktionsfähigen
Marktwirtschaften und Demokratien mit einem nachfolgendem neuen
Akkumulationsschub des Weltkapitals ist das gemeinsame Ende der
warenproduzierenden Moderne in einer globalen Barbarei. Es wird also kaum eine
Lösung sein, wenn die diversen Erneuerungsansprüche, die aus den bisherigen
Marxismen hervorgehen, auf eine gewissermaßen potenzierte Bernsteiniade
hinauslaufen. Genau dies scheint jedoch bei den meisten alteingesessenen
Projekten des akademischen Restmarxismus mehr oder weniger der Fall zu sein.
Der tiefste Grund für diese merkwürdig flache, unglaubwürdige und zu nichts
Neuem führende Verarbeitung der letzten Krise des Marxismus liegt darin, dass
die bisherigen Marxismen allesamt der Modernisierungsgeschichte immanent bleiben
mussten, d.h. der Dynamik der Moderne gegen die vormoderne Agrargesellschaft und
deren Überreste stärker verpflichtet waren als der noch gar nicht deutlich
formulierten Kritik des warenproduzierenden Systems der Moderne selber. Das galt
eben nicht nur für die Marxismen der nachholenden Modernisierungsgesellschaften
im Osten und Süden, sondern auch für die Marxismen der alten Arbeiterbewegung im
Westen. Der Marxismus insgesamt entwickelte so seine Polemik hauptsächlich gegen
die eigentlich vormodernen Verhältnisse und Beziehungsformen, in deren Begriffen
auch das Kapitalverhältnis selber noch verstanden und kritisiert wurde. Das ist
insofern kein Wunder, als das Kapital und die ihm entsprechenden Formen und
Sekundärsphären ja keineswegs in idelatypischer reiner Gestalt in die Geschichte
eintraten, sondern vielfältig und unentwirrbar verknüpft und vermengt mit
traditionellen Strukturen, Verhaltensmustern und Denkweisen. Bis tief ins
20.Jahrhundert hinein war "das Kapital" sozusagen identisch mit seiner
Durchsetzungsgeschichte (auch noch im Westen), d.h. es "war" eine Gemengelage in
und mit einer noch keineswegs völlig durchkapitalisierten Welt, es "war" der
Clinch kapitalistischer und vorkapitalistischer, moderner und vormoderner
Momente. Unter diesen Bedingungen konnte eigentlich der Kapitalismus nicht als
solcher (d.h. in seinen basalen Fetischformen) kritisiert werden, sondern immer
nur ein jeweils vorgefundenes gesellschaftliches Amalgam vom virtuellen
Standpunkt gewissermaßen des "nächsthöheren" (immer noch kapitalistischen)
Entwicklungsstadiums aus.
Mit anderen Worten: was die Marxisten kritisierten, das war das empirische
Kapital eines empirischen historischen Durchgangszustandes (von heute aus
gesehen Vergangenheit), und diese notwendig beschränkte, immanente Kritik konnte
gar nicht unterschieden werden von einer auf das Fundament der kapitalistischen
Moderne überhaupt zielenden Kritik. Weil die Begriffe dieses Marxismus in seiner
Gesamtheit immer schon durchtränkt waren von der noch unausgeschöpften
Problemlage der Modernisierung, und weil ihre revolutionäre Emphase, soweit sie
eine solche besaßen, stets von den jakobinischen Momenten der bürgerlichen
Revolution (bzw. deren Wiederholung in den östlichen und südlichen
Modernisierungsdiktaturen) geliehen war, kamen auch die Transformations- und
"Sozialismus"-Vorstellungen dieser ganzen langen Gesamtepoche nie über die
Grundkategorien des modernen warenproduzierenden Systems hinaus. Von der Bürde
dieser Erblast kann sich offenbar das Gros des akademischen Marxismus nicht mehr
lösen, obwohl die ganze Epoche 1989 zu Ende gegangen ist. Der Untergang des
Realsozialismus wird nicht als Teil einer historischen Gesamtkrise der Moderne
begriffen, sondern nur als die Katastrophe einer vermeintlich zu radikalen
Entfernung von den "Gesetzen der Marktwirtschaft". Die falschen Erneuerer wollen
also von Marx ausgerechnet das verwerfen, was mit den grundlegenden
VWL-Kategorien (Wert, Preis, Rentabilität etc.) kompatibel ist, um nur noch eine
bedeutungslose theoretische Vogelscheuche zurückzulassen, deren Restbestände an
Kritik auch anderswo und besser zu finden sind. Sie merken gar nicht, dass sie
sich damit selber als Marxisten überflüssig machen (vielleicht ist das sogar der
geheime Sinn ihrer "Erneuerung"), denn zur Analyse der real existierenden
Marktwirtschaft und der dazugehörigen Realpolitik haben sie überhaupt nichts
Originelles mehr beizutragen. Eine so verfahrende marxologische
Pseudo-Erneuerung kann nur noch zusammen mit dem gegenstandslos gewordenen
Marxismus untergehen.
Der doppelte Marx
Für eine wirkliche Erneuerung der Marxschen Theorie kann sich nicht mehr das
Problem einer bloßen Interpretation (als Fortsetzung der bereits langen Reihe
von Interpretationen) stellen, sondern vielmehr heute am Ende der Moderne eben
nur noch das Problem der Aufhebung dieser Theorie und damit ihrer
Interpretationen. Dass die Marxsche Theorie gegen den ausdrücklichen Willen
ihres Urhebers zum "Marxismus" geworden war, also ihren Status als ganz
gewöhnliche Gesellschaftstheorie mit ganz gewöhnlichen menschlichen und
historischen Erkenntnisgrenzen verloren hatte, und tatsächlich zu einer Art
Heilslehre mutiert war, die sich noch bis in die kritischsten Varianten des
"westlichen Marxismus" hinein einer Ausdifferenzierung ihrer Inhalte, einer
aufhebenden Überprüfung und somit Historisierung entzog: Dieser merkwürdige
Vorgang hat sicherlich damit zu tun, dass der Marxsche Ansatz selber über ein
Verständnisvermögen (und damit sozusagen über sich selbst) hinausgriff, das noch
innerhalb der kapitalistischen Modernisierungsgeschichte zur gesellschaftlichen
Praxis drängte.
Es ist also nicht möglich, Marx vom Marxismus und von der
Modernisierungsgeschichte einfach abzulösen und die bisherigen Marxisten
schlicht des (interpretativen) "Irrtums" zu bezichtigen. Vielmehr wird es
zunächst einmal unabweisbar, danach zu fragen, was denn an dieser Marxschen
Theorie selber noch "modernisierungstheoretisch" ist und somit auf der nunmehr
erreichten Entwicklungshöhe und Krisenreife der Moderne zusammen mit dieser
obsolet wird. Und da eine Rückkehr in die Vormoderne selbstverständlich weder
möglich noch wünschenswert ist, wäre gleichzeitig zu fragen, welche Momente der
Marxschen Theorie andererseits auf die jetzt erst erreichte Konstellation
verweisen und ihrer Zeit so weit vorausgeeilt waren, dass sie uns heute noch
erreichen und überhaupt erst heute wirksam werden können. Aus dieser Sicht lässt
sich die Historisierung und Ausdifferenzierung der Marxschen Theorie vornehmen,
die zwei letzten Endes unvereinbare Theoriewege bei Marx nicht etwa als
Verhältnis von "Irrtum" und "Wahrheit", sondern als ein Problem der historischen
Ungleichzeitigkeit innerhalb der Marxschen Theorie selbst unterscheidet und so
zur Erkenntnis eines "doppelten Marx" gelangt. Der erste, "exoterische",
modernisierungstheoretische, fetisch-immanente Argumentationsstrang bezieht sich
auf die innere Bewegungsform und Durchsetzungsgeschichte des Kapitals als
Verrechtlichung und Versachlichung aller Beziehungen, deren Entwicklungshorizont
noch positiv besetzt war. Und das ist eigentlich der weltbekannte und gängige
Marx: "Arbeitsstandpunkt" und Klassenkampf sind die zentralen Begriffe dieses
Strangs, die zum historischen Marxismus geführt haben.
Der zweite "esoterische" und im engeren Sinne "radikale" (i.e. an die Wurzel
gehende) Argumentationsstrang von Marx bezieht sich auf die reale Mystifikation
der Form von Ware und Geld als solcher, "in" der sich die Moderne samt ihren
immanenten Konflikten darstellt, durchsetzt und entwickelt. Also, einerseits
eine theoretische und gleichzeitig politische Mobilisation und Intervention
innerhalb der (letztlich positiv besetzten) Modernisierungsbewegung,
andererseits eine "dunkle" Meta-Kritik des eigenen Bezugssystems der
warenproduzierenden Moderne selbst. Mit anderen Worten, jetzt steht
unwiderruflich die Befreiung des Marxschen Werkes von jener schiefmäuligen,
weihrauchgeschwängerten Interpretationsweise an, deren quasi-religiöses Moment
auf eine uneingelöste (und bisher uneinlösbare) dunkle Seite dieser Theorie
verweist. Das quasi-religiöse Moment des Marxismus entstammt sicherlich auch dem
säkularisierten Religionsgehalt der Modernisierungsbewegung selbst, die nichts
anderes als die Entfesselung einer Fetischform (Ware und Geld) ist. Innerhalb
dieser historischen Gesamtbewegung speist sich die spezifische Erscheinungsform
des marxistischen Fetischdienstes jedoch aus der Scheu vor einem schlechthin
Unmöglichen und Uneinlösbaren in der Marxschen Theorie nämlich vor dem Ansatz
einer radikalen Kritik dieser objektivierten und verinnerlichten Fetischform
selber.
Das absolute Tabu der Moderne, die Warenform-Wertform als solche, das Geld
und damit die eigene Subjektform: Dieser Zusammenhang ist für das fetischistisch
konstituierte Bewusstsein ebenso wenig kritisch und aufhebend thematisierbar wie
für die Religiösen das Mysterium. Die "auf dem Wert beruhende Produktionsweise"
(Marx), die ihre Bahn zieht wie ein schließlich katastrophisch verglühender
Komet, setzt den Wert als Fetischkategorie blind voraus und biegt jede Reflexion
wie von selbst auf diese Form zurück, in der nicht nur gehandelt, sondern auch
gedacht wird. Erst das katastrophische Ende macht die "zweite Haut" dieser
Fetischform der Moderne gesellschaftlich thematisierbar (was noch kein Gelingen
des Abstreifens dieser Haut garantiert); und es ist das theoretisch Erratische
an der Marxschen Theorie, daß sie dieses Problem als ihr geheimes Zentrum hat.
Die Scheu der praktizierenden Marxisten vor diesem harten und (für sie)
gleichzeitig dubiosen Kern, der in der vergangenen Epoche noch keinesfalls
geknackt werden konnte, taucht die Marxsche Theorie und ihre
Rezeptionsgeschichte in jenes eigentümliche quasi-religiöse Zwielicht.
Nun ist aber die Fetischkritik in der Marxschen Theorie eben keineswegs
weitgehend ausformuliert und schon gar nicht im Sinne einer "Aufhebungsbewegung"
konkretisiert, wie Marx ja überhaupt eine riesige Fragmentmasse hinterlassen hat
(obwohl, ja gerade weil er so überaus "systematisch" sein wollte, ein
wissenstheoretisch und theoriegeschichtlich nicht uninteressanter Tatbestand).
Eine solche gesellschaftlich konkrete Zuspitzung der Kritik auf die
Fetischkonstitution des Kapitals, d.h. des als Verwertungsbewegung paradox auf
sich selbst rückgekoppelten Geldes, wäre auch zu viel verlangt für eine Theorie
kurz nach der Mitte des 19 Jahrhunderts. In einer Zeit, in der das
Kapitalverhältnis noch mehr als hundert Jahre an struktureller Ausentwicklung
und (welt)gesellschaftlicher Durchsetzungsgeschichte vor sich hatte, musste die
radikale Kritik der Basiskategorien warenförmiger Vergesellschaftung ganz einsam
dastehen.
Dass Marx den Widerspruch in seiner Theorie ahnte, geht aus zahlreichen
Aussagen hervor,. In Deutschland, so schrieb er im Vorwort seines Hauptwerks,
"quält uns, gleich dem ganzen übrigen kontinentalen Westeuropa, nicht nur die
Entwicklung der kapitalistischen Produktion, sondern auch der Mangel ihrer
Entwicklung" (Kapital Bd.1, 12). Marx selbst meinte hier nur einen unmittelbaren
Vergleich des damals unterentwickelten Deutschland mit dem bereits industriell
fortgeschrittenen Großbritannien; aber ungewollt hat er damit das historische
Programm der Arbeiterbewegung in eine Formel gefasst. Nicht bloß die
kontinentaleuropäischen Länder waren England gegenüber unentwickelt, sondern der
Kapitalismus als solcher war es noch sozusagen sich selbst gegenüber und hatte
demnach (im Gegensatz zu den Erwartungen von Marx) ein säkulares historisches
Entwicklungsfeld vor sich, auf dem Arbeiterbewegung und Marxismus als
Speerspitzen der kapitalistischen Systementfaltung selbst zu agieren
begannen.
Marx unternahm natürlich alle Anstrengungen, die beiden unvereinbaren Ansätze
seiner Theorie nicht nur zu versöhnen und zu vermitteln, sondern sogar als
logisch auseinander hervorgehend darzustellen. Je mehr sich die Arbeiterbewegung
seiner Theorie in ihrer "exoterischen" Variante bemächtigte, desto mehr musste
sich Marx Illusionen über diese Vermittlungsfähigkeit machen, desto wütender
wurden jedoch auch seine Ausfälle gegen die allzu deutliche systemimmanente
Interpretation seiner Theorie, die ihm seinerseits als bloße "Fehlleistung"
erscheinen musste. Sein Adlatus Friedrich Engels vollends, der ohnehin immer
viel beschränkter "positiv" dachte, verlor nach Marxens Tod endgültig den
Kontakt zum positivistisch beerdigten "esoterischen" Gehalt der Marxschen
Theorie und wurde zum ersten Kirchenvater des aufsteigenden Marxismus. Heute
haben wir es nun mit der eigentümlichen Problematik zu tun, dass der vom
Marxismus selber von Beginn an beerdigte "andere Marx" überhaupt erstmals ins
Licht einer neuen Krisengeschichte steigen kann, während umgekehrt der
altbekannte, der "marxistische" Marx endlich seinerseits beerdigt werden muss,
weil sein Gehalt zusammen mit der Modernisierungsbewegung bis zur Neige
ausgeschöpft ist.
Grundsätzlich lässt sich der "doppelte Marx" auf allen Ebenen seiner Theorie
"entflechten" und darstellen. Wie schon angedeutet betrifft die "doppelte"
Marxsche Argumentation zunächst das Problem der fetischistischen Beziehungsform
"Wert" (das ist der Kern der Fetisch-Konstitution) in ihrer gesellschaftlichen
Auseinandersetzung der kapitalistischen Realkategorien. Der "exoterische" Marx
kritisiert die Subordination der "Arbeiterklasse" unter das Kapital verkürzt in
der unvermittelten Erscheinungsform des Mehrwerts als "unbezahlte Arbeit" (und
wird allein dadurch kompatibel mit der Legimitationsideologie der
Arbeiterbewegung, die noch kruder und gerade deswegen wirkungsvoller von
ideologischen Theoretikern wie den Linksricardianern oder Lassalle vertreten
wird). Der andere "esoterische" Marx dagegen kritisiert die basale
Fetischkategorie Wert als solche, und aus dieser Sicht erscheint der Mehrwert
erst als die zum dynamischen, selbstdestruktiven System vollendete Gestalt des
Werts selbst; d.h. es kann nicht der Mehrwert im Namen der sozialen Emanzipation
des Proletariats aufgehoben werden, so dass der Wert als ontologische Basis
übrigbliebe, sondern die Aufhebung der negativen Emanzipation in den
objektivierten Gesetzen der Wertverwertung ist identisch mit der Aufhebung der
Wertform selber und als solcher. Denn die "einfache" Wertform ist nur ein
historisches Phantasma der Ideologie; sie wäre real gebunden an die bloße
Nischenexistenz der Warenproduktion auf niedrigem Produktivkraft- und
Bedürfnisniveau, während eine Befreiung vom Zwangsgesetz der Verwertung, die auf
dem erreichten hohen Vergesellschaftungsniveau stattfinden soll, nur durch ein
Aufsprengen der fetischistischen Wertform (d.h. durch die Aufhebung von Ware und
Geld) überhaupt möglich ist.
Vor diesem Hintergrund erscheint auch ein doppeltes Verständnis des
Kapitalbegriffs selbst. Der "exoterische" Marx lässt den monistischen
Kapitalbegriff dualistisch in "an sich" existierende soziale Klassen
auseinanderfallen; er argumentiert durchgehend "soziologistisch". "Das Kapital"
erscheint so zwar als ein "gesellschaftliches Verhältnis", jedoch im
soziologistisch verkürzten Sinne: als das Verhältnis eines sozial dominierenden
Teils der Gesellschaft, der als sogenannte Bourgeoisie ("herrschende Klasse")
das Kapital "ist" oder repräsentiert, gegenüber dem sozial unterdrückten Teil
der Gesellschaft, der als sogenanntes proletariat das Kapital weder "ist" noch
es repräsentiert. Es käme also dieser Diktion zufolge darauf an, den sozialen
"Standpunkt der Arbeiterklasse" einzunehmen, die (spätestens seit Engels und
dann vor allem Lenin) zum mystifizierten Metasubjekt und damit zum Objekt einer
quasi-religiösen (und immer wieder volkstümlerischen) Hingabe und Begierde wird.
Der "esoterische" Marx dagegen hält am monistischen Kapitalbegriff fest, und das
"gesellschaftliche Verhältnis" in diesem Sinne ist ein totales, alle
Gesellschaftsmitglieder in die gleiche Fetischform einschließendes. Die
"Klassen" sind hier nicht mehr voraussetzungslose, an sich seiende
Konfliktsubjekte, sondern nichts als verschiedene Funktionsträger ihrer
gemeinsamen historischen Basisform; und auch die sogenannte Arbeiterklasse "ist"
in diesem Verständnis unabdingbar Bestandteil und Moment des
Kapitalverhältnisses, nicht aber dessen prädestinierter Gegenspieler.
Arbeit als Fetischbegriff
Bis zu diesem Punkt einer theoretischen Entzerrung des "doppelten Marx" ist
die marxistische Schmerzgrenze (und die bürgerlich-moderne Schmerzgrenze
überhaupt) noch gar nicht erreicht. Die Problemstellung einer tatsächlichen
Aufhebung von Ware und Geld mag zwar als "spinnert" betrachtet werden, ist
jedoch in irgendwelchen staatsökonomischen und technokratischen Formen
allenfalls noch denkbar (und sei es in pejorativer Bestimmung). Als
sozialistische Zukunftsvorstellung in diesem verkürzten Sinne "durfte" das
Problem durchaus gedacht, wenn auch meistens in eine sehr ferne Zukunft
wegeskamotiert werden. Die eigentliche ideologische Schmerzgrenze des modernen
Fetischbewusstseins wird erst dann überschritten, wenn die auflösende Kritik das
Allerheiligste zu destruieren beginnt: die "Arbeit" und ihren ontologisierten
Begriff nämlich. An dieser Stelle müssen sich die Geister endgültig scheiden.
Deshalb beginnt erst hier die eigentliche Aufhebung von Marxismus und Marxscher
Theorie. Apodiktisch gesagt: Wer diese Schwelle nicht zu überschreiten vermag,
muss zwangsläufig zurückfallen in das altmarxistische Universum und damit in die
obsolet gewordene bürgerliche Geschichte der Moderne.
Entsprechend schwieriger wird es, auch in diesem Punkt den "doppelten Marx"
auszudifferenzieren. Nicht nur die äußeren Widerstände der an dieser Stelle
endgültig ausflippenden Marxisten werden größer, sondern auch die inneren
Widerstände der Marxschen Theorie selber. Scheinbar durchgängig und lückenlos
verwendet Marx auf den ersten Blick einen ontologischen Arbeitsbegriff. Und doch
ist es wieder nur die "exoterische" Lesart, in der es so erscheint, dass die
Arbeit zum Begriff einer ewigen überhistorischen Daseinsbedingung der Menschheit
wird, die als lediglich usurpatorisch überformt von der Gestalt und von den
Gesetzmäßigkeiten des Kapitals erscheint: eine Argumentation, die noch bis tief
in den "westlichen Marxismus" hineinreicht, am deutlichsten natürlich bei Georg
Lukács, und die namentlich auch von Alfred Sohn-Rethel trotz seiner in anderer
Hinsicht weitreichenden Kritik sogar verschärft wird. Die derart
überinterpretierte Arbeit wird so zum ontologischen Hebel einer vermeintlichen
Aufhebung des Kapitals, und das Trägersubjekt dieser Arbeit zum identischen
Trägersubjekt dieser Aufhebung erklärt (korrespondierend mit der verkürzten,
soziologistisch-dualistischen Auffassung des Kapitalverhältnisses). Aber in
dieser scheinbar glatten Wand der Marxschen Arbeitsontologie (und
"Arbeitsutopie" im Anschluss daran) zeigen sich bei näherem Hinsehen doch
entscheidende Risse, in denen die wühlende Tätigkeit des "esoterischen" Marx
wieder zum Durchbruch kommt.
Wenn sich die beiden Seelen der Marxschen Theoriebrust beim Arbeitsbegriff
besonders innig und zunächst fast ununterscheidbar vermengen, dann aus einem
durchaus historisch-dialektischen Grund. Selbst noch der "esoterische " Marx,
hätte er sich selbst als solcher reflektieren können, hätte Veranlassung zu
einer zwar keineswegs ontologischen, jedoch durchaus historischen Affirmation
der "Arbeit" gehabt; und zwar gerade weil er so gut durch die empirische
Erscheinung hindurchzuschauen vermochte. Niemand hat sich bekanntlich
eindeutiger gegen die ungeheuerlichen Leiden der Entfesselungsgeschichte
abstrakter "Arbeit" empört als Marx. Aber er versuchte diese Leiden dem Begriff
der "Arbeit" akzidentiell zu setzen, weil er die andere Seite desselben
Prozesses, das emanzipatorische und befreiende Moment gegenüber der vormodernen
Unmündigkeit und Bedürfnisarmut, im Unterschied zu den bloß reaktionären
Kapitalismuskritikern nicht aufgeben wollte. Der Systembegriff der "Arbeit", in
deren subjektloser Struktur die Leiden der Modernisierung eigentlich angelegt
sind, diffundiert also bei Marx gewissermaßen notgedrungen stark in Richtung
seines "exoterischen" Doppelgängers, d.h. in Richtung eines reduzierten
soziologistischen Subjektbegriffs, der das Totum der Produktionsweise in
falscher Unmittelbarkeit identifiziert mit dem partikularen Funktionsträger
"Bourgeoisie", die subjektiv für die Systemleiden verantwortlich gemacht wird
("Klassenhass"). Während der Marxismus in dieser Verkürzung aufgeht, lässt Marx
selber sich aber immer wieder zu relativierenden Aussagen hinreißen, die das
partikulare und unselbständige gegnerische Funktionssubjekt gleichsam
entschuldigen: "Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt, der die
Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen
naturgeschichtlichen Prozess auffasst, den einzelnen verantwortlich machen für
Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, so sehr er sich auch subjektiv
über sie erheben mag" (Kapital Bd.1,16)
Diese relativierende Handschrift zeigt sich schon im "Kommunistischen
Manifest", wo dieselbe vordergründig gegnerische "Bourgeoisie" (und mit ihr
indirekt das gemeinsame Bezugssystem des arbeitsgesellschaftlichen
"Fortschritts") geradezu begeistert gefeiert wird: "Die Bourgeoisie hat
enthüllt, wie die brutale Kraftäußerung, die die Reaktion so sehr am Mittelalter
bewundert, in der trägsten Bärenhäuterei ihre passende Ergänzung fand. Erst sie
hat bewiesen, was die Tätigkeit des Menschen zustande bringen kann. Sie hat ganz
andere Wunderwerke vollbracht als ägyptische Pyramiden, römische Wasserleitungen
und gotische Kathedralen, sie hat ganz andere Züge ausgeführt als
Völkerwanderungen und Kreuzzüge... Die Bourgeoise reißt durch die rasche
Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten
Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation"
(Manifest der kommunistischen Partei, 46 f.) Die Rede von der "zivilisatorischen
Mission" des Kapitalismus findet sich bei Marx des öfteren, und der darin
mitschwingende pädagogische Anspruch bezieht sich nicht nur auf die "unmündigen"
außereuropäischen Kulturen, sondern auch auf die vormodernen Strukturen im
Westen selbst.
Die Modelung des menschlichen Subjekts durch diesen "zivilisatorischen
Prozess" ist aber zwangsläufig mit einer Affirmation der "Arbeit" verbunden,
deren Leiden in bloß falsche Adjektive verwandelt werden müssen. Schon der
verächtliche Hinweis auf die angebliche "Bärenhäuterei des Mittelalters" zeigt
die Befangenheit im "protestantischen Ethos" des modernen Arbeitsfetischismus
an. Diese Befangenheit ist bei Marx freilich keine absolute, restlos aufgehende;
er sieht sie vielmehr gerade in ihrer historischen Bedingtheit, wenn er über den
Kapitalismus (durchaus wieder positiv) sagt: "Das Geld als Zweck wird hier
Mittel der allgemeinen Arbeitsamkeit ... So werden die wirklichen Quellen des
Reichtums eröffnet" (Grundrisse, 135) In gewisser Weise affirmiert Marx hier das
"Geld als Zweck" und damit auch die "Arbeitsamkeit", aber nicht in ihrer
erscheinenden Selbstzweckhaftigkeit, sondern sozusagen als bewusstlose
"Pädagogik der Geschichte": Das "Geld als Zweck" wird in einem übergeordneten,
nicht mehr bewusst wahrgenommenen (subjektlosen) Sinne zum "Mittel", eine über
die krude Bedürfnisarmut hinausgehende "Arbeitsamkeit" zu entfesseln, die jedoch
ihrerseits wiederum ein ebenso historisch-bewusstloses "Mittel" ist, "die
wirklichen Quellen des Reichtums" zu öffnen - in all ihrer fetischistischen
Bewusstlosigkeit eine Welt von Anlagen, Bedürfnissen, Möglichkeiten
hervorzubringen (darunter auch die Individualität selbst).
So verstanden, d.h. die "Arbeitsamkeit" nicht im platt protestantischen Sinne
als zwanghafter Selbstzweck festgeschrieben, könnte die logische Konsequenz
eigentlich sein, dass "Arbeit" und ihre Darstellungsform Wert bzw. Geld nach
Erfüllung ("Erledigung") ihrer begrenzten historischen Aufgabe abgestoßen werden
können als jene verfallenden "Mittel", deren eigentlicher Zweck, nämlich die
"wirklichen Quellen des Reichtums" zu erschließen, erreicht ist und sie damit
positiv überflüssig und sinnlos gemacht hat. Tatsächlich ist diese Konsequenz
überraschenderweise schon früh angedeutet, nämlich in der "Deutschen Ideologie",
einem nach langer Archivlagerung 1932 erstmals veröffentlichten
Gemeinschaftswerk von Marx und Engels. Dort heißt es ziemlich eindeutig, "dass
in allen bisherigen Revolutionen die Art der Tätigkeit stets unangetastet blieb
und es sich nur um eine andere Distribution dieser Tätigkeit, um eine neue
Verteilung der Arbeit an andre Personen handelte, während die kommunistische
Revolution sich gegen die bisherige Art der Tätigkeit richtet, die Arbeit
beseitigt(!) ..." (Deutsche Ideologie, 71; Hervorhebung Marx/Engels).
Aus dieser scheinbar ungeheuerlichen Auffassung ergibt sich ein nicht weniger
ungeheuerliches Ansinnen an die "Proletarier": "Während also die entlaufenden
Leibeigenen nur ihre bereits vorhandenen Existenzbedingungen frei entwickeln und
zur Geltung bringen wollten und daher in letzter Instanz nur bis zur freien
Arbeit kamen, müssen die Proletarier, um persönlich zur Geltung zu kommen, ihre
eigne bisherige Existenzbedingung, die zugleich die der ganzen bisherigen
Gesellschaft ist, die Arbeit, aufheben" (a.a.O., 79) Natürlich taten die
"Proletarier" Marx diesen Gefallen ganz und gar nicht. Der Horizont ihres
Verlangens, "persönlich zur Geltung zu kommen", war der historische
Entwicklungshorizont der "Arbeit" selbst. Marx unterläuft hier eine optische
Täuschung, der auch andere Theoretiker der Moderne (z.B. Kant) streckenweise
erlegen sind, und die den Blick der marxistischen Ideologie immer wieder genarrt
hat: Das gerade erst embryonal erscheinen historisch Neue, das in seinem frühen
Erscheinen logisch erfasst werden kann, wird bereits als "fertig" wahrgenommen,
ohne zu realisieren, dass die logische Darstellung und Extrapolation eine
realhistorische Ausentwicklung kurzschlüssig vorweggenommen hat, deren
realgesellschaftlicher Gang natürlich viel langsamer und windungsreicher durch
viele Stadien hindurch verläuft als der schnelle und geradlinige Flug des
theoretischen Gedankens. Tatsächlich steckten die Existenzbedingungen der
"Proletarier" noch tief in erst oberflächlich zersetzten vormodernen Strukturen,
und es bedurfte eben noch der Entwicklungskämpfe von mehr als einem Jahrhundert,
bis das System der "Arbeit" überhaupt in sein Reifestadium treten konnte.
Die "Arbeit" aufheben, ja sie "beseitigen" zu wollen, diese verdächtige
Parole des immer wieder überraschenden theoretischen Stammvaters musste den
selber zutiefst arbeitsfetischistischen marxistischen Epigonen also übel
aufstoßen. Seit die "Deutsche Ideologie" überhaupt veröffentlicht ist, haben
Ideologen der verschiedenen Marxismen versucht, diese anstößigen "Stellen"
wegzuinterpretieren: Marx muss irgendein Attribut vergessen haben, er hat
vielleicht von "Lohnarbeit" oder kapitalistisch bestimmter Arbeit sprechen
wollen usw. Mit anderen Worten: er darf nicht gemeint haben, was er gesagt hat.
Und in der Tat sind diese verdächtigen Aussagen eher beiläufig eingestreut,
keineswegs offensiv herausgearbeitet, denn die Polemik hat ja mit dem deutschen
Idealismus und dessen frühsozialistischen Folgideologien noch ganz andere Ziele
im Vordergrund. So hat der Marxismus sich lieber an jene Aussagen in der
widersprüchlichen Marxschen Theorie gehalten, die eindeutig arbeitsontologisch
klingen: "Als Bildnerin von Gebrauchswerten, als nützliche Arbeit, ist die
Arbeit ... eine von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des
Menschen, ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und
Natur, also das menschliche Leben zu vermitteln" (Kapital Bd.1,57).
Dennoch ist selbst diese Aussage nicht völlig mit der marxistischen
Arbeitsontologie kompatibel. Denn zwar spricht Marx hier, zwanzig Jahre nach der
"Deutschen Ideologie", nicht mehr von einer Aufhebung und Beseitigung der
"Arbeit" und ontologisiert diese Kategorie tatsächlich selber als immer wieder
zitierte "ewige Naturnotwendigkeit". Andererseits aber setzt er sie im
Unterschied zum Marxismus nicht direkt mit dem "Stoffwechselprozess mit der
Natur" gleich. Vielmehr soll sie diesen nur "vermitteln". Vielleicht, so könnte
man schlussfolgern, ist dann bloß der "Stoffwechselprozess mit der Natur" jene
ewige anthropologische Notwendigkeit, während die "Vermittlung" dieses Prozesses
historischen Veränderungen unterworfen ist und die "Arbeit" somit nur eine
bestimmte historische Vermittlungsgestalt darstellt, die weder für alle
Vergangenheit noch für alle Zukunft zwingend ist. Marx zieht diese
Schlussfolgerung nicht; er fühlt wohl, dass ein Bruch mit der Arbeitsontologie
nicht an der Zeit ist und dass die große historische Bewegung, der er sich mit
Recht verpflichtet fühlt, die Arbeiterbewegung, über diesen Schatten noch nicht
springen kann.
In einer anderen Hinsicht bleibt der "esoterische" Marx dem Marxismus
gegenüber freilich hart. Nie hat er sich von der Vorstellung trennen können,
dass die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise identisch sein müsse
mit einer Aufhebung der gesellschaftlichen Warenform, d.h. einer Überwindung der
fetischistischen Geldbeziehung. Der Marxismus hat diese Allüre seines großen
Meisters stets mit Misstrauen, Ablehnung, Vertuschung und Verharmlosung bedacht.
Zwar durfte wie gesagt die Aufhebung der Ware-Geld-Beziehjung (im Unterschied
zur Aufhebung der "Arbeit") durchaus "gedacht" werden; jedoch eben nicht als
ernsthaftes oder gar als praktisches Problem, sondern höchstens als eine
abstrakt-philosophische Zielvorstellung weit jenseits der "sozialistischen" oder
"proletarischen" Revolution. Es ist sogar festzustellen, dass die Thematisierung
dieses Problems noch eher in die Frühzeit des Marxismus fiel, während sie mit
zunehmender historischer Erfahrung der Arbeiterbewegung immer mehr verblasste
und schließlich ganz verschwand, bis hin zur offenen Ablehnung des Gedankens
überhaupt. Die schwachen Konzepte einer "sozialistischen Marktwirtschaft" von
heute sind kaum mehr als die Endmoränen dieses ideologischen Abschwächungs- und
Verdünnungsprozesses.
Hier wird eine eigenartige Verschränkung des historischen
Entwicklungsproblems sichtbar. Marx wollte gegen den Marxismus eine
(halbherzige) Ontologie der Arbeit mit der Aufhebung der Waren- bzw. Geldform
verschwistern. Er behielt damit dem Marxismus gegenüber auf jene esoterische
Weise recht, die in eine noch vor uns liegende Zukunft verweist. Dennoch ist
seine Argumentation paradox, denn "Arbeit" und Warenform/Geld sind nur
verschiedene Darstellungsweisen oder gesellschaftliche Ausdrucksformen eines
Identischen. Der Marxismus behielt insofern seinerseits Marx gegenüber auf eine
historisch begrenzte "realistische" Weise recht, als er dieser Identität
Rechnung trug, damit aber auch seine kapitalistische Immanenz bewies. Der
Marxismus beharrte also in den Gestalten sowohl der westlichen Arbeiterbewegung
als auch des östlichen Staatssozialismus und der südlichen
Befreiungsnationalismen zusammen mit der Affirmation der "Arbeit" in logischer
Folgerichtigkeit auch auf der Fortexistenz von Geldform und Geldlohn. Damit aber
blieb auch die Kapitalform der gesellschaftlichen Reproduktion als solche
außerhalb der theoretischen und praktischen Kritik. Der Kapitalismus sollte im
Grunde genommen nicht durch eine Überwindung der Kapitalform selber abgelöst
werden, was identisch mit einer Aufhebung der "Arbeit" und der totalen
Geldvermittlung wäre, sondern lediglich durch deren Verstaatlichung. Der
Versuch, die unaufgehobenen Funktionskategorien der "Arbeit" dem etatistischen
Kommando zu unterwerfen, konnte jedoch nur unter den Bedingungen "nachholender
Modernisierung" eine zeitweilige und immer prekäre Rationalität gewinnen, um
schließlich am Weltmarkt zu zerschellen.
Der doppelte Begriff der abstrakten Arbeit und die gesellschaftliche
Sphärentrennung
Für Marx muss das immanente Dilemma seiner "doppelten" Argumentation gerade
hinsichtlich des Arbeitsbegriffs stets als bohrender Stachel präsent gewesen
sein, auch wenn er sich dies (Patriarch und Choleriker, der er war) nie
eingestehen mochte. Bei näherer Betrachtung seines Umgangs mit diesem fast
ungreifbar schillernden Problem zeigt sich, dass er sich zur Behebung des
Dilemmas mit einem begrifflichen Trick sozusagen selbst überlistet hat. Denn
eigentlich ist der Begriff der "Arbeit" ohne jedes Attribut, die Abstraktion
"Arbeit" also, bereits der Begriff der warenproduzierenden Produktionstätigkeit.
Die sogenannte Gebrauchswertseite dieser Tätigkeit kann überhaupt nur die
Kehrseite derselben gesellschaftlichen Realabstraktion sein: die Art und Weise
nämlich, wie diese gesellschaftliche Abstraktion sich des sinnlichen Stoffes
bemächtigt und ihn ihrer Form unterwirft. Der "Doppelcharakter der Arbeit"
(Marx) ist nicht ontologisch verankert, er ist seinem Wesen nach der
Doppelcharakter warenproduzierender Verhältnisse. Marx macht nun aus der
stofflichen-sinnlichen Seite der "Arbeit" (und damit aus dem "Gebrauchswert",
der doch nur die stofflich-sinnliche Seite derselben Wertabstraktion darstellt)
einen ontologischen Begriff, der eben jene "ewige Naturnotwendigkeit" sein soll.
Damit wird er kompatibel mit dem immanenten, notwendigen Selbstverständnis der
Arbeiterbewegung.
Um aber andererseits seinen transzendierenden Ansatz zu retten, verdoppelt
Marx den an sich schon abstrakten Begriff der Arbeit noch einmal attributiv,
indem er die spezifisch historische warenproduzierende "Arbeit" von der
ontologischen "Arbeit" abgrenzen will. Der dabei herauskommende berühmte Begriff
der "abstrakten Arbeit" ist eigentlich ein merkwürdiger Ausdruck, eine
rhetorische Verdoppelung, als würde man von einem "abstrakten Grün" sprechen, wo
doch die Bezeichnung von etwas als "grün" an sich schon eine Abstraktion ist.
Marx reißt die Realabstraktion sozusagen auseinander: Ihre Form sei historisch
begrenzt, ihre Substanz oder ihr Inhalt sei ontologisch. So haben wir also
"Arbeit" als ewige Naturnotwendigkeit und "abstrakte Arbeit" als historische
Bestimmung warenproduzierender Systeme. Marx verlängert einerseits die
warenförmige Realabstraktion ins Ontologische, andererseits will er ihren
historischen Charakter und damit ihre Aufhebbarkeit retten. Der
Arbeiterbewegungsmarxismus hat daher mit dem Begriff der "abstrakten Arbeit"
wenig anfangen können und ihn nicht kritisch mobilisiert, sondern sich
stattdessen lieber an ontologischen ("gebrauchswertmäßig" veredelten)
Arbeitsbegriff gehalten, um sich geschichtsphilosophisch zu legitimieren.
Diese Zwiespältigkeit findet sich auch wieder bei der Bestimmung dessen, was
denn nun an der abstrakten Arbeit eigentlich real abstrakt ist. Marx entwickelt
dies hauptsächlich nur nach einer Seite, nämlich nach der Formseite hin: als
reale Abstraktion "vom" stofflichen Inhalt, als Gleichgültigkeit gegen das
sinnliche Moment, dargestellt durch die Wertform und ihre Entfaltung bis zum
Geld, dem "real abstrakten" Ding. Das ist zweifellos von großer Bedeutung. Aber
die warenproduzierende "Arbeit" ist auch noch in einem zweiten Sinne "real
abstrakt", den Marx keineswegs systematisch entwickelt: nämlich in ihrer
Existenz als eine ausdifferenzierte Sphäre, die getrennt ist von Sphären wie
Kultur, Politik, Religion, Erotik usw. oder, auf einer anderen Ebene, auch
getrennt von "Freizeit" (Anklänge an dieses Problem finden sich bei Marx noch
eher in den sogenannten Frühschriften, teilweise in den "Grundrissen"; aber das
zentral ausformulierte Thema von Marx in seiner "Kritik der politischen
Ökonomie" ist immer das Moment der Formabstraktion und nicht das Moment der
Sphärentrennung).
Die Entfaltung und schließlich die volle Entfesselung der Formabstraktion in
der Moderne ist aber nur möglich dadurch, dass die "Arbeit" als diese getrennte,
"real abstrakte" Sphäre ausdifferenziert wird, vom übrigen Lebensprozess
getrennt wird; dass der warenproduzierende Mensch also nicht nur von der
sinnlichen Qualität seiner Gegenstände, sondern in und hinsichtlich der "Arbeit"
auch gleichzeitig von den anderen Lebensmomenten "absieht" (abstrahiert), die zu
funktionalen Sphären jenseits der "Arbeit" geronnen sind. Und diese Trennung
liegt überhaupt der modernen "Sphärentrennung" insgesamt, jener
"Ausdifferenzierung" moderner Gesellschaften zugrunde, von der in der Soziologie
und Systemtheorie dauernd (und natürlich affirmativ) die Rede ist.
Dieses Problem deckt sich außerdem ganz wesentlich mit dem Problem des
modernen Geschlechterverhältnisses. Der tiefste Grund für dieses Ab- und
Ausdifferenzieren von der "Arbeit" getrennter Sphären ist nämlich die
geschlechtshierarchische "Abspaltung" der zugerechneten weiblichen Bereiche, von
der (nicht warenförmigen) "Hausarbeit" bis zur (ökonomisch überhaupt nicht mehr
fassbaren) "Liebe", und erst auf dieser Grundlage kann sich auch das strukturell
"männlich" dominierte Reich der "Arbeit" noch einmal in sich spalten und
ausdifferenzieren, Dieses wesentlich geschlechtshierarische Moment der
Ausdifferenzierung einer real-abstrakten Sphäre der "Arbeit" aber kommt vollends
bei Marx ebenso wenig vor wie bei den Marxisten. Es äußert sich selbst noch in
der "doppelten Vergesellschaftung" von Frauen, wenn diese trotz zunehmender
Berufstätigkeit immer noch auf die Familie bzw. die Kinderbetreuung verwiesen
bleiben (die überwältigende Mehrheit auch der sogenannten Alleinerziehenden sind
Frauen) und wenn weibliche Tätigkeiten im Erwerbsbereich häufig schlechter
bewertet und entlohnt werden.
Im Verlauf des Modernisierungsprozesses erschien dieses
geschlechtshierarchische Strukturverhältnis immer wieder vielfach gebrochen,
ohne je aufgehoben zu werden; dies wäre auch nur möglich zusammen mit einer
Aufhebung der gesellschaftlichen Warenform. Soweit Frauen in der Vergangenheit
erwerbstätig waren, also in die ausdifferenzierte Sphäre der abstrakten "Arbeit"
eintauchten, wurden sie dort gewissermaßen als "Fremdkörper" wahrgenommen weil
ihre "eigentliche" Zuständigkeit immer wieder in Richtung der abgespalteten
Haus- und "Liebes"-Tätigkeiten gedrängt wurde. Derartige Tendenzen sind selbst
heute noch nicht gebrochen, wie die gesellschaftliche Auseinandersetzung in der
Krise der letzten Jahre zeigt ("zurück zur Familie" usw.). Gleichzeitig müssen
Frauen innerhalb der "Arbeits"-Sphäre selber als "männlich" apostrophierte Züge
annehmen, sich also gewissermaßen psychosozial aufspalten: Ein Hinweis darauf,
dass wir es hier nicht mit biologisch fundierten Sachverhalten zu tun haben,
sondern eben mit historischen Zuschreibungen, wie sie in der Abdifferenzierung
der "Arbeit" vom Lebensprozess in der Moderne entstanden sind.
Erst diese basale Abspaltung der als "weiblich" definierten Lebensmomente von
der "Arbeit" macht letztere zur gesonderten Sphäre der "Realabstraktion"
(historisch erscheinend als Auflösungsprozess des "ganzen Hauses"). Und erst
aufgrund dieser elementarer Sphärentrennung wiederum kann das "männlich"
dominierte Reich der abstrakten "Arbeit" sich wiederum selber weiter
ausdifferenzieren und neue getrennte Sphären aus sich heraussetzen wie
"Politik", "Kunst und Kultur" etc. Dieser ganze von der "Realabstraktion"
ausgehende Ausdifferenzierungsprozess getrennter Funktionssphären macht den
entscheidenden Unterschied von Moderne und Vormoderne aus. Die vormodernen
Gesellschaften hatten zwar einen "Stoffwechselprozess" mit der Natur",
selbstverständlich, aber sie hatten keine ausdifferenzierte Sphäre der "Arbeit";
und selbst dort, wo sie Waren produzierten, war diese Produktion noch mit
anderen Momenten verwoben (Religion, Tradition, blutsverwandtschaftlichen und
"Gemeinschafts"-Strukturen usw.) Nicht einmal eine klare Trennung von "Arbeit"
und "Freizeit" kann unter solchen Verhältnissen existieren. Das Problem betrifft
also nicht etwa bloß die Einsichts- oder Verständnisfähigkeit vormoderner
Menschen in etwas, das sie zwar an sich "gehabt hätten" (so das Dogma des
ontologisierenden Arbeitsbegriffs), aber nicht hätten wissen können, sondern es
betrifft ihre realen Verhältnisse: Sie "hatten" die "Arbeit" als besondere
gesellschaftliche Sphäre auch an sich nicht. Ich kann hier nicht weiter auf die
historischen Details und auf den Herausbildungsprozess der "Arbeit" (und
komplementär dazu der abgespaltenen Haus- und Familientätigkeit) in der
Geschichte eingehen; natürlich ist die "Arbeit" nicht auf einen Schlag in der
Renaissance oder im 18. Jahrhundert plötzlich vom Himmel gefallen. Hier geht es
nur um klare analytische Unterscheidungen.
Dass Marx den real abstrakten Charakter der "Arbeit" als einer getrennten,
ausdifferenzierten Sphäre eher vernachlässigt, dass dieses Moment bei ihm eher
implizit erscheint und er im wesentlichen nur die reale Abstraktion der Form
explizit entwickelt und ausformuliert, hat natürlich etwas mit seiner
Verdopplung der "Arbeit" in einen historischen und in einen ontologischen
Begriff zu tun. Die ontologische Bestimmung der "Arbeit" als Substanz oder
Inhalt auf der Gebrauchswertseite der Wertabstraktion, und die damit
zusammenhängende revolutionstheoretische Vorstellung, dass die (im Grunde als
"männlich" gedachte) "Arbeiterklasse" sich des "Gebrauchswerts" bemächtigen
solle, muss die Arbeit als besondere, getrennte Sphäre unangetastet lassen,
zumindest den abgespaltenen, als "weiblich" definierten Bereichen gegenüber. Und
da die Herausbildung dieser Sphäre in der Geschichte gleichzeitig die
Herausbildung des modernen männlichen Selbstbildes darstellt, ist es auch der
Mann Marx, der hier an seiner eigenen patriarchal strukturierten
Bewusstseinsform Schranken findet.
Die Aufhebung der Arbeit
Die Herausbildung der "Arbeit" ist gleichzeitig destruktiv und
fortschrittlich, ihre emanzipatorische Seite darf nicht vernachlässigt werden,
um nicht in eine krude, rückwärtsgewandte Romantik zu verfallen. Trotzdem ist
sie nur ein transitorisches Stadium und muss selber wieder aufgehoben werden.
Aufhebung der "Arbeit" hieße konsequenterweise ihre Aufhebung nach beiden
Momenten der Realabstraktion hin: nämlich Aufhebung als Formabstraktion und
Aufhebung als getrennte Sphäre (was dann gleichzeitig auch die Aufgebung als
getrennte Sphäre (was dann gleichzeitig auch die Aufhebung des "Gebrauchswerts"
wäre). Marx blockiert sich auch hier wieder selber, weil er die Aufhebung nur
halb denken kann und die "Arbeit" als getrennte Sphäre letztlich
geschlechtshierarchisch-identitär ontologisiert; genauer: Diese Ontologisierung
kommt dem implizit durchaus aufscheinenden Gedanken, die Sphärentrennung
aufzuheben, systematisch in die Quere.
Denn die Fixierung auf den "Doppelcharakter der Arbeit", in der die
vermeintliche Befreiung der Gebrauchswertseite als ontologischer Hebel erscheint
(und demzufolge die "Arbeiterklasse" als subjektiv-objektiver Aufhebungsträger
statt als immanente Funktionskategorie), verstellt den Blick auf das Moment der
Sphärentrennung, dessen geschlechtshierarchischer Kern folgerichtig
"ableitungslogisch" auf eine Sekundärebene verbannt (soweit überhaupt erwähnt)
wird. Für ein konsequentes Aufgreifen der Sphärentrennungs-Problematik und das
Denken der Aufhebung von diesem Moment her, was dann die Aufhebung auch der
Formabstraktion überhaupt erst möglich macht, wird aber logischerweise zusammen
mit der ausdiffernzierten Sphäre "Arbeit" auch diese selber und als solche zum
Aufhebungsgegenstand, da ihr Begriff an diesem Charakter als besondere Sphäre
hängt und zusammen mit diesem steht und fällt; und damit würde notwendigerweise
das ganze ontologische Konstrukt in sich zusammenkrachen, einschließlich der
damit verbundenen geschlechtlichen Zwangsidentitäten (auch der
zwangsheterosexuellen Orientierung).
Das Aufhebungsproblem auf der Basis eines ontologischen Arbeitsbegriffs, das
sich auf den geschlechtshierarchisch strukturierten, warenlogisch immanenten
Gegensatz von Gebrauchswert-Substanz ("ewig") und Form ("historisch")
beschränkt, verzweigt sich seinerseits in zwei Argumentationsstränge, die Marx
nur "stellenweise" andeutet und die von den Marxisten je nach Gusto mobilisiert
worden sind. Beide Stränge lassen sich geradezu an idealtypischen Figuren
darstellen. Einerseits entwickelt sich die Vorstellung, eine von ihrer
realabstrakten Form befreite "Arbeit" würde in der sozialistischen
Zukunftsgesellschaft zur "attraktiven Arbeit" werden, zum positiven "ersten
Lebensbedürfnis". Auch wenn die Diskurse sich heute kaum noch auf Marx beziehen,
taucht dieser Gedanke doch in den verschiedensten Verkleidungen immer wieder
auf. Typologisch lässt sich sagen, dass sich dafür eher der "künstlerische" Mann
begeistern kann, der (ohne sich als "Mann" im psychosozialen,
geschlechtshierarchischen Sinne preisgeben zu wollen) seine "weiblichen" Seiten
entdeckt; früher eher eine randständige Boheme -Existenz, ist er heute in der
kasinokapitalistischen "Erlebnisgesellschaft" häufiger anzutreffen. Für diesen
Künstler-Arbeiter bleibt die Frau dennoch letztlich Gegenstand und Natur. Er
nähert sich dem Aufhebungsproblem durchaus, aber auf eine paradox zurückgebogene
Weise, so dass die "Aufhebung" eigentlich keine sein darf und deswegen nur in
der Form einer attributiven Veredelung der "Arbeit" erscheinen kann.
Die kapitalistische Inflationierung des Arbeitsbegriffs (Beziehungsarbeit,
Trauerarbeit usw.) wird daher positiv aufgenommen, "Arbeit" soll zur Kunst, zum
Genuss usw. werden. Die "Arbeit", als ontologische Bestimmung unaufhebbar
gemacht, soll also in ihrer kapitalistischen Form nur insofern "aufgehoben"
werden, als sie verallgemeinert und totalisiert wird unter Einschluss der
künstlerischen und wissenschaftlichen Momente, um gerade dadurch "attraktiv" zu
werden. Nur in diesem geradezu perfiden Sinne scheint dann auch eine Aufhebung
der Sphärentrennung auf: nicht als Wiederzurücknahme der "Arbeit" auf höherer
Entwicklungsstufe in den gesellschaftlich-menschlichen Lebensprozess, sondern
umgekehrt als ihre endgültige Usurpation der Lebenstotalität, freilich unter
"Totschweigen" des dunklen, als "weiblich" definierten und abgespaltenen
Kontinents der Reproduktion, dessen fatale Existenz sich diesem
arbeitsfetischistischen Totalisierungskonstrukt sperrt. Negiert wird nicht die
patriarchal-okzidentale Arbeits-Identität überhaupt, sondern nur die evidente
Schmachgestalt des kapitalistisch ausgebeuteten unmittelbaren Produzenten: Alle
Arbeits-Männer sollen Arbeits-Supermänner werden dürfen. An die Stelle des
negatorischen Moments einer Aufhebung der Arbeit als solcher tritt das
identifikatorische Moment eines "substantiellen Zusichselbstkommens" der Arbeit
- Befreiung der Arbeit statt Befreiung von der Arbeit.
Andererseits entwickelt sich die Vorstellung, die "Arbeit" würde in der
sozialistischen Zukunftsgesellschaft als eine Art Residuum der "Notwendigkeit"
zurückbleiben, eben als das berühmte "Reich der Notwendigkeit", auf dem sich
aber dann ein "Reich der Freiheit" jenseits der "Arbeit" entfalten könne. Also
hier plötzlich keine positive, sondern eine negative Ontologie der Arbeit,
nämlich die ewige Naturnotwendigkeit des psychischen und sozialen Leidensmoments
an der Arbeitswelt, das reduziert, aber nicht aufgehoben werden könne. Hier
erscheint das patriarchal-"männliche" Selbstbild der Moderne gewissermaßen als
Festhalten an diesem Leidensmoment, das der "Held der "Arbeit" (ähnlich dem
christlichen Leidensfürsten) geradezu für sich in Anspruch nimmt, um es
gleichzeitig zu kompensieren durch ein phantasmatisches "Reich" jenseits der
"Arbeit", in dem sich die ordinäre "Freizeit" ebenfalls zu einer Art heldischer
Supertätigkeit veredelt (also im Grunde genommen die "Arbeit" gar nicht
aufgehoben, sondern nur in anderer Gestalt fortgesetzt wird). Dafür vermag sich
vor allem der Typus des "Machers", der starrgesichtige Mann, der homo faber, der
Technokrat und Szientist zu - "begeistern" wäre zuviel gesagt, denn seine
Emotionen laufen grundsätzlich auf Sparflamme; er besitzt ungefähr die
Leidenschaftlichkeit eines Taschenrechners.
Einem Begriff von "Arbeit" als Spiel oder Kunst etc. steht dieser Typus (der
wohl in der alten Arbeiterbewegung häufig anzutreffen war) eher misstrauisch
gegenüber, und er wäre gerade deswegen vielleicht durchaus dazu bereit, das
"Reich der Freiheit" als ein Jenseits der "Arbeit" zu "definieren", aber eben in
jenem schiefen Sinn ihrer freigesetzten Verlängerung über die starre
"Notwendigkeit" hinaus. Allerdings ist dies eher weniger sein Reich, auch wenn
er sich mit einer gewissen Höflichkeit darauf bezieht; soweit er sich selber in
diesem Reich vorzustellen vermag, geschieht dies wohl eher in einem traditionell
bildungsbürgerlichen Sinne (als Verallgemeinerung der Hausmusik, des
Museumsbesuchs etc.) oder andererseits als immer noch protestantisches Ethos des
andauernden Erfindens, Komponierens, Bauens, Malens usw. Sein eigentliches ein
und alles, auch wenn er sich dies nicht selber einzugestehen vermag, ist und
bleibt aber in Wahrheit das Reich der Notwendigkeit, die Lust der
Selbstunterwerfung unter das abstrakt herauspräparierte Leidensmoment als "Held
der (vermeintlichen) Notwendigkeit". Das "Reich der Notwendigkeit" muss also bis
ans Ende aller Tage dauern. Hier bleibt noch zuletzt die individuelle
Zurechenbarkeit wichtig, aber weniger als veredelter Werktätigenstolz als
vielmehr in einem dürren abrechnungstechnischen Sinne: "jedem nach seiner
Leistung". Der stocknüchterne und berechnende Geist des häuslebauenden
Mittelstands, der jedem unnützen Exzess abhold ist, pocht auf eine anständige
"gesellschaftliche Rechnungsführung" und Leistungsabrechnung, die niemandem ein
Stück Brot zuviel gönnt.
Auch bei Marx tauchen beide Momente dieser verkürzten arbeitsontologischen
"Aufhebungs"-Vorstellung auf (die komplementär sind, aber durchaus auch in
Widerspruch zueinander treten können), ohne dass sie wie gesagt systematisch
ausformuliert wären. Beide Aufhebungsbegriffe kommen nicht grundsätzlich an das
Problem einer Aufhebung der "Arbeit" als getrennte Sphäre heran, und gerade das
Problem der geschlechtshierarchischen Abspaltung bleibt notwendigerweise in
diesem Kontext völlig "unvermittelt". Die Vorstellung von der "attraktiven
Arbeit" möchte bloß die gewöhnliche Erwerbsarbeit mit den Elementen der
"gehobenen" Arbeit des Künstlers, Theoretikers etc. anreichern. Das ewige
Faszinosum der Renaissance-Künstler also, die Selbstübergipfelung des
"männlichen Anspruchs: jeder Mann ein kleiner Leonardo da Vinci, gleichzeitig
genialer Wissenschaftler, tiefgründiger Philosoph, begnadeter Maler und
möglichst vielleicht auch noch Zehnkämpfer. Diese Imagination, die aus der
abstrakten "Arbeit" als solcher folgt, bleibt selbst dann noch wirksam, wenn
Frauen eigene "Karrieren" im männlich dominierten "Arbeits-Universum
durchlaufen. In dieses unaufgehobene, veredelte Universum kann die
"Gleichberechtigung" durchaus kurzschlüssig und formal hineingedacht werden,
unter Ignoranz den ebenso unaufgehobenen abgespaltenen Bereichen und Momenten
gegenüber (die sich aber natürlich real schmerzhaft bemerkbar machen).
Diese falsche, patriarchal-bürgerliche Imagination des zukünftigen Super- und
Edelarbeiters vergisst dabei völlig, dass die "Attraktivität" von Tätigkeit
nicht in der Verfeinerung und Vergoldung männlicher Selbstherrlichkeit liegt
(und auch nicht in der gnädigen Aufnahme der "Weiber" in dieses männlich
ausgeheckte Arbeitsparadies), sondern gerade in deren Aufhebung, in der
Aufhebung einer wechselseitig ausschließenden menschlichen Beziehungsform. Das
wesentliche ist nicht die bloß anspruchsvolle Veredelung der unmittelbaren
Tätigkeit, sondern die Herstellung befriedigender menschlicher Beziehungen in
allen Tätigkeiten, und das heißt die Reintegration der "abgespaltenen" Bereiche
auf höherer Entwicklungsstufe: die Entwicklung einer Kultur, in der
gesellschaftliche Produktion und Erotik ebenso wenig getrennt sind wie
"Freiheit" und "Notwendigkeit", Philosophie und Alltag usw. ( und in der sich
demzufolge auch eine andere Naturbeziehung entwickelt, in der die Natur nicht
auf eine tote Gegenständlichkeit "männlicher" Selbstverherrlichungs"arbeit"
reduziert wird). Indem die "Arbeit" als getrennte Sphäre verschwindet, wird sie
als solche aufgehoben.
Ansätze für ein solches Denken finden sich gewiss eher in der Geschichte des
künstlerischen Typus, d.h. in der ersten falschen Aufhebungsvariante, in der die
"Arbeit" als Spiel und Kunst "attraktiv" werden und also eigentlich keine
"Arbeit", d.h. keine getrennte Sphäre der "Realabstraktion" mehr sein soll.
Dieser Ansatz zeigte sich schon in der Frühromantik, die keineswegs im bloßen
"Irrationalismus" aufgeht. Unter den Utopisten war es Fourier, der die "Arbeit"
geradezu erotisieren wollte, aber eben nicht als "Erotik des Leidens", sondern
eher in einem durchaus hedonistischen Sinne für beide Geschlechter. Kein Zufall
ist es sicher, dass sowohl bei den Frühromantikern als auch bei Fourier die
Emanzipation der Frau als Problem eine unverhältnismäßig größere Rolle gespielt
hat als bei anderen zeitgenössischen Theorien und Strömungen. In diesen Wein hat
freilich die Frauenforschung inzwischen etlichen Essig gießen müssen, indem sie
das gebrochene Verhältnis gerade der Frühromantiker dem zugeschriebenen
"Weiblichen" gegenüber nachwies. Die mangelnde (historisch noch beschränkte)
Aufhebungsqualität dieser Gedanken korrespondiert mit dem Festhalten am
Arbeitsbegriff. Fourier, obwohl Marx natürlich analytisch und theoretisch
ansonsten weit unterlegen, kommt mit seiner Variante der "attraktiven Arbeit",
die mit Spiel, Erotik usw. durchsetzt eigentlich schon keine "Arbeit" mehr ist,
sogar an diesem Punkt noch näher an die Aufhebung der getrennten Sphären heran
als Marx, obwohl auch er die entscheidende Schwelle noch nicht überschreitet
(und bei ihm protestantische und hedonistische Momente unentwirrbar miteinander
verschlungen sind, was oft in Gestalt krauser Gedanken und Phantasien
erscheint).
Marx sperrt sich sogar, hier wieder ganz "protestantisch", ausdrücklich gegen
den noch unklaren weitergehenden Aufhebungsansatz von Fourier: "Die Arbeit kann
nicht Spiel werden, wie Fourier will, dem das große Verdienst bleibt die
Aufhebung nicht der Distribution, sondern der Produktionsweise selbst in höherer
Form als ultimate object ausgesprochen zu haben" (Grundrisse, 599). Gerade hier
wäre es aber angemessen, den in Metaphern gekleideten Gedanken Fouriers
weiterzuentwickeln im Sinne einer Aufhebung der Getrenntheit von "labor" und
Genuss, von Aktivismus und Kontemplation usw., und damit eben einer Aufhebung
der "Arbeit" selber. Marx, der doch sonst das "Geniale" bei den Utopisten so gut
und verständnisvoll zu entdecken und aufzunehmen vermag, stolpert hier allzu
verräterisch über den Begriff des "Spiels", den er sofort abwehrt für eine so
(protestantisch) ernsthafte Angelegenheit wie die "Arbeit".
Damit erledigt sich auch die zweite verkürzte und arbeitsontologische
Aufhebungs-Vorstellung. Denn das "Reich der Notwendigkeit" wird keineswegs
allein durch technologische Fortschritte minimiert, während es "an sich"
unaufhebbar bliebe, sondern es wird dadurch real aufgehoben, dass die Momente
des "Notwendigen", das vermeintliche Residuum von "labor", ihre geschichtlich
herausgebildete, abgetrennte Sonderexistenz auf höherer Entwicklungsstufe wieder
verlieren. Im Kontext einer nicht mehr arbeitsontologisch fixierten Kultur und
befriedigender Sozial- und Geschlechtsbeziehungen können sogar Tätigkeiten, die
als abgetrennte (eingesperrt in eine abstraktifizierte Sondersphäre, sei es die
häusliche Liebes"arbeit", sei es die öffentliche Erfolgs"arbeit") nichts als
"labor" im ältesten Sinne wären, selber "attraktiv" sein. Der selbstherrliche
Mann, der schon eine Zukunftsgesellschaft "attraktiver Arbeit" von lauter
Superkünstlern und Superwissenschaftlern heraufziehen sieht, möchte die
schmutzigen Windeln vielleicht bis ans Ende aller Tage der "weiblichen Natur"
überlassen. Oder hofft er auf die vollautomatische Scheißeausputzmaschine?
Die Minimierung des Leidensmoments in der gesellschaftlichen Reproduktion
durch die Potenzen der Produktivkraftentwicklung (die in kapitalistisch
verkehrter Form erscheint) ist und bleibt zwar wichtig für die Aufhebung der
"Arbeit". Mikroelektronische Revolution, Automatisierung usw. sind dabei
unverzichtbare Voraussetzungen. Dennoch wäre die Reduktion des
Aufhebungsgedankens auf dieses Moment unzulässig, und der Vorwurf ist
berechtigt, dass eine solche Reduktion einem technizistischen,
wissenschaftsgläubigen Produktivkraft-Fetischismus huldigt, der selber noch dem
Universum der "Arbeit" entspringt. Ein bloß abstrakter (und verantwortungsloser)
Hedonismus, der aus einer solchen Verkürzung folgen kann, ist heute schon als
kapitalistisch immanenter Konsumfetischismus vermasst und stellt nur die
Kehrseite des Produktivkraft-Fetischismus dar. Es handelt sich dabei um eine
bloß abstrakte, unvermittelte Negation der "Arbeit", die sich auch um das
Problem der Formaufhebung von Ware und Geld nicht zufällig herumlügt und
vorderhand sich nur durch die monetären Wucherungen des "fiktiven Kapitals" in
wenigen Reichtumsinseln der Welt halten kann. Eine tatsächliche Aufhebung der
"Arbeit" kann sich nicht auf die technologischen Voraussetzungen beschränken.
Die Mikroelektronik hebt nicht unmittelbar und als solche die "Arbeit" auf,
sondern das entscheidende Problem ist die Aufhebung der menschlichen
Beziehungsformen, wie sie durch das System der "Arbeit" historisch gesetzt
worden sind.
Zu dieser vermittelten, in sich reflektierten, menschlichen (nicht bloß
technologischen) Aufhebung gehört vor allem auch die Einsicht, dass es weder
möglich noch wünschenswert ist, alle Reproduktionsfähigkeiten technologisch zu
automatisieren und womöglich gar die menschlichen Beziehungen selber im
technologischen Apparat verschwinden zu lassen (also "Aufhebung" in eine Art
Cyber-Welt; eine Horrorvision, die selber nur die kapitalistische Vereinzelung
der abstrakten Individuen bis ins Groteske verlängert). Dazu gehört ferner auch
die Einsicht, dass es nicht allein um eine Aufhebung geht, die den (westlichen)
Aktivismus von seiner abstraktifizierten Form befreit, sondern auch um die
Befreiung von diesem unaufhörlichen und zwanghaften Aktivismus selbst, der
ebenfalls eine genuine Ausgeburt des modernen "Arbeits"-Universums ist. Das
krisenhafte, transformatorische Moment der über die "Arbeit" hinausschießenden
Produktivkraftentwicklung führt erst dann zur Aufhebung der "Arbeit", wenn diese
als getrennte Sphäre aufgehoben und die Art und Weise der menschlichen
Beziehungsformen auch im Mikrobereich transformiert wird.
Es werden keine übergeschnappten Supermänner und Ehrgeizlinge mit
halbverrückten Selbstbildern sein, von denen die Wertvergesellschaftung
aufgehoben wird, sondern ganz gewöhnliche Menschen, die ihr ganz gewöhnliches
Leben zusammen mit anderen leben und sich ihre Gedanken über die Welt machen
wollen, ohne dauernd von abstrakten Zumutungen, Anforderungen und Überansprüchen
umzingelt zu sein, ohne sich andauernd beweisen und selbstbestätigen zu müssen.
Das Reich der Notwendigkeit wird in erster Linie dadurch aufgehoben, dass die
soziale und geschlechtshierarchische Abspaltung mit ihren sämtlichen zwanghaften
Zuschreibungen aufgehoben wird. Dafür ist zwar ein bestimmter Grad der
Produktivkraftentwicklung nötig, der heute längst erreicht und überschritten
ist. Aber nicht unmittelbar verschwindet das Reich der Notwendigkeit durch bloße
Minimierung des menschlichen "Arbeitsaufwands", sondern erst vermittelt durch
die aufgrund dieser Entwicklung der Produktivität mögliche Reintegration der
abgespaltenen Bereiche auf hohem Niveau der Vergesellschaftung und der
Bedürfnisse.
In freilich oft verzerrter und verkürzter Weise erscheint dieses Problem
sogar in der aktuellen Gewerkschaftsdebatte, in der teilweise die Fixierung auf
den systemimmanenten (und in der Krise nicht mehr verlängerbaren) Lohn- bzw.
Betriebskampf kritisiert und die Einbeziehung anderer Bereiche (Schule,
Kindererziehung, Stadtteilprobleme etc.) gefordert wird. Im Marxschen Horizont
ist diese Integration (z.B. als "polytechnische Erziehung" etc.) noch eindeutig
vom Arbeitsuniversum her gedacht, in das die geschlechtsspezifisch abgespaltenen
Lebensmomente bestenfalls mechanisch aufgesaugt werden sollen (was praktisch gar
nicht geht).
Das Ende des Leistungswahns
Allerdings lässt sich die Rede vom "arbeitszeit-ökonomischen" sogenannten
Reich der Notwendigkeit heute auch immanent kritisieren. Hier spielen die
mikroelektronische Revolution und ihre Folgen wieder eine entscheidende Rolle.
Denn die kapitalistische Produktivkraftentwicklung und die daraus heute mit
Händen zu greifende Krise der "Arbeitsgesellschaft" hat das Reich der
Notwendigkeit selbst in jenem kruden technokratischen Sinne von
Leistungszurechnung bereits innerhalb des kapitalistischen Prozesses selber ad
absurdum geführt. Wichtig ist heute nicht mehr die individuelle bzw.
"betriebliche" Leistung und deren Zurechnung, sondern die gesellschaftliche
Kontrolle des längst verselbständigten technologisch-wissenschaftlichen
Ressourcen-Einsatzes, und dieser Tatbestand steht in krassem Widerspruch nicht
nur zur betriebswirtschaftlichen Rationalität, sondern auch zu deren
"sozialistischer" Verlängerung. Marx konnte sich nicht vorstellen, dass die
Parole des "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung" schon
unterhalb der Schwelle seines "Sozialismus" obsolet werden würde. Auch deswegen
machte er seine Zweiteilung sowohl in Notwendigkeit und Freiheit als auch in
eine "niedere" und eine "höhere" Stufe des Kommunismus. Für ihn war die
Transformation des Kapitalismus selber noch eine Angelegenheit "innerhalb" des
Horizonts der Arbeitsgesellschaft. Das entspricht seinem realen historischen
Standort (ist ihm also nicht vorzuwerfen), aber dieser Horizont ist heute
bereits objektiv überschritten.
Damit ist auch eine weitere Zwiespältigkeit bei Marx auflösbar geworden. In
der "Kritik des Gothaer Programms" spricht er einerseits davon, dass bereits in
der "niederen" Phase des Kommunismus "kein Austausch mehr" (kein Warentausch)
stattfinden könne; andererseits jedoch redet er im Zusammenhang mit den
"Muttermalen der alten Gesellschaft" davon, dass die Abrechnung und Zurechnung
der individuellen Leistung auf absehbare Zeit weiterhin bestehen bleiben müsse.
Und an anderer Stelle ist die Rede von der Weiterexistenz der "Wertbestimmung"
im Sinne einer gesellschaftlichen Arbeitszeitrechnung: alles "Stellen", auf die
sich der Marxismus mit großem Eifer legitimatorisch und arbeitsontologisch
bezogen hat. Hier wird schon sichtbar, dass Marx sich in einen Widerspruch
verwickelt aufgrund seiner historischen Scharnierstellung zwischen immanenter
Modernisierungs- und transzendierender Aufhebungstheorie. Zwar ist es rein
theoretisch vorstellbar, dass mit einem riesigen Aufwand an Rechenzeit mittels
Computern eine direkte Arbeitszeitrechnung heute möglich wäre, aber
ironischerweise ist das Problem gerade aufgrund dieser Möglichkeit (d.h. des
Grades an Verwissenschaftlichung) gegenstandslos geworden. Wenn nicht mehr die
Verausgabung von abstrakt menschlicher Arbeitskraft die Reproduktion des
Notwendigen trägt, sondern im Gegenteil immer mehr überflüssige und
gemeingefährliche "Arbeit" eigentlich stillzulegen wäre, dann wird eine
gesellschaftliche "Arbeitszeitrechnung" absurd.
In der Vergangenheit, als der Horizont der "Arbeitsgesellschaft" noch nicht
überschritten war, musste das Postulat einer von der Formabstraktion des Werts
befreiten "direkten" Arbeits(wert)-Rechnung eine prekäre Utopie bleiben (auch
wenn Schumpeter sie für logisch möglich hielt). Solange die menschliche
Arbeitskraftverausgabung weiterhin den Horizont gesellschaftlicher Reproduktion
ausfüllte, konnte der riesige Abrechnungsmodus nur in Gestalt einer ebenso
riesigen Abrechnungs- und Zuteilungsbürokratie gedacht werden, also etatistisch.
Der "Stalinismus" hat diese Vorstellung übernommen, aber ihr selber keineswegs
entsprochen, da die Sowjetunion sehr schnell wieder zur Wertform und damit
Geldvermittlung überzugehen genötigt war. Völlig zu Recht verblasste die Utopie
direkter Arbeitszeitrechnung; die Ontologie der Arbeit zieht folgerichtig und
auch der Form nach die Ontologie des Werts (der gesellschaftlichen Warenform)
nach sich. Das Problem muss unter den heutigen Bedingungen völlig anders
gestellt werden, jenseits der "Arbeit" und erst dadurch jenseits des Werts, d.h.
aber auch jenseits des abstrakten, selbstzweckhaften Leistungswahns der
Moderne.
Die weiteren Konsequenzen kann ich hier nur noch kurz streifen. Wie eine
"naturwissenschaftlich" begründete Ontologie des Geschlechterverhältnisses mit
einer Ontologie der "Arbeit" korrespondiert und diese zwangsläufig in eine
Ontologie des Werts mündet (und sei es in diejenige einer "direkten
Arbeitszeitrechnung"), so resultiert daraus auch eine Ontologie des Subjekts
(d.h. des warenförmigen Erkenntnis- und Handlungs-Ensembles) und eine verkürzte,
beschränkte Krisentheorie. Der Arbeiterbewegungsmarxismus hält am
aufklärerischen Subjektbegriff fest, dessen "zweiter Durchgang" er nur ist, und
wie er "Arbeit" und Wert nicht aufheben will, so will er das "Subjekt der
Arbeit", das einer naturwissenschaftlich objektivierten Natur gegenübertritt,
zwar "befreien" (nämlich von den Formzwängen des Kapitals), es aber ebenso wenig
aufheben. Und weil das alles so ist, deswegen "darf" natürlich das Kapital in
seinem historischen Prozess nicht die "Arbeit" und damit sich selbst ad absurdum
führen, und schon gar nicht "hinter dem Rücken" aller Beteiligten.
Hinter der teils herablassenden, teils wütenden Kritik an jeder Theorie einer
absoluten Schranke des Kapitals (bzw. an der Prognose, dass diese Schranke unter
unseren Augen erreicht wird) steht keineswegs bloß dieser oder jener empirische
Einwand, sondern vielmehr der marxistische Grundsatz, dass nicht sein kann, was
nicht sein darf, also eine zutiefst ideologische Figuration. "Das Kapital" muss
an sich ewig (oder zumindest noch für "Jahrhunderte") ausbeutungsfähig bleiben,
erstens damit nicht mit ihm zusammen das historische Terrain der "Arbeit"
verlassen und deren Ontologie falsifiziert wird, und zweitens damit das "Subjekt
der Arbeit" sich zur selbstbefreienden Selbstherrlichkeit erheben kann und nicht
zusammen mit dem "Kapital" (als dessen immanentes Moment es dann enttarnt wäre)
selber im Orkus der Geschichte verschwinden muss. Daher eigentlich der Hass
gegen die Zusammenbruchstheorie.
Für ein postmarxistisches Bewusstsein, das als gesellschaftliches erst noch
zu gewinnen ist, fällt dagegen die Befreiung des "esoterischen"
fetisch-kritischen Marx von seinem "exoterischen" Doppelgänger in eins mit der
Theorie einer absoluten Schranke des globalisierten Kapitals, mit der Aufhebung
von Wert - Ware - Geld, mit der Aufhebung des warenfetischistisch konstituierten
Geschlechterverhältnisses und mit der Aufhebung der "Arbeit" in allen ihren
Ausgeburten. Das Resultat wäre eine Aufhebung der ausdifferenzierten
Sphärentrennung der modernen Gesellschaft, in der das Individuum nur noch
Schnittpunkt zahlreicher Funktionsmomente und eben deswegen abstrakt ist. Nur
hier liegt der Ansatz für eine Aufhebung der Marxschen Theorie in ihrem eigenen
Geiste.
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