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Claus Peter Ortlieb


Preprint 22.04.06
Erscheint in: Thomas Dürmeier, Tanja v. Egan-Krieger, Helge Peukert (Hg.):
Die Scheuklappen der Wirtschaftswissenschaft. Postautistische Ökonomik für eine pluralistische Wirtschaftslehre
ca. 250 Seiten · 19,80 EUR, Metropolis-Verlag, Marburg (September 2006)

Mathematisierte Scharlatanerie

Zur 'ideologiefreien Methodik' der neoklassischen Lehre

Claus Peter Ortlieb

Unter allen in der Wissenschaftsgeschichte entwickelten Methoden erscheint uns die mathematisch-naturwissenschaftliche als die erfolgreichste. Erprobt an der neuzeitlichen Physik, hat sie seit Beginn des 20. Jahrhunderts auf breiter Front Einzug in fast alle Wissenschaften gehalten, so auch in die Wirtschaftswissenschaft. Die bloße Verwendung von Mathematik wird als ein Garant für Wissenschaftlichkeit und 'Ideologiefreiheit' genommen. Diese Sicht allerdings beruht auf einem Kurzschluss: Weil die mathematische Naturwissenschaft Erfolg hatte, müssten andere Wissenschaften nur ihre Methode adaptieren, um 'wissenschaftlich' zu sein. Um zu sehen, dass der damit unterstellte Automatismus offensichtlich nicht funktioniert, genügt ein methodisch geschulter Blick in irgendeines der gängigen, mithin neoklassischen Lehrbücher der Volkswirtschaftslehre.

Ein Beispiel: Die neoklassische Erklärung der Arbeitslosigkeit

Grafik1

Abbildung 1: Neoklassische Erklärung der Arbeitslosigkeit

Diagramm und zugehörige Argumentation beruhen auf einem mathematischen Modell, dem zu Folge Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage Funktionen allein des Lohnsatzes W seien, erstere monoton wachsend, letztere monoton fallend. Eine Begründung dafür, dass dieses Modell die Situation auf dem Arbeitsmarkt angemessen beschreibt, entfällt und wird durch das (implizite) Postulat ersetzt, dass nicht nur der Arbeitsmarkt, sondern jeder partielle Markt den Mechanismen dieses Modells als einer Art 'universellem Marktgesetz' unterworfen ist. Eingeführt wird das Modell unter sehr speziellen – um nicht zu sagen: irrealen – Annahmen im Zusammenhang mit Gütermärkten2, ein Zusammenhang, der dann schnellstmöglich ebenso wie die speziellen Annahmen vergessen wird. Es ist so, als würden Physiker das Fallgesetz („Im Vakuum fallen alle Körper gleich schnell“) nicht nur seiner essentiellen Voraussetzung (Vakuum) entkleiden, sondern auch noch auf ganz andere Situationen übertragen, um dann fröhlich zu folgern: „Alle Vögel fliegen gleich schnell“.

Tatsächlich sind die Modellannahmen insbesondere für den Teil des Arbeitsmarkts, um den es hier allein gehen kann, nämlich den Niedriglohnbereich, alles andere als plausibel, so etwa – um nur eine zu nennen – die eines monoton wachsenden Verlaufs der Angebotsfunktion: Wer 40 Stunden in der Woche für einen Stundenlohn von 8 Euro arbeitet und den wöchentlichen Lohn von 320 Euro zum (Über)leben dringend braucht, der wird bei einer Absenkung des Stundenlohns auf 6 Euro nicht weniger, wie vom neoklassischen Modell unterstellt, sondern mehr arbeiten wollen, damit das nötige Geld zusammen kommt. Das wird in einer anderen Abteilung der Neoklassik, der Theorie des nutzenmaximierenden Haushalts nämlich, immerhin konzediert3, doch, da es hier nicht in den Kram passt, sogleich wieder vergessen. „Was schert mich mein dummes Geschwätz aus dem letzten bzw. nächsten Kapitel?“ Eine konsistente Theorie sieht anders aus. Ohne den hier ad hoc vorausgesetzten monoton steigenden Verlauf der Angebotsfunktion wäre es immerhin möglich, dass das Arbeitsangebot bei jedem Lohnsatz über der Arbeitsnachfrage liegt, ein Gleichgewicht und damit Vollbeschäftigung also überhaupt nicht existiert, vgl. Abbildung 2.

Grafik2

Abbildung 2: Arbeitsmarkt, ausgeblendeter Fall 

Gleichgewichtsdogma und neoklassische 'Methodik'

Das hier dargestellte, allen wissenschaftlichen Standards Hohn sprechende Beispiel mag besonders krass erscheinen, ist aber keineswegs ein einmaliger Ausrutscher, sondern lässt sich fast beliebig durch weitere ergänzen.4 Das ist nicht besonders überraschend, handelt es sich doch bei den auftretenden methodischen Fehlern um zwangsläufige Folgen der neoklassischen Herangehensweise, ihrem 'Paradigma' oder besser gesagt Dogma, welches lautet:

  • Alle Märkte (Güter-, Dienstleistungs-, Arbeits-, Geldmärkte) sind, von zeitlich kurzen Störungen abgesehen, ständig im Gleichgewicht. Indem sie über die Anpassung der Preise einen Ausgleich zwischen den in der Wirtschaft wirkenden Kräften herstellen, sorgen sie für die Übereinstimmung von Angebot und Nachfrage.
  • Und im Umkehrschluss: Sind empirische Märkte dauerhaft nicht im Gleichgewicht, so kann das nur durch marktfremde Einflüsse verursacht worden sein.

Gegen empirische Falsifikation ist solcherart 'Methodik' durch den zweiten Teil des neoklassischen Gleichgewichtsdogmas immunisiert: Wann immer die Wirklichkeit zur reinen Lehre in Widerspruch gerät, liege das eben daran, dass dem freien Spiel der Marktkräfte nicht genügend Raum gegeben wurde.

Die angeblich 'ideologiefreie Methodik' erweist sich so als das direkte Gegenteil: Eine Harmonielehre des Marktes wird gegen alle Krisenerscheinungen der kapitalistischen Produktions- und Wirtschaftsweise5 zum Dogma erhoben und anschließend in mathematische Form gegossen, wobei die Mathematik aber nicht – wie in den Naturwissenschaften – als Erkenntnisinstrument, sondern als eine Art Trickspiegel dient, um dem geneigten Publikum vorzugaukeln, hier würde Wissenschaft betrieben.

Die weitergehende und umstrittene Frage, welche Relevanz Mathematik und mathematische Modellierung in der Gesellschaftswissenschaft überhaupt haben kann, ist davon nicht berührt. Sie lässt sich am Beispiel der Neoklassik nämlich gar nicht sinnvoll erörtern, denn dazu müsste dort Modellbildung in methodisch sauberer Form erst einmal betrieben werden.

Post-autistische Wirtschaftswissenschaft?

Angesichts dieses Befundes ist es für Außenstehende wie mich frappierend, dass es sich bei dem in Rede stehende Gebilde nicht um einen kleinen esoterischen Seitenzweig der Wirtschaftswissenschaft handelt, wie ihn sich jedes Fach leisten darf (vielleicht kommt ja doch mal was dabei heraus), sondern um den breiten Mainstream, der über den einschlägigen Stellen- und Büchermarkt bestimmt. Letztlich hat hier, indem es die neoklassische Lehre zur herrschenden machte, ein Fach seinen Gegenstand aufgegeben, ein Vorgang, der in der Wissenschaftsgeschichte seinesgleichen wohl vergeblich sucht.

Die Wirtschaftswissenschaft müsste ihren Gegenstand erst wieder gewinnen, oder anders gesagt: sie müsste eine Wissenschaft erst noch (oder wieder) werden. Offenbar ist diese nicht ganz neue Erkenntnis einer der Ursprünge der post-autistischen Ökonomik. Nur greift es dann zu kurz, wenn in manchen ihrer Gründungsdokumente bloß wissenschaftlicher und methodischer Pluralismus eingefordert wird, der ja nur darauf hinauslaufen kann, in Form einer Art von 'Artenschutz' anderen Ansätzen als dem herrschenden ihre Nischen zu erhalten, ohne dass wirklich eine Auseinandersetzung mit der zur Methodik aufgeblasenen Scharlatanerie stattfindet, die das Fach dominiert. Als jemand, der von den verkommenen Binnenstrukturen der Volkswirtschaftslehre nicht existentiell betroffen ist, mache ich es mir hier sicher zu einfach. Aber die Äußerung einer Vermutung gestatte ich mir doch noch: Wenn es nicht gelingt, der Neoklassik den ihr allein adäquaten Platz auf dem Müllhaufen der Dogmengeschichte zuzuweisen, wird wohl auch weiterhin Erhellendes über den eigentlichen Gegenstand der Wirtschaftswissenschaft, also die kapitalistische Produktions- und Wirtschaftsweise eher außer- als innerhalb des akademischen Bereichs zu finden sein.

Literatur
Anmerkungen



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