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Robert Kurz


   
Kurz, Robert
Schwarzbuch Kapitalismus
Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft

 
Verlag :  Eichborn
ISBN :  3-8218-7316-7
Einband :  Gebunden
Seiten/Umfang :  832 Seiten
Erschienen :  24.02.2009
Preisinfo :  24,95 Eur[D] / 25,70 Eur[A] / 43,90 sFr
  24,95 Eur[D]

Einleitung zur Neuausgabe

Vom Ende des Staatssozialismus 1989 zur Krise des Weltkapitals 2009

Das Feiern von Jahrestagen berühmter Ereignisse gehört zu den eher langweiligen Pflichtübungen des bürgerlichen Kulturbetriebs. Gerade dann aber, wenn die Jährung auf brisante Zusammenhänge verweist, die zu keiner Feier einladen, wird sie gern verdrängt. Als dieses Buch 1999 zum ersten Mal erschien, gab es für die offizielle Welt vermeintlich etwas zu feiern: Der Zusammenbruch des Staatssozialismus lag gerade 10 Jahre zurück. Noch war die Siegeseuphorie der westlichen kalten Krieger nicht verklungen. Die akademische Philosophie hatte das „Ende der Utopien“ und der US-Politologe Francis Fukuyama das „Ende der Geschichte“ verkündet; die menschliche Entwicklung sei in der immerwährenden gesellschaftlichen Form von „Marktwirtschaft und Demokratie“ an ihr Ziel gelangt. Der professorale Restmarxismus und die politische Linke kamen mit dem Abschwören gar nicht mehr nach; das Bekenntnis zum marktgerechten Realismus war geradezu ein Ritual geworden. Und die „neoliberale Revolution“ schien das neue marktradikale Menschenbild unaufhaltsam durchzusetzen. Damals befand sich die kapitalistische Weltökonomie auf dem Höhepunkt einer beispiellosen Hausse der Aktienbörsen. Die Management-Gurus und Finanzanalysten riefen eine „New Economy“ aus, von der behauptet wurde, sie habe alle bisherigen Lehren der Wirtschaftswissenschaft hinter sich gelassen.

In dieser Situation gab es nur eine Möglichkeit, gegen den Strom des Zeitgeistes zu schwimmen: Dem herrschenden Bewusstsein musste seine völlige Geschichtsblindheit vorgehalten werden. Der totalitäre Markt kennt keine Geschichte, sondern nur die konjunkturelle ewige Wiederkehr des Gleichen. Je mehr sich das Denken in den Zeithorizont der Marktlogik einbannen lässt, desto zusammenhangloser muss es werden. Das „Schwarzbuch Kapitalismus“ unternimmt es dagegen, die verlorene historische Dimension wiederherzustellen. Es geht dabei nicht um die Banalität, dass alles Zeitliche irgendwann einmal ein Ende hat, sondern um die konkrete Analyse eines Prozesses, in dem der Kapitalismus buchstäblich die Welt und sich selber auffrisst. Dass mit dem Zwang zum unaufhörlichen Wachstum des „abstrakten Reichtums“ (Marx) eine fortschreitende Zerstörung der Naturgrundlagen verbunden ist, hat sich längst herumgesprochen. Je unaufhaltsamer die Klimakatastrophe zu werden droht, desto zögerlicher fallen trotz aller politischen Lippenbekenntnisse die realen Maßnahmen zu ihrer Bewältigung aus, weil die erforderlichen Eingriffe völlig unvereinbar mit der ökonomischen Rationalität der nunmehr planetarisch vereinheitlichten Produktionsweise sind. Die Analyse des „Schwarzbuchs“ bezieht sich allerdings vor allem auf die Dynamik der „Verwertung des Werts“ (Marx) und seiner historischen Akkumulation selbst. Dabei wird sichtbar, was dem Bewusstsein der auf bloße „Wechsellagen“ der Konjunktur fixierten Marktmenschen entgeht: Die abstrakte Plusmacherei des Kapitalismus stößt nicht nur an eine äußere Naturschranke, sondern auch an eine innere ökonomische Barriere.

Was auf der Ebene der Waren- und Geldströme, des ewigen Kaufens und Verkaufens als Wiederkehr des Gleichen erscheint, ist gleichzeitig eine irreversible Geschichte dessen, was Marx als die von der nationalen und internationalen Konkurrenz erzwungene „Produktivkraftentwicklung“ bezeichnet hat. In dieser Hinsicht kehrt niemals das Gleiche wieder, sondern die technologischen Revolutionen setzen auf wachsender Stufenleiter immer neue Standards der Produktivität. In den Industriemuseen der Welt ist diese Geschichte abzulesen. Die Ideologie der totalen Machbarkeit versagt an dieser selbst erzeugten Entwicklung. Denn eines kann der Kapitalismus nicht machen; er kann nicht zu einem früheren technologischen Niveau (etwa der Dampfmaschine) zurückkehren. Die Produktivkraftentwicklung folgt aber nicht einem gesellschaftlichen Plan auf der Basis bewusster Vereinbarungen, der die Risiken, Nebenwirkungen und langfristigen Konsequenzen einbeziehen könnte, sondern sie wird von der blinden Dynamik der Konkurrenz gesteuert. Darin besteht der Mechanismus der ökonomischen Maschine, die bei Marx als „automatisches Subjekt“ erscheint, dem auch die Eliten unterworfen sind. Deshalb können die gesellschaftlichen Rückwirkungen immer erst im nachhinein und unzureichend bearbeitet werden. Damit entstehen aber Widersprüche, die sich genauso aufakkumulieren wie das Geldkapital. Die Geschichte des Kapitalismus ist die Geschichte seiner Widerspruchsbearbeitung, die sich am Ende des 20. Jahrhunderts dramatisch zugespitzt hat.

Da der Kapitalismus ein gesellschaftliches Verhältnis ist, muss er auch die Gesellschaft materiell und sozial reproduzieren. Das liegt im Begriff des gesellschaftlichen Verhältnisses und hat nichts mit moralischen Erwägungen zu tun. Nun ist aber die materielle und soziale Reproduktion gar nicht der Zweck der ganzen Veranstaltung. Vielmehr handelt es sich um einen aus bewusstlosen historischen Prozessen heraus entstandenen und an sich „irrationalen“ Selbstzweck, nämlich den Zwang, unaufhörlich aus einem Euro oder Dollar zwei zu machen. Dieser automatische Selbstzweck hat keinerlei Sensorium für den konkreten Inhalt, der dabei bewegt wird. So erweist sich die Produktivkraftentwicklung  gleichzeitig als Destruktivkraftentwicklung, die nicht nur an die Grenzen der ökologischen, sondern auch der sozialen Belastbarkeit stößt. In der Moderne ist Geld nichts anderes als die gesellschaftliche Darstellungsform verausgabter abstrakter Arbeitskraft, die über ihre eigenen Reproduktionskosten hinaus den berühmten Mehrwert produziert. Aus der Perspektive der Betriebswirtschaft scheint die überlebensnotwendige Herstellung von Profit umso besser zu gelingen, je tiefer die Kosten der jeweiligen Arbeitskraftmenge herabgedrückt werden. Indem die Produzenten nicht für gemeinsame Bedürfnisse produzieren, sondern für den vorausgesetzten kapitalistischen Selbstzweck, erzeugen sie zusammen mit dem „abstrakten Reichtum“ ihre eigene relative oder sogar absolute Armut.

Diese Beschreibung der paradoxen Logik des Kapitalverhältnisses ruft immer noch den heftigsten Widerspruch hervor. Hat nicht die wachsende Produktivität auch zu einer Steigerung des „Wohlstands für alle“ geführt? Aber schon 1999 war das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit nur noch Erinnerung. Der untergehende bürokratische Staatssozialismus entließ seine Kinder nicht in ein westliches Konsumparadies, wie es sich viele erträumt hatten, sondern in die „neue Armut“, den Sozialabbau, den Billiglohn und die Prekarisierung. Dieser Abwärtssog in den westlichen Zentren hatte während der 80er Jahre begonnen und war nur vom östlichen Desaster überdeckt worden. Die scheinbar befriedete soziale Widerspruchsbearbeitung verlor zunehmend ihre Kraft. In den 90er Jahren mehrten sich die Stimmen, die meinten, nun kehre der Kapitalismus eben zu seinem unschönen „Normalzustand“ zurück, nachdem er keiner Legitimation mehr wie im Systemkonflikt des Kalten Krieges bedurfte. Das Legitimationsproblem ist sicherlich davon abhängig, wieviel Entbehrung und Drangsal der Armutsverwaltung die auf Einheiten von Arbeitskraft in spe degradierten Menschen zu ertragen bereit sind. Die kapitalistischen Existenzbedingungen und ihre Kriterien sind in einem säkularen Prozess seit dem späten 18. Jahrhundert verinnerlicht worden. Wenn man sich nichts anderes mehr vorstellen kann, muss man sich den Verhältnissen bedingungslos ausliefern und sein Leben damit vergeuden, um die „Konkurrenzfähigkeit“ zu ringen. Der Siegeszug des Neoliberalismus ging zudem mit einer wachsenden Individualisierung und Entsolidarisierung einher. Konnte also die sich von sozialen Legitimationsproblemen emanzipierende Kapitalverwertung nun erst recht zu einem neuen Höhenflug starten?

Der Begriff des gesellschaftlichen Verhältnisses erschöpft sich allerdings nicht in der ideologischen Legitimation. Zumindest bis zu einem gewissen Grad muss der Kapitalismus das materielle und soziale Leben reproduzieren, um sich selbst reproduzieren zu können. Er ist auf die gesellschaftliche Kaufkraft für den Konsum von Waren und Dienstleistungen angewiesen, weil sonst der Kreislauf einer Verwandlung des vorgeschossenen Geldkapitals in Mehrwert nicht durchgehalten werden kann. Insofern steht die betriebswirtschaftliche Rationalität einer Kostensenkung der Arbeitskraft im Widerspruch zu den Reproduktionsbedingungen des Gesamtkapitals. Wenn die von der paradoxen Logik der Verwertung produzierte Geldarmut eine gewisse Schmerzgrenze überschreitet, wird sie zum Problem der Verwertung selbst. Die sogenannten Krisen sind keineswegs eine Folge davon, dass die Menschen für ihre kapitalistisch präformierten Interessen kämpfen oder gar dieses System nicht mehr wollen, wie gerade linke Theoretiker gern glauben. Umgekehrt ist die kapitalistische Armut, die sich seit den 80er Jahren wieder rapide ausbreitet, kein Resultat ideologischer Willensentscheidungen der Eliten, wie es ebenfalls im Standardrepertoire einer zu kurz greifenden Kapitalismuskritik erscheint. Ideologische Deutungsmuster und Mobilisierungen können zwar die politischen Verlaufsformen prägen, aber die ökonomischen Krisen nicht hervorbringen. Die Schranke des Kapitals ist das Kapital selbst, wie Marx sagte, nämlich die Entfaltung seines inneren Selbstwiderspruchs. Deshalb ist die Geschichte des Kapitalismus nicht nur die Geschichte seiner sozialen, sondern auch seiner ökonomischen Widerspruchsbearbeitung.

Oberflächlich betrachtet geht es dabei immer um mangelnde gesellschaftliche Kaufkraft. Das ist aber nur die Erscheinungsform eines tiefer liegenden Problems, nämlich einer mangelnden Produktion von gesellschaftlichem Mehrwert selbst. Der Wert, der sich in der Form des Geldes darstellt, ist seinerseits nichts anderes als die Darstellungsform „abstrakter Arbeit“ (Marx), der Verausgabungsmasse abstrakter menschlicher Energie in den betriebswirtschaftlichen Funktionsräumen, die sich zu einer gesellschaftlichen Gesamtmasse aggregiert. Die Gleichgültigkeit der Verwertung gegenüber dem stofflichen Inhalt der betriebswirtschaftlichen Produktion und deren Auswirkungen auf die Naturgrundlagen rührt gerade daher, dass die „abstrakte Arbeit“ ihren eigentlichen Inhalt oder ihre „Substanz“ bildet. Der Selbstzweck, aus Geld mehr Geld zu machen, beruht auf dem Selbstzweck, aus „Arbeit“ immer „mehr Arbeit“ zu machen. In der Konkurrenz eignet sich jedoch das einzelne Kapital nicht den Mehrwert an, der in seinen eigenen vier Wänden produziert wurde, sondern den Teil der gesellschaftlichen Mehrwertmasse, den es durch sein Angebot auf sich ziehen kann. Um billiger anbieten und sich in der Konkurrenz durchsetzen zu können, ist eine betriebliche „Kostensenkungspolitik“ nötig, die eben durch die Steigerung der Produktivität bewirkt wird. Das ist aber keineswegs bloß eine technologische Angelegenheit, sondern damit entstehen ständig neue ökonomische Verwertungsbedingungen des Gesamtkapitals. Wie kann daraus eine mangelnde gesellschaftliche Mehrwertproduktion resultieren?

Der Zwang zur betriebswirtschaftlichen Kostensenkung führt nicht nur zum Druck auf die Lohneinkommen, sondern die damit verbundene Produktivkraftentwicklung macht auch Arbeitskraft überflüssig. Da aber Arbeitskraft die Quelle des Mehrwerts ist, wird durch deren sukzessive Wegrationalisierung der Selbstzweck der Verwertung in einem säkularen Prozess ausgehöhlt. Gerade diejenigen Unternehmen eignen sich den größten Teil der gesellschaftlichen Mehrwertmasse an, die gleichzeitig am meisten zur ihrer Verminderung beitragen, indem sie besonders viel Arbeitskraft „frei setzen“. Darin besteht der eigentliche Selbstwiderspruch des Kapitalismus. Trotz periodischer Krisen konnte dieser Widerspruch in der Vergangenheit immer wieder kompensiert werden, indem die Verbilligung der Produkte zu einer so großen Ausdehnung der Märkte führte, dass sich die Produktion und damit die zusätzliche Anwendung von Arbeitskraft stärker erweiterte, als Arbeitskraft bei der Produktion der einzelnen Waren wegfiel. Die Wirtschaftswissenschaft machte daraus ein allgemeines Gesetz, und nur deshalb konnte die Produktivkraftentwicklung als Motor gelingender Verwertung und steigenden Wohlstands gefeiert werden. Das ist jedoch ein Trugschluss. Denn in der 3. industriellen Revolution der Mikroelektronik wird seit den 80er Jahren erstmals in der kapitalistischen Geschichte flächendeckend mehr Arbeitskraft überflüssig gemacht, als durch Erweiterung der Märkte reabsorbiert werden kann. Die kapitalistische Entwicklung stößt in einer irreversiblen „Entsubstantialisierung des Kapitals“ und einer historischen „Entwertung des Werts“ an ihre absolute innere Schranke. Das ist die Hauptthese des „Schwarzbuchs“ im letzten Kapitel.

Ablesbar war diese Kulmination in einer stetig steigenden strukturellen Massenarbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung im globalen Maßstab. Das entsprechende Absinken der realen gesellschaftlichen Mehrwertmasse machte sich an der Oberfläche als stetiger Rückgang der realen Massenkaufkraft geltend. Das schien allerdings den nominellen Profiten zunächst wenig anhaben zu können. Diese speisten sich jedoch immer weniger aus realer Mehrwertproduktion, sondern zunehmend aus sich auftürmenden Schuldengebirgen mit immer neuen Umschuldungen und aus einer „substanzlosen“ Finanzblasen-Ökonomie der geradezu explodierenden Aktienpreise. Das Kredit- und Spekulationssystem der Finanzmärkte hatte schon bei den früheren periodischen Krisen die Rolle einer vorübergehenden Simulation real nicht mehr ausreichend stattfindender Verwertung gespielt; die Kredit- und Spekulationsblasen waren jedoch stets nach wenigen Jahren geplatzt, um dem nächsten Schub realer Verwertung auf neuer technologischer Grundlage Platz zu machen. Weil dieser Schub aber unter den Bedingungen der 3. industriellen Revolution ausblieb, mauserte sich die Finanzblasen-Ökonomie zum vermeintlichen strukturellen Dauerzustand eines sogenannten „finanzgetriebenen“ Wachstums.

Im Grunde genommen hatte die simulative Reproduktion des Kapitalismus durch Kreditblasen schon in den 70er Jahren am Ende des Wirtschaftswunders begonnen, damals in Form eines aufgeblähten Staatskredits gemäß der wirtschaftspolitischen Doktrin des Keynesianismus. Das nicht mehr aus realer Mehrwertproduktion qua Steuereinnahmen abgeschöpfte staatliche Kreditgeld floss in infrastrukturelle Investitionen des Bildungs- und Gesundheitswesens sowie in sozialstaatliche Gratifikationen. Damit wurde bereits Kaufkraft erzeugt, die keine substanzielle Grundlage hatte. Da diese simulative Kaufkraft unmittelbar in die jeweiligen nationalen Währungsräume eingespeist wurde, beflügelte sie eine Inflation mit teilweise zweistelligen Wachstumsraten im Westen und Hyperinflationen in den peripheren Ländern. Diese im „Schwarzbuch“ relativ knapp thematisierte Entwicklung einer „Stagflation“ (steigende Inflation bei sinkenden Wachstumsraten) war es, die den Startschuss für die „neoliberale Revolution“ gab. Der Neoliberalismus erkannte aber nicht die mangelnde reale Mehrwertproduktion als Ursache, sondern wollte allein die seiner Ansicht nach ausgeuferte Staatstätigkeit verantwortlich machen, um stattdessen die angeblichen „Selbstheilungskräfte des Marktes“ zu entfesseln. Die seitherige radikale Deregulierung der Arbeitsmärkte verschärfte aber nur das Absinken der Massenkaufkraft durch die Kreation von Billiglohn-Sektoren bei weiterhin hoher Arbeitslosigkeit, während die ebenso radikale Deregulierung der Finanzmärkte die substanzlose Blasenbildung nur vom Staatskredit auf die Aktienmärkte verlagerte.

Ende der 90er Jahre strebte diese Form des „fiktiven Kapitals“ (Marx) ihrem Höhepunkt zu. Nicht nur Investment-Banken und Geldkapital-Fonds, sondern auch Industriekonzerne trieben die simulativen Gewinne durch die Beteiligung an der Finanzblasen-Ökonomie in ungeahnte Höhen. Der Abbau von Beschäftigung wurde dadurch ein wenig gebremst, aber die reale Anwendung von Arbeitskraft erschien nur noch als Nebeneffekt der „New Economy“. Gleichzeitig wurde ebenso simulative Kaufkraft nicht mehr vorwiegend durch den Staatskredit, sondern durch eine rasch ansteigende private Verschuldung und relativ breite Streuung von Aktienbesitz trotz sinkender Reallöhne auf den Weg gebracht. Die Gesellschaft spaltete sich auf in eine wachsende Massenarmut von Herausgefallenen und Billiglöhnern einerseits und eine partielle direkte oder indirekte Teilhabe am „finanzgetriebenen“ Wachstum andererseits. Der Kleinspekulant und der kleine Schuldenkünstler mutierten zum Leitbild der Individualisierung. Das „Schwarzbuch“ endet mit der Beschreibung dieser Situation und mit der scheinbar kühnen Prognose, dass sich die ganze falsche Herrlichkeit nach einer nicht genau bestimmbaren Inkubationszeit in Rauch und Trümmer auflösen wird.

Die deutsche intellektuelle Öffentlichkeit nahm das „Schwarzbuch“ zwar als eine Art Menetekel wahr (schließlich durfte man sich in der Welt des virtualisierten Kapitalismus stets unverbindlich „offen“ für allerhand esoterisches „Querdenken“ zeigen), ohne jedoch die gestellte Prognose wirklich ernst zu nehmen. Zu golden war die Zeit für ein ahistorisches Denken des im Aktienboom fiebernden Mittelschichtsbewusstseins, als dass man darin mehr als den Unterhaltungswert einer sozialphilosophischen Geisterbahnfahrt erkennen wollte. Kaum drei Jahre nach dem Erscheinen des Buchs brach dann die „New Economy“ in einem globalen Crash zusammen. Das Aktienkapital der Internet-Klitschen mit wenigen Beschäftigten, das die Börsenkapitalisierung von großen Industriekonzernen erreicht hatte, verschwand großenteils von der Bildfläche; die dazugehörigen Börsensegmente der „neuen Märkte“ wurden aufgelöst. Insgesamt brachen die globalen Aktien-Indizes um die Hälfte bis zwei Drittel ihres fiktiven Werts ein. Die Folge war eine  ebenso globale Rezession, weil die aus den Finanzblasen stammende Kaufkraft zu versiegen begann.

Der Kapitalismus drohte mit unabsehbaren Folgen auf seine realen Verwertungsgrundlagen reduziert zu werden. Um die in Sichtweite gerückte innere Schranke der Verwertung noch einmal hinauszuschieben, traten die staatlichen Notenbanken auf den Plan, allen voran die US-Notenbank Fed unter ihrem Chef Alan Greenspan. Mit einer konzertierten drastischen Senkung der Leitzinsen sollten die erschlafften Finanzblasen neu aufgepumpt werden. Der Erfolg war tatsächlich durchschlagend. Indem die Notenbanken die Schleusen der Geldschöpfung öffneten, konnte eine weltweite Kreditkrise verhindert werden und die Aktienmärkte begannen sich zu erholen, obwohl der Mangel substantieller Mehrwertproduktion weiterhin bestehen blieb. Um das „finanzgetriebene“ Wachstum zu retten, so hieß es in den USA, müsse man notfalls Geld in rauen Mengen „aus dem Hubschrauber abwerfen“.

Allerdings waren diese Maßnahmen bereits der Sündenfall des Neoliberalismus, der die inflationsträchtige Expansion des Staatskredits am Ende des Nachkriegsbooms auf eine „Politik des billigen Geldes“ durch die Notenbanken zurückgeführt hatte. Die neoliberale Doktrin des sogenannten Monetarismus wollte dem Einhalt gebieten und die Geldschöpfung der Notenbanken auf eine Menge begrenzen, die nicht über die von kaufkräftiger Nachfrage bestimmte Gütermenge hinausgehen sollte. Das war genehm, solange sich damit soziale Restriktionen gegen die Arbeitslosen und Unterbeschäftigten rechtfertigen ließen. Jetzt aber wurde die monetaristische Doktrin über Bord geworfen, weil sich die autonome Potenz des Kredit- und Spekulationssystems zur Kreation von „fiktivem Kapital“ erschöpft hatte. Die Rettung der Finanzblasen-Ökonomie gelang nur, soweit sie nun von der Geldschöpfung der Notenbanken genährt wurde. Damit war bereits wieder der „Faktor Staat“ in Form einer expansiven Geldpolitik der Notenbanken zur entscheidenden Instanz geworden.

Weder die autonome Aufblähung der Finanzmärkte mit Hilfe der neoliberalen Deregulierung noch deren Regeneration durch die Geldflut der Notenbanken seit 2001erzeugte reale Werte mit Arbeitssubstanz. Diese „asset inflation“ (Vermögensinflation) trat nur deshalb nicht als schnelle Entwertung des Geldes in Erscheinung, weil sie im Unterschied zum Staatskredit nicht direkt in die nationalen Währungsräume als Kaufkraft floss, sondern vermittelt über globale Verkettungszusammenhänge des Finanzkapitals; etwa als Export von Kredit- und Spekulationskapital zwischen den verschiedenen Währungsräumen. Die Realisierung der inflationären Potenz wurde auf diese Weise aber nur verzögert.

Zunächst kreierte die Öffnung der Geldschleusen fiktive Kaufkraft in einer neuen Dimension. Zusätzlich zu der erneuerten Aktienblase bildete sich eine ebenso beispiellose Immobilienblase in verschiedenen Ländern und Weltregionen; so innerhalb der EU in Spanien, Großbritannien und Irland, in Teilen Asiens und vor allem in den USA, wo ein breit gestreutes und kreditfinanziertes Wohnungs- und Hauseigentum der Mittelklasse als Basis dienen konnte. Da die Preise der entsprechenden Eigentumstitel von Monat zu Monat weit über die Kreditkosten hinaus stiegen, konnten die Hypotheken exzessiv für den Konsum beliehen werden. Mehr noch: Das billige Kreditgeld der Notenbanken wurde von den Geschäftsbanken in Erwartung stetig weiter steigender Häuserpreise als Hypotheken an neue Häuslebauer ohne jedes Eigenkapital weitergegeben. Auf diese Weise entstand mit den USA als Zentrum ein noch mehr von den Realeinkommen entkoppeltes „Konsumwunder“. Alan Greenspan wurde als „Magier“ des billigen Geldes gefeiert.

Die Masse der mit solchen Mitteln „aus dem Hubschrauber abgeworfenen“ Kaufkraft war so groß, dass sie nach der kurzen Rezession im Gefolge des Dotcom-Crashs eine globale Defizitkonjunktur überraschenden Ausmaßes anschieben konnte. In diesem Zusammenhang trat eine eigenartige globale „Arbeitsteilung“ in ihr Reifestadium ein, die jedem volkswirtschaftlichen Lehrbuch Hohn spricht. Die USA als politisch-militärische Garantiemacht des Weltkapitals wurden auch zum Zentrum der Globalisierung. In diesen vermeintlich „sicheren Hafen“ strömte der Löwenanteil des Anlage suchenden globalen Kredit- und Spekulationskapitals. Nur deshalb behielt der Dollar seine Funktion als Weltgeld, obwohl er 1973 als letzte Währung seine Goldkonvertibilität aufgeben musste. So konnte nicht nur der gewaltige „militärisch-industrielle Komplex“ (Eisenhower) trotz niedriger Sparquoten finanziert werden, sondern auch ein unaufhörlich wachsendes Handelsdefizit. Da sich in den USA die fiktive Kaufkraft konzentrierte, begannen sie die globalen Warenströme anzusaugen. Schon in den 90er Jahren hatten alle Weltregionen  Handelsüberschüsse gegenüber der letzten Weltmacht aufzuweisen. Während überall die Binnenmärkte relativ austrockneten und der Export boomte, war es in den USA genau umgekehrt. Dort trug der Konsum 80 Prozent der Konjunktur, während der Export relativ dazu ein Rinnsal blieb. Die Dollarflut Greenspans brachte nun das Fass dieses ökonomischen „Ungleichgewichts“ zum überlaufen.

Der schon vorher überproportionale pazifische Defizitkreislauf zwischen den USA und Asien begann heiß zu laufen. China und Indien stiegen vor diesem Hintergrund zu neuen „Wachstumsstars“ auf. Gerade in den chinesischen Exportwirtschaftszonen konzentrierten sich die Investitionen westlicher Konzerne, um von dort aus in erster Linie den US-Markt zu beliefern. In der Kombination von Billiglohn und importierten High-tech-Produktionskomponenten entstanden Millionen industrieller Arbeitsplätze. Für die oberflächlichen Beobachter auch marxistischer Provenienz galt das als neuer Schub substantieller Mehrwertproduktion; nur dass diese sich eben von den westlichen Industrieländern nach Asien verlagert hätte. Wird da nicht wirklich Arbeitskraft in neue Wertmassen verwandelt? Die Produktion der chinesischen und sonstigen asiatischen Exportindustrie ist genauso „real“ wie die Produktion der Bauindustrie im Gefolge des Immobilienbooms. Aber die Grundlagen und Voraussetzungen werden nicht von Kaufkraft aus realer Wertschöpfung gebildet, sondern von Kaufkraft als Abfallprodukt einer Finanzblasen-Ökonomie, die sich inzwischen primär aus den immer billiger gefüllten Liquiditäts-Töpfen der Notenbanken bedienen muss. Deren Kompetenz zur Geldschöpfung ist aber rein formal; regulär kann sie nur die substantielle Wertschöpfung der Warenproduktion in der Geldform ausdrücken. Deshalb ist die jüngste Geldschwemme irregulär und hat nur das Recycling von „fiktivem Kapital“ in scheinbar reale Nachfrage verstärkt. Die davon genährte Weltkonjunktur steht auf tönernen Füßen und kann gerade nicht selbsttragend sein.

Als der pazifische Defizitkreislauf seit 2005 auch die europäische Konjunktur mitzunehmen begann, wollte man den glorreichen Aufschwung schon bis weit ins 21. Jahrhundert hochrechnen. Nicht zuletzt die deutsche Exportwirtschaft ritt auf dieser Welle; von der Autoindustrie mit ihren überall von den Neureichen begehrten protzigen Nobelkarossen bis zum Maschinenbau, der sich durch die Lieferung von Produktionskomponenten für die asiatischen und andere Exportwalzen eine goldene Nase verdiente. Dass es sich dabei um ein allerdings grandioses Strohfeuer handelte, war an einigen Erscheinungen abzulesen. Das „Ungleichgewicht“ der einseitigen Exporte schlug sich in asiatischen Dollarguthaben von astronomischer Größenordnung nieder, verwaltet von Staatsfonds. Diese Geldmenge, die eine Finanzblase eigener Art darstellt, muss sich auf irgendeine Weise entladen. Gleichzeitig kehrte auf dem Höhepunkt der Defizitkonjunktur das vermeintlich gebannte Gespenst der Inflation zurück. In den USA und in der EU schossen die Inflationsraten weit über den Zielkorridor hinaus; in China, anderen asiatischen Ländern und Osteuropa erreichten sie ein zweistelliges Wachstum. Auf der sozialen Ebene klaffte die Spaltung der Gesellschaft noch weiter auf. Die Restriktionen der Armutsverwaltung verschärften sich überall, in der BRD besonders forciert durch die Hartz-IV-Gesetzgebung. Während jeder reguläre Aufschwung nach einiger Zeit auch die unteren Schichten erfasst, kam die neue Defizitkonjunktur beim Großteil der Bevölkerung nicht an. Nur eine minoritäre exportindustrielle „Arbeiteraristokratie“ merkte etwas davon. Der viel bejubelte Abbau der Arbeitslosigkeit schlug sich hauptsächlich in einer erzwungenen Ausdehnung der prekarisierten Billiglohn-Beschäftigung oder der unterbezahlten Zeit- und Leiharbeit nieder. Kein Wunder, dass der Binnenmarkt so trocken blieb wie zuvor.

Auf die Rückkehr der Inflation reagierten die Notenbanken einschließlich der US-amerikanischen mit einer allmählichen Erhöhung der Leitzinsen. Das konnte doch nicht verkehrt sein, wenn die voreilig als Selbstläufer ausgerufene Konjunktur so schön brummte. Dass die Verhältnisse anders lagen, zeigte sich alsbald an den nicht vorhergesehenen Folgen. Die von den Geschäftsbanken weitergegebene moderate Zinssteigerung brachte die Immobilienblase binnen zwei Jahren zum Platzen. Schon 2006 verebbte der US-Immobilienboom. Immer mehr Haus- und Wohnungsbesitzer konnten ihre Hypothekenzinsen nicht mehr bezahlen. Aus der anschwellenden Lawine von Insolvenzen entwickelte sich bis zum Herbst 2008 eine globale Finanzkrise, die sich innerhalb weniger Wochen als die größte aller Zeiten entpuppte. Über sogenannte Verbriefungen waren nämlich die im Kern von Anfang an faulen Hypothekenkredite in Pakete von Finanzderivaten verpackt worden, die selbst die damit befassten Banker nach eigenem Eingeständnis nicht mehr durchschauten. Diese Pakete wurden weltweit gestreut und zum Hebel für unrealistische Renditeversprechen gemacht. Erst als mit Lehman Brothers eine der größten US-Investmentbanken kollabierte, kam das wahre Ausmaß des Debakels ans Licht. Die Schockwellen breiteten sich von Island bis Kasachstan noch in die hintersten Winkel des globalen Finanzsystems aus.

Seit der neoliberalen Deregulierung hatte eine ganze Reihe von Finanzkrisen und Börsencrashs die globale Defizitökonomie begleitet, die aber weltregional oder sektoral begrenzt blieben und jedes Mal mit Müh und Not wieder eingedämmt werden konnten. Jetzt aber hat das Problem eine neue Dimension angenommen, die weit über den Dotcom-Crash von 2001 und dessen Auswirkungen hinausgeht. Die Hypothekenkrise lässt sich nicht mehr sektoral eingrenzen, sondern ist zum Katalysator für die längst fällige „Kernschmelze“ des globalen Kreditsystems geworden. Das über Jahrzehnte hinweg aufgetürmte Schuldengebirge kommt über den globalen Verkettungszusammenhang des substanzlosen Finanzkapitals unaufhaltsam ins Rutschen. Nicht umsonst ist der Begriff „Finanzkrise“ zum „Wort des Jahres 2008“ gekürt worden. Beim bloßen Wort eines Jahres, das man schnell wieder vergisst, wird es aber nicht bleiben.

Die hier skizzierten Zusammenhänge, deren Analyse nahtlos an die Argumentation des „Schwarzbuchs“ anschließt, sind augenscheinlich von den medialen, politisch-ökonomischen und wissenschaftlichen Eliten überhaupt nicht wahrgenommen oder völlig verdrängt worden. Anders lassen sich die groben Fehleinschätzungen nicht erklären, wie sie nach den „schwarzen Montagen“ im Oktober 2008 abgeliefert wurden. Obwohl bereits die deutschen Landesbanken und halbstaatliche Mittelstandsbanken dick in der Tinte saßen, wähnten die deutsche Kanzlerin Merkel und ihr Finanzminister Steinbrück das Problemzentrum immer noch jenseits des Atlantik, während man selber „gut aufgestellt“ sei. Aber sie mussten sich schnell eines Besseren belehren lassen. Inzwischen ist klar geworden, dass eine bloße konzertierte Senkung der Leitzinsen und eine Geldschwemme der Notenbanken wie nach 2001 bei weitem nicht mehr genügt. Dafür ist das Kind schon zu tief in den Brunnen gefallen. Deshalb muss der Staat über den Sündenfall des Monetarismus in Form einer expansiven Geldschöpfung der Notenbanken hinaus als „letzte Instanz“ des Kapitalismus in Aktion treten. Die Finanzblasen-Ökonomie verlagert sich endgültig von den deregulierten Finanzmärkten zurück auf den Staatskredit. Über Nacht ist der Neoliberalismus zur ideologischen Makulatur geworden.

Die staatlichen Rettungspakete für das marode Bankensystem belaufen sich Ende 2008 in den USA auf 8 Billionen Dollar und in den Kernstaaten der EU auf umgerechnet 2,2 Billionen Dollar. Auch in anderen Ländern sind ähnliche Rettungsaktionen angelaufen. Strukturiert sind diese Pakete in Bürgschaften für Bankkredite an Privatkunden, staatliche Kredite direkt an Banken und Versicherungen sowie die Teilverstaatlichung von Banken durch den Aufkauf von faulen Krediten und entwerteten Finanzaktien. Noch hofft man, dass diese unvorstellbaren Summen nicht wirklich abgerufen werden, indem die nominelle Staatsgarantie so viel „Vertrauensbildung“ schafft, dass die „normalen“ Finanztransaktionen von selber wieder in Gang kommen, die Kurse der Wertpapiere wieder steigen und die Banken den in Anspruch genommenen staatlichen Kredit verzinst zurückzahlen können. Das ist aber völlig unrealistisch, weil mit den Rettungspaketen keinerlei zusätzliche reale Wertschöpfung in Gang gebracht wird, deren Fehlen ja die objektive Ursache der Finanzkrise war. Die Katze beißt sich in den Schwanz: Der Staat müsste selber enorme Kredite bei eben dem Finanzsystem aufnehmen, dessen gähnende Bilanzlöcher er auf diese Weise stopfen soll. Dieser Versuch einer Quadratur des Kreises  kann nur auf den Kollaps der Staatsfinanzen hinauslaufen; und zwar in dem Maße, wie die Summen der Rettungspakete tatsächlich fällig werden.

Das eigentlich zu Grunde liegende Problem der mangelnden realen Mehrwertproduktion unter den Bedingungen der neuen Produktivkräfte liegt außerhalb der offiziellen Betrachtungsweise. So konnte die abermalige grobe Fehleinschätzung entstehen, dass die befürchtete „Rückwirkung“ der Finanzkrise auf die boomende Scheinkonjunktur vielleicht glimpflich ausfallen werde. Aber diese Konjunktur war ja gerade durch das Recycling von „fiktivem Kapital“ in die „realökonomische“ Nachfrage geschürt worden, die damit selber einen virtuellen Charakter angenommen hatte. Zusammen mit der simulativen Kapitalakkumulation kommt auch die simulative Kaufkraftmaschine zum Stehen. Die industriellen Auftragsbestände brechen mit atemberaubender Geschwindigkeit weg, angefangen von der Autoindustrie und ihren Zulieferbetrieben über die Metallindustrie bis zum Maschinenbau und im sekundären Dienstleistungssektor. Auch die Hoffnung auf China und Indien als Ersatzlokomotiven der Weltkonjunktur erweist sich als illusionär. Die Kapitalinvestitionen in die Gürtel der Exportzonen waren unselbständig und in den Defizitkreislauf mit den USA eingebunden. Seit Dezember 2008 schrumpft das vom einseitigen Export induzierte asiatische Wachstum dramatisch und lässt soziale Verwerfungen ahnen, die jede „Weltmacht“-Ambition dementieren. Die sich abzeichnende größte Weltwirtschaftskrise seit den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts droht die Dollarguthaben der Staatsfonds bis zur Lächerlichkeit zu entwerten.

Derselbe Verkettungszusammenhang wie im Finanzsystem wird sukzessive in der gar nicht mehr so realen „Realökonomie“ destruktiv abgearbeitet. Auch hier ruft das kapitalistische Bewusstsein den Staat als „deus ex machina“ an. Zusätzlich zu den Rettungspaketen für den Finanzsektor sollen Konjunkturprogramme in ähnlicher Größenordnung gestartet werden. Während in den USA die neugewählte Obama-Administration in aller Gemütsruhe ein staatliches Investitionsprogramm von rund einer weiteren Billion Dollar verkündet, um neue Rettungspakete für die bankrottierende US-Auitoindustrie gefeilscht wird und der französische Präsident Sarkozy eine Verstaatlichung von Schlüsselindustrien ins Gespräch bringt, ziert sich die deutsche Bundesregierung noch und fabuliert weiter von einer Sanierung der Staatsfinanzen. Aber schon melden die deutsche Autoindustrie und ihre Leasing-Banken dieselben Rettungsansprüche an.

So viel „Rettung“ war nie. Nur ist und bleibt es unerfindlich, woher das Geld dafür kommen soll. Zwar wird die Inflation zunächst durch den Absturz der Weltkonjunktur gebremst, was ein schwacher Trost ist. Auch der Staatskredit, der in das schwarze Loch der Bankbilanzen geschüttet wird, kann nicht als inflationäre fiktive Nachfrage in Erscheinung treten, obwohl seine Finanzierung in den Sternen steht. Aber es geht ja hauptsächlich um den folgerichtigen Zusammenbruch der globalen Kaufkraft. Darin besteht das kapitalistische Grunddilemma. Steuersenkungen wie gegenwärtig in Großbritannien führen sich ad absurdum, sobald die angebahnte Weltwirtschaftskrise gleichzeitig die Steuereinnahmen als Basis für den Staatskredit rapide wegschmelzen lässt. Wenn der Staat als „letzte Instanz“ die absterbende Nachfrage erwecken soll, muss er gegen alle Vorsätze die Notenpresse anwerfen. Das „Abwerfen von Geld aus Hubschraubern“ wird dann nicht mehr durch die finanzkapitalistischen Institutionen gefiltert, sondern die Notenbanken müssen direkt aus dem Nichts geschöpftes formales Geld an den Staat überweisen.

Die deutsche Debatte über „Konsumgutscheine“ von 500 Euro für jeden erwachsenen Bürger lässt ahnen, wohin die Reise geht. Die eingefleischten Marktwirtschaftler wissen gar nicht, was sie sagen, wenn sie zu Recht behaupten, dass solche Maßnahmen verpuffen. Auf Dauer gestellt müssen sie die Hyperinflation entfesseln. Das ist nur eine andere Form der „Entwertung des Werts“ als die Entwertung von überflüssiger Arbeitskraft oder von industriellen „Überkapazitäten“. Die systemkonforme Alternative könnte allerdings einzig darin bestehen, den Kapitalismus als gesellschaftliches Verhältnis so zu negieren, dass die Mehrzahl der Menschheit mangels „Finanzierungsfähigkeit“ verhungern muss. Aber diese Option, die im Kriterium der „regulären Finanzierbarkeit“ lauert, ist nicht nur aus legitimatorischen Gründen unmöglich. Der Kapitalismus bleibt auf eine ineinandergreifende „gesellschaftliche Gesamtarbeit“ (Marx) angewiesen, die seine Akkumulation trägt. Zwar ist absehbar, dass die staatliche Krisenverwaltung den Widerspruch bis zur letzten Konsequenz ausagiert und das unbrauchbar gewordene Menschenmaterial auf immer dünnere Hungerrationen auch um den Preis von blutigen Aufständen setzen will. Aber damit kann der ökonomische Selbstwiderspruch des Kapitals nicht bewältigt werden. Die realparadoxe Logik der „Verwertung des Werts“ erlischt an ihrer inneren Schranke, die niemand wahrhaben möchte.

Wenn 2009 die historische Krise des Weltkapitals manifest wird, kann der zwanzigste Jahrestag des realsozialistischen Zusammenbruchs keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Das Ende des östlichen Staatskapitalismus war nur eine Etappe in der Krise des Weltmarkts. Der zweite Epochenbruch dementiert nicht den ersten, sondern bildet dessen Fortsetzung; das „Schwarzbuch“ war genau auf dem Scheitelpunkt zwischen den beiden historischen Zäsuren erschienen. Die Siegeseuphorie der westlichen Ideologen unterlag einer optischen Täuschung. Nicht eine staatsbürokratische Modulation der kapitalistischen Vergesellschaftung war das Problem, sondern deren basaler Formzusammenhang selbst, der im Osten genauso existiert hatte. Ungewollt ist der „liberale“ Marktkapitalismus dort angelangt, wo er seinen vermeintlichen Gegenpart vermutet hatte. Wenn von einem „Wallstreet-Kommunismus“ oder einem „Finanzmarkt-Sozialismus“ die Rede ist, verweist das auf die kapitalistische Staatsillusion, der auch die traditionelle Linke anheimgefallen ist. Der Staat kann aber nur die immanenten Widersprüche des Kapitalismus auf eine allgemeinere Ebene des Geldsystems erheben, ohne sie wirklich zu bewältigen. Mit der Rückverlagerung auf den Staatskredit befindet sich das Weltkapital unversehens in einer ähnlichen Lage wie die zahlungsunfähig gewordene staatskapitalistische Planbürokratie der DDR 1989 und der Sowjetunion 1991. Aber im Unterschied zu diesem weltregionalen Block kann sich der „authentische“ westliche Kapitalismus nicht in eine höhere Ordnung des warenproduzierenden Weltsystems auflösen, weil er diese selber ist.

In den ersten Schüben der heraufdämmernden großen Weltwirtschaftskrise Ende 2008 dominieren immer noch die ideologischen Illusionen, die den historischen Charakter der inneren Schranke kapitalistischer Vergesellschaftung unbedingt verkennen wollen. Plötzlich soll der ehemalige „Magier“ Alan Greenspan den Sündenbock spielen. In einer Verkehrung von Ursache und Wirkung werden einerseits die neoliberale Deregulierung und andererseits die Dollarschwemme der US-Notenbank für den Kriseneinbruch verantwortlich gemacht. Diese Argumentation ist grotesk inkohärent, denn mit der Kritik an der Öffnung der Geldschleusen meldet sich noch einmal das doktrinäre neoliberale „Gewissen“ zu Wort, während es sich andererseits durch die Kritik an der Deregulierungspolitik von zwei Jahrzehnten selber dementiert. In Wirklichkeit geht es gar nicht um die politische Form der Regulation, sondern um die mangelnde Verwertungssubstanz selbst. Hätte es die Enthemmung der Finanzmärkte nicht gegeben, wäre das „finanzgetriebene“ Wachstum von Anfang an nicht möglich gewesen; und hätte Greenspan den Monetarismus nicht aufgegeben, wäre der Zusammenbruch schon einige Jahre früher gekommen. In ihrer Verzweiflung machen die Notenbanken jetzt erst recht genau das, was gleichzeitig an Greenspan gescholten wird.

Da sich an den Verwertungsbedingungen in der Folge der 3. industriellen Revolution nichts geändert hat, sind alle Prognosen der Wirtschaftsinstitute über eine „Erholung“ nach ein oder zwei Jahren ökonomischer Depression aus der Luft gegriffen. Solche Überlegungen speisen sich mangels Einsicht in den inneren Selbstwiderspruch des Kapitals einzig und allein aus einem vagen konjunkturellen Erwartungshorizont. Wir haben es aber längst nicht mehr mit einem klassischen Konjunkturzyklus zu tun, der nun wieder mit den Mitteln einer exhumierten keynesianischen Staatsintervention zu bewältigen wäre. Dass es der Staat nicht richten kann, zeigt sich schon an der Preisgabe der ohnehin aufgeweichten Ziele einer Begrenzung von Schadstoff-Emissionen im Namen der Arbeitsplätze, die trotzdem wegbrechen werden. Auch die 2007 gekürte „Klimakanzlerin“ Merkel will von den guten ökologischen Vorsätzen nicht mehr viel wissen. Der Staat ist nur die zusammenfassende Instanz von „abstrakter Arbeit“ und Mehrwertproduktion; er kann der Logik seiner Voraussetzungen nicht entkommen. Wenn er angesichts der ökonomischen Krise in der Bewältigung der äußeren Naturschranke versagen muss, gilt dasselbe für die innere ökonomische Schranke. Darüber hinaus hat die Globalisierung der Betriebswirtschaft und die Konstitution eines Weltkapitals in der Epoche der 3. industriellen Revolution und der Finanzblasen-Ökonomie den formalen Rahmen staatlicher Regulation längst durchbrochen. Die Zauberlehrlinge der modernen Voodoo-Ökonomie sind auch deshalb mit ihrem Latein am Ende, weil es auf der Weltebene unter kapitalistischen Bedingungen keine zusammenfassende Instanz geben kann.

Die Geschichte des Kapitalismus war die Geschichte der sogenannten Modernisierung, deren Inhalt darin bestand, die Welt nach kapitalistischen Kriterien zuzurichten und der blinden Dynamik einer konkurrenzgesteuerten Produktivkraftentwicklung zu unterwerfen. Der verblichene „Realsozialismus“ vulgo Staatskapitalismus machte da keine Ausnahme. Seine spezifische bürokratische Regulationsweise auf Basis derselben ökonomischen Kategorien war nur dem Problem einer „nachholenden Modernisierung“ an der Peripherie des Weltmarkts geschuldet. Die Optik des bloß oberflächlich vorhandenen „Systemkonflikts“ ist historisch gegenstandslos geworden. Das Ende der „nachholenden Modernisierung“ war nur der Vorschein vom Ende der Modernisierungsgeschichte selbst. Die chinesische Exportindustrialisierung hatte schon keine nationalökonomische Grundlage und Entwicklungsperspektive mehr; sie bestand in der Amalgamierung von staatsbürokratischen Restbeständen und Elementen eines brutalen neoliberalen Billiglohn-und Minderheits-Kapitalismus mit Hilfe westlicher Investitionen, der seine kurzlebigen Erfolge nur im fragilen Zusammenhang der globalen Finanzblasen-Ökonomie feiern durfte. Der Zusammenbruch der Defizitkonjunktur trifft die in Wahrheit schmalen Export-Segmente der vermeintlichen Schwellenländer am härtesten; wahrscheinlich mit ähnlicher Wucht wie die von allen kapitalistischen Kernstaaten am meisten einseitig exportorientierte Gesellschaft der BRD. China kann weder zu einer „demokratischen Weltmarktnation“ mutieren, wie es vielfach erhofft wurde, weil die Voraussetzungen dafür im Orkus der Geschichte verschwinden; noch gibt es die Möglichkeit einer Rückkehr zum nationalen Staatskapitalismus, der an das Paradigma „nachholender Modernisierung“ in einer vorvergangenen Epoche gebunden war.

Nicht die „Rettung“ des Unrettbaren wird inflationär, sondern das „Ende“ der modernisierungsgeschichtlichen Konzepte. Das gilt auch für die sogenannte Postmoderne, deren Titel schon immer ein Etikettenschwindel war. Die entsprechenden philosophischen, ästhetischen und politischen Denkmuster im Wissenschaftsbetrieb und in eher symbolischen sozialen Bewegungen der Mittelschichtsjugend haben allesamt die politisch-ökonomischen Systemgrundlagen der Moderne nicht hinter sich gelassen, sondern sie nur ausgeblendet und verdrängt. Die Kritik der politischen Ökonomie war kein Thema mehr. Die harte negative Objektivität der ökonomischen Kategorien wurde in eine subjektive „Offenheit“ für alles und jedes umdefiniert. „Anything goes“ war die Parole. Die Geschichte sollte virtuell verfügbar sein. Wahrheit galt als „produzierbar“ und „verhandelbar“, ohne einen unverhandelbaren Grund in den Verhältnissen zu haben.

Überhaupt gewann die Ideologie der „Virtualität“ (auch in Bezug auf das virtuelle „second life“ im Internet), der „Kontingenz“ und „Ambivalenz“ eine hegemoniale Position. Der fetischistische „reale Schein“ des modernen warenproduzierenden Systems verklärte sich zur eigentlichen „immateriellen“ Realität, einschließlich der „immateriellen Arbeit“ in den Bestsellern eines Antonio Negri. Ökonomische Basis war die Zirkulationssphäre des ewigen Kaufens und Verkaufens, während das Substanzproblem der „abstrakten Arbeit“ nur in dem Sinn obsolet schien, dass es in den weiterhin kapitalistischen Verhältnissen keine Bedeutung mehr hätte. Der Begriff der „Substanz“ verfiel generell dem Verdikt, ein überholtes metaphysisches Konzept zu sein. Aber dieser „Antisubstantialismus“ oder „Antiessentialismus“ rechnete nicht mit dem realmetaphysischen Charakter der kapitalistischen Selbstzweck-Ökonomie, die auf der stets gesteigerten Verwertung von Arbeitskraft als Grundlage des systemnotwendigen „Wachstums“ beruht und sich davon nicht emanzipieren kann. Das ist eben kein Gegenstand, der im universellen Basar des Weltmarkts verhandelbar wäre.

Die soziale Basis bestand nicht nur in den Gelegenheitsspekulanten und kleinen Schuldenkönigen, sondern auch in den Downloader-Existenzen, perspektivlosen Mittelschichtssprößlingen mit illusionären Ambitionen und den hoffnungsvollen Erben fordistischer Geldvermögen, die gerade zu verdampfen beginnen. Das unübersehbar als Produkt des virtuellen Finanzblasen-Kapitalismus kenntlich gewordene postmoderne Denken, das schon im Prolog des „Schwarzbuchs“ kritisiert wird, blamiert sich an der harten Krisenrealität, die jetzt durch keinen medialen Berufsoptimismus mehr verdrängt werden kann. Auch das einschlägige soziologische Konzept einer „reflexiven Modernisierung“ (Ulrich Beck) hat sein Verfallsdatum überschritten, weil mit dem regulativen Sozialstaat seine Voraussetzung zerfällt. Die Postmoderne erweist sich als eine Art Hanswurstiade oder Farce am Ende der Modernisierungsgeschichte, nicht als deren Überwindung.

Wenn es sich bei der Krise des Weltkapitals nicht um ein konjunkturelles Phänomen, sondern um einen neuen Epochenbruch höheren Grades handelt, dann steht damit mehr zur Disposition als Arbeitsplätze und Geldeinkommen. Die Grenzen des modernen warenproduzierenden Systems sind auch die Grenzen seiner Vernunft, die zu historisieren ist. Es gibt keine transhistorische Vernunft, die im Kapitalismus zu sich gekommen wäre. Jede historische Formation bildet ihre spezifische Vernunftform aus, die nichts anderes ist als eine Synthetisierung der Weltwahrnehmung und des Verhältnisses zur Welt auf der Grundlage der jeweiligen Reproduktionsweise. Die Vernunft der Aufklärung, von der das moderne Denken zehrt und aus der das moderne Wissenschaftssystem hervorgegangen ist, bildete (mit Vorläufern im Protestantismus und in der frühmodernen Philosophie) jene elementaren Raster der Reflexion und des Handelns in der Welt aus, die sowohl ontologisch als auch erkenntnistheoretisch und ethisch dem Formzusammenhang des kapitalistischen Verwertungsimperativs entsprechen. Diese synthetisierende Vernunft als „Geld des Geistes“ hat sich historisch hoffnungslos überlebt und kann ihre eigenen Hervorbringungen nicht mehr beherrschen.

Kein bloßer Nebenaspekt dieser historisch begrenzten Vernunft ist es, dass sie in anderer Weise als ihre patriarchalischen Vorgänger eine spezifisch „männliche“ Denk- und Handlungsform enthält. Die scheinbar universellen und insofern auch geschlechtsneutralen politisch-ökonomischen Kategorien des Kapitals und die Rationalität des damit verbundenen Wissenschaftsbetriebs stellen in Wahrheit nur einen „androzentrischen Universalismus“ dar. Die von Anfang an männlich bestimmte Universalität der „abstrakten Arbeit“ und die dazugehörige, alle gesellschaftlichen Sphären durchdringende historische Vernunft gehen in sozialer Hinsicht nicht nur damit einher, dass Frauen bis heute auf allen Ebenen von Ökonomie, Politik, Wissenschaft und Kultur im Durchschnitt eher untergeordnete Positionen zugewiesen bekommen. Gleichzeitig wurden an den weiblichen Teil der Gesellschaft auch diejenigen Momente der sozialen Reproduktion delegiert, die nicht in der Logik von „abstrakter Arbeit“ und Mehrwertproduktion aufgehen können (familiale Tätigkeit oder „Hausarbeit“, Kindererziehung, Pflege und Betreuung im Nahbereich, allgemeine „Bemutterungsfunktionen“ etc.). Diese Momente sind von der offiziellen Gesellschaftlichkeit abgespalten, erscheinen nicht im universalistischen Kategoriensystem und gelten als minderwertig, insofern sie sich nicht in Geld darstellen lassen. Das so konstituierte „geschlechtliche Abspaltungsverhältnis“ (Roswitha Scholz) hat zusammen mit der kapitalistischen Dynamik eine Geschichte durchlaufen, in der es sich immer neu konfigurierte, ohne in seinem Kern überwunden zu werden.

Während in den Zeiten der kurzlebigen Nachkriegsprosperität und des expandierenden Staatskredits einige dieser sozialen Felder in öffentliche Institutionen der Sozial-, Pflege- und Betreuungsarbeit transformiert wurden, die auch wieder überproportional weiblich besetzt waren, hat der neoliberale Finanzblasen-Kapitalismus diese Bereiche als lästige Kostenfaktoren bereits eingeschnürt und abgebaut. Der finanzkapitalistische Krisen-Keynesianismus kann in dieser Hinsicht nicht neu durchstarten, bloß weil der Staat wieder das Szepter übernimmt. Im Gegenteil drohen gerade die „weichen“ sozialen Institutionen vollends unter die Räder zu kommen. Obwohl Frauen in den Bildungsabschlüssen mit  Männern gleichgezogen haben, entwertet die Krise ihre spezifischen Qualifikationen im Rahmen des sich auflösenden Sozialstaats am schnellsten und delegiert sie aus öffentlich bezahlten Funktionen wieder an die viel beschworene „kostenlose Mütterlichkeit“. Die weibliche Arbeitskraft wird auf neue Weise in die Zange genommen, indem sie nicht einfach „zurück an den Herd“ gehen, sondern außerdem noch (gerade bei Alleinerziehenden) als „Geldverdienerin“ im Billiglohnsektor herhalten soll, die der Armutsverwaltung  nicht zur Last fällt. Da die epochale Krise der „abstrakten Arbeit“ auch eine Krise der modernen Männlichkeit ist, kehren weltweit auf verschiedenen Niveaus des gesellschaftlichen Zerfalls in modifizierter Form militante patriarchale Verhaltensmuster zurück, an die sich sogar viele Frauen auf der Suche nach Halt klammern, obwohl die abverlangte Doppelrolle kaum lebbar sein kann.

Die Agonie des androzentrischen Universalismus bürgerlicher Vernunft ist nicht nur in geschlechtlicher Hinsicht weit mehr als eine Angelegenheit in der dünnen Höhenluft philosophischen und wissenschaftlichen Denkens. Nach Marx handelt es sich um „objektive Daseinsformen“, denen ebenso „objektive Gedankenformen“ entsprechen, wie sie in einem historischen Prozess durch die kapitalistische Domestikation des „Menschenmaterials“ verinnerlicht worden sind und ohne theoretische Reflexion auch das Alltagsbewusstsein bestimmen. Deshalb kann es keine selbstläufige soziale Emanzipation von den absurden Zumutungsverhältnissen geben. Die innere Schranke der herrschenden Daseinsformen wird zuerst in den dazugehörigen gesellschaftlichen Gedankenformen verarbeitet. Daraus speisen sich sowohl die grassierenden illusionären Bewältigungskonzepte als auch ideologische Projektionen der Ausgrenzung und der Suche nach Sündenböcken. Je dramatischer sich die ökonomische Weltsituation zuspitzt, desto hemmungsloser wird in der Krisenkonkurrenz das destruktive ideologische Reservoir der Modernisierungsgeschichte geplündert; von sexistischen bis zu nationalistischen, rassistischen und antisemitischen Deutungsmustern. Nicht zuletzt die „anständige Mitte“ vergisst alle oberflächlichen Toleranzpostulate, wenn es ihr selber an den Kragen geht.

Das „Schwarzbuch“ endet daher ein wenig elegisch, weil es keine soziale Kraft in Sichtweite hat, der die soziale Emanzipation von diesen Verhältnissen zugetraut werden könnte. Daran hat sich auch zehn Jahre später nichts geändert. Die entscheidende Botschaft ist aber, dass dem Kapitalismus eine objektive Potenz zur Selbstzerstörung innewohnt, die sich auch dann realisiert, wenn niemand mit ihm Schluss machen will. Das musste der Skandal gerade für ein „kapitalismuskritisches“ Denken sein, das dem feindlichen Gesellschaftssystem schon immer die Fähigkeit zur stetigen Regeneration bescheinigen wollte, sofern nicht ein Willenssubjekt auftaucht, das den Drachen erlegt. Darin besteht die Grundüberzeugung einer an die Modernisierungsgeschichte gebundenen Gesellschaftskritik, die sich selbst ebenso wie ihren Gegenstand missversteht. Sie glaubt an das ewige Leben des Kapitalismus aus sich heraus vor allem deswegen, weil sie selber in seinen politisch-ökonomischen Kategorien und seiner historisch begrenzten Vernunft befangen ist. Die bisherige Linke steht genauso hilflos vor der inneren Schranke der Verwertungsmaschine wie die kapitalistischen Eliten.

Schien 1999 die große Krise des Weltsystems noch in nebelhafter Ferne zu liegen, so ist sie jetzt empirisch handgreiflich geworden. Die Billionensummen der staatlichen Stützungsaktionen können aufgrund ihrer zeitverzögerten Wirkung die globale Depression schon nicht mehr auffangen. Zwar ist es durchaus möglich, dass nach einem schweren Einbruch die aus dem Nichts geschöpfte formale Geldmasse eine von der Inflation geheizte Scheinkonjunktur entfesselt. Aber ein fiktives Wachstum, das in naher Zukunft mit rapider Geldentwertung verbunden ist, lässt sich nicht noch einmal über mehr als ein Jahrzehnt durchhalten. Es wird sicher eines langen und qualvollen Prozesses bedürfen, um die „objektiven Gedankenformen“ des modernen warenproduzierenden Patriarchats abzustreifen und zu einer anderen Vernunft zu gelangen. Soll die Gesellschaftskatastrophe eingedämmt werden, erfordert der neue Epochenbruch dennoch schon kurzfristig praktische Maßnahmen, die der kapitalistischen Rationalität zuwider laufen. Wenn General Motors zahlungsunfähig werden kann, ist das auch bei den großen Transportunternehmen und Lebensmittelketten möglich. Es ist nicht mehr undenkbar, dass die Menschen sogar in den Zentren vor leeren Supermarktregalen stehen. Mangels „Finanzierbarkeit“ kann auch die medizinische Versorgung storniert, Wasser und Strom abgestellt oder der Wohnraum für Millionen gekündigt werden, obwohl alle materiellen Ressourcen vorhanden sind. Will die kapitalistische Menschheit sich nicht selber zum Schicksal des Tantalos verdammen, der ewigen Hunger und Durst leiden muss, weil reichliche Speisen und Getränke durch Zauberhand vor seinem Zugriff zurückweichen, so muss sie eine Transformation in Angriff nehmen, die den konkreten Reichtum von seiner abstrakten Form befreit.




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