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Der doppelte Marx - Kritik des Traditionsmarxismus


Zweiter Teil einer Stellungnahme zu linken Kritiken am Manifest gegen die Arbeit und am Schwarzbuch des Kapitalismus. Erschienen ist die Artikelreihe in der konkret. Im ersten Teil schreibt Robert Kurz über die Abwehrreaktionen des Arbeitermarxismus "Wir haben ihn so geliebt, den Klassenkampf".

aus: Konkret 6/2000

Robert Kurz

Auschwitz als Alibi?
Die letzten Gefechte der Restlinken (2. Teil)


Natürlich kann die zähe Weigerung, sich dem unausweichlichen wertkritischen Paradigmenwechsel der Kapitalismuskritik zu stellen, auch andere Formen annehmen als die einer klassenkämpferischen Nostalgie wie bei MG-Huisken. Der größere Teil der Restlinken hat es längst vorgezogen, sich von der expliziten Kritik der politischen Ökonomie leise zu verabschieden. Als Ersatzhandlung versuchen nicht wenige ideologische Heimwerker, die Ruine des unaufgehobenen Arbeiterbewegungsmarxismus mit allerlei inkompatiblen, vermeintlich "modernisierenden" Anbauten und Stützbalken zu verzieren: vom popkulturellen Räsonnement über die Kultursoziologie eines Bourdieu bis zum poststrukturalistischen "Diskurs".
Der an sich berechtigte Impuls, den in der traditionell "ökonomistischen" (genauer: soziologistischen) Linken unterbelichteten kulturellen Aspekt kapitalistischer Vergesellschaftung kritisch aufzugreifen, hat in diesen Erscheinungsformen nichts mit einer Überwindung des obsolet gewordenen Arbeiterbewegungsmarxismus zu tun. Denn die postmodernen "Kulturmarxisten", die eigentlich schon keine mehr sind, befinden sich höchstens mit ihren extravaganten Sonnenbrillen auf der Höhe der Zeit; theoretisch können und wollen sie sich in gar keiner Weise mit dem als historische Aufgabe anstehenden Übergang vom klassensoziologisch verkürzten zum wertkritischen Rahmen radikaler Gesellschaftstheorie vermitteln. Ganz im Gegenteil erleben sie diese Aufgabe genau wie die sitzengebliebenen Klassenkämpfer als Bedrohung. Die kulturelle Thematik erscheint nicht im neuen Kontext, sondern als dessen Abwehr, und verwandelt sich damit in eine reine Alibi-Veranstaltung. Der völlig unaufgearbeitete alte Ökonomismus wird so lediglich durch einen ebenso bornierten Kulturalismus ersetzt.
Besonders krass tritt diese billige Auswechslung der theoretischen Reduktion beim Thema Auschwitz in Erscheinung. Der mehr oder weniger kulturalistisch orientierte Teil der Restlinken will ganz offensichtlich geradezu reflexartig jeden Versuch wegbeißen, die Faschismustheorie wertkritisch zu reformulieren. Hatte die Linke in der Vergangenheit das Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus vor allem auf krude sozialökonomische "Interessen des Kapitals" und/oder oberflächliche soziologische Transformationsprozesse des kapitalistischen Herrschaftsapparats in der Weltwirtschaftskrise zurückgeführt, während die Macht der biologistisch-antisemitischen Massenideologie ebenso unterbelichtet blieb wie die spezifisch deutsche Geschichte, so verschwindet nun genau umgekehrt der kapitalistische Bedingungszusammenhang des Nazi-Regimes in einem voraussetzungs- und zusammenhanglosen "rein deutschen" kulturell-ideologischen Sachverhalt.
Kein Wunder, daß aus dieser Ecke Günther Jacob das "Schwarzbuch" besonders heftig attackieren muß, weil darin ein systematischer Zusammenhang zwischen kapitalistischer Entwicklungsgeschichte und spezifisch "deutscher Ideologie" hergestellt (also nicht das eine gegen das andere ausgespielt) wird. Als "marxistischen" Ausweis, beim einschlägig "geschulten" Publikum Einverständnis heischend, dekretiert Jacob, das "Schwarzbuch" sei "auf einer Revision der Marxschen Werttheorie aufgebaut" - ohne auch nur anzudeuten, was das heißen soll. Für das, was er selber noch zu sagen hat, braucht er allerdings überhaupt keine Werttheorie mehr, weder eine Marxsche noch eine revidierte. Mit der alten linksradikalen Kapitalismuskritik kokettiert er nur bei taktischem Bedarf; und der abgehalfterte 70er-Jahre-Marxismus wird als Spiel- und Vorzeigemarke allein zu dem Zweck hervorgeholt, den Begriff der politischen Ökonomie für die Entsorgung von deren Kritik zu bemühen.
Explizit figurieren bei Jacob die kritischen Begriffe der Wertvergesellschaftung nur noch als angeblich "durch den Holocaust unwahr gewordene Kategorien". Fast hat es den makaberen Anschein, als fände die Ermordung von sechs Millionen Juden ausgerechnet darin ihren Sinn, daß gewissen deutschen Linken das Privileg beschert wird, die schäbig gewordene klassenkämpferische Altidentität locker kulturalistisch übertünchen zu können. Jacob ist kaltschnäuzig genug, Auschwitz nicht nur für die Beerdigung der radikalen Ökonomiekritik zu instrumentalisieren, sondern in diesem Sinne zu allem Überfluß auch noch Adorno als Kronzeugen aufrufen zu wollen, den er ansonsten in zentralen theoretischen Fragen als toten Hund behandelt. In Wahrheit hat die Kritische Theorie nie aufgehört, Auschwitz in vermittelter Beziehung zum warenproduzierenden System zu sehen, während Jacobs Position in genauer Umkehrung des bekannten Diktums von Horkheimer auf die Forderung hinausläuft: Wer von Auschwitz reden will, soll hinfort vom Kapitalismus schweigen.
Um seine Flucht in den Kulturalismus als überlegene Position darstellen zu können, greift Jacob zu einem fast unglaublichen Mittel: er fälscht regelrecht die Argumentation des "Schwarzbuchs" zum Nationalsozialismus um und lügt dem Publikum vor, dort stünde das exakte Gegenteil von dem, was tatsächlich gesagt wird. So behauptet er, das "Schwarzbuch" habe im Kern die "historisierende Erklärung" von Götz Aly mit positivem Bezug auf Nolte (!) übernommen, worin Auschwitz als singuläre Tat bestritten und in die allgemeinen Modernisierungsverbrechen des 20. Jahrhunderts eingeordnet wird. Genau umgekehrt arbeitet das "Schwarzbuch" gerade anhand der Geschichte der Zweiten industriellen Revolution die entscheidende Differenz von Auschwitz zum sowjetischen Gulag wie zum Fordismus der USA heraus und rechnet dabei mit Nolte weitaus gründlicher ab als dessen linksdemokratische BRD-Hauskritiker. Jacob geht in seiner groben Umfälschung noch weiter und behauptet, im "Schwarzbuch" werde die Vernichtung der Juden "funktionalistisch" als "Mittel zu einem anderen Zweck" (Modernisierung) dargestellt, aber dabei falle es dem Autor dann schwer, die "gewohnten Nutzenkalküle hinter den Erscheinungen" auszumachen und "plötzlich" scheine "alles irrational". Genau umgekehrt zeigt das "Schwarzbuch" (u.a. mit Bezug auf Moishe Postone), daß und warum Auschwitz mit keinerlei "Nutzenkalkül" erklärt werden kann, sondern in einer tiefen Irrationalität und in Ressentiments wurzelt, deren Elemente einerseits die Wertvergesellschaftung als solche von Anfang an gekennzeichnet haben, andererseits aber in Deutschland seit Herder und Fichte mit einem spezifischen Inhalt ausgebildet wurden: nämlich der kulturalistisch-rassistischen, blutsideologischen Legitimation der deutschen Nationsbildung. Dieser Zusammenhang, der sich wie ein roter Faden durch das "Schwarzbuch" zieht, wird von Jacob vollständig eskamotiert.
Die Fälschung ist so offensichtlich, daß sie nicht als bewußtes denunziatorisches Kalkül unterstellt werden muß. Viel eher kann bei Jacob eine Art Wahrnehmungscrash vermutet werden, der auf sein eigenes Vorverständnis zurückzuführen ist. Als weiteres Opfer einstiger MG-"Schulung" hat er genau jenen positivistisch reduzierten Begriff von Wertvergesellschaftung, in dem diese wie bei Huisken in "rationalen Nutzenkalkülen" von "Klasseninteressen" aufgeht. Weil Auschwitz damit aber nicht erklärt werden kann, wird es für Jacob zur Widerlegung der Kapitalismuskritik. Jeder, der überhaupt einen Zusammenhang zwischen fetischistischer Wertform und Auschwitz herstellt, muß das Menschheitsverbrechen aus dieser Sicht auf "rationale Nutzenkalküle" reduzieren, und genau das liest Jacob dann in das "Schwarzbuch" hinein. Er merkt gar nicht, daß es sich um sein ureigenes Problem handelt, das er anderen anhängen will.
Deshalb erscheint ihm dann die Analyse des Antisemitismus mit Bezug auf die abstrakte Arbeit als "Einengung", während es sich in Wirklichkeit um eine Erweiterung handelt. Denn dem Arbeiterbewegungsmarxismus mußte aufgrund seiner Positivierung und Ontologisierung der "Arbeit" nicht nur die antisemitische Projektion des negativ-abstrakten Charakters dieser "Arbeit" auf ein angebliches "jüdisches Wesen" entgehen, wobei seine Faschismustheorie auf "Klasseninteressen" verkürzt blieb; er enthielt auf diese Weise auch - und nicht erst seit den Ausfällen von Engels gegen die "Kuponschneider" - selber bestimmte Elemente der "politischen Ökonomie des Antisemitismus" (ohne damit einfach identisch zu sein). Erst eine radikale Wert- und damit Arbeitskritik kann diesen Zusammenhang aufdecken und gleichzeitig analog zu den allgemeinen Subjektformen von Konkurrenz und abstrakter Arbeit den klassenübergreifenden Charakter der antisemitischen Ideologiebildung (und der Ideologiebildung überhaupt) erklären. Die Marxsche Aussage, daß das Sein das Bewußtsein bestimmt, wird so von der klassensoziologischen Verkürzung befreit und auf die grundsätzliche kategoriale Formebene der Gesellschaft gehoben. Jacob dagegen läßt den analytischen Bezug zu dem auf einen "Wirtschafts"- und "Interessen"-Gegenstand reduzierten Wertbegriff bloß fallen, um das, was an Auschwitz erklärt werden kann, in eine kulturalistische Mystifikation zu verwandeln.
Im Sinne einer radikalen Kritik, die den Wert nicht wirtschaftstheoretisch verdinglicht, sondern als allgemeine Subjektform begreift, kann das Verhältnis von Kapitalismus, antisemitischer Ideologie und Holocaust überhaupt erst historisch bestimmt werden. Die moderne antisemitische Ideologie als solche ist dabei wie der Rassismus in der bürgerlichen Gesellschaft seit der Aufklärung nachzuweisen und insoweit ein universelles kapitalistisches Phänomen. Die Nazis integrierten nicht nur die sozialdarwinistische Ideologie des angelsächsischen Liberalismus, sondern eine ganze Reihe von repressiven Elementen der Modernisierung (darunter z.B. das Konzentrationslager). Insofern ist Auschwitz ein Bestandteil der gesamtkapitalistischen Geschichte. Allein in Deutschland aber wurde der Antisemitismus im Kontext der blutsideologisch legitimierten Nationsbildung ein eliminatorischer. Insofern ist Auschwitz ein wesentlicher Bestandteil der spezifisch deutschen Geschichte. Zur realen staatsprogrammatischen Praxis des industriellen Massenmords wiederum wurde dieser eliminatorische deutsche Antisemitismus eben nicht im 19. Jahrhundert, sondern erst im Kontext von Weltwirtschaftskrise und Nazi-Fordismus. Insofern ist Auschwitz auch ein Bestandteil der Zweiten industriellen Revolution. Es ist ganz falsch, diese Bezüge gegeneinander auszuspielen, wie etwa in der Suggestivfrage zum einschlägigen Workshop für das Konkret-Sommergelage, ob der Holocaust "letztlich eine Folge der allgemeinen kapitalistischen Katastrophe" gewesen sei "oder" eine "Konsequenz des spezifisch deutschen Antisemitismus". Das eine ist gar nicht ohne das andere zu denken.
In diesem Zusammenhang hat eine Analyse ihren Stellenwert, die wie Gerhard Scheits Buch über die Dramaturgie des Antisemitismus im wertkritischen Kontext den spezifisch eliminatorischen Charakter dieser Ideologie durch die deutsche Kulturgeschichte hindurch verfolgt. Aber genau dazu ist der Kulturalismus eines Jacob grundsätzlich nicht in der Lage, denn in seiner poststrukturalistisch verflachten Weltsicht gibt es gar keine Geschichte mehr, jedenfalls nicht als Kontinuität eines sich entfaltenden Prozesses, sondern nur noch die Oberfläche einer bloß äußerlich aufeinander geschichteten "Jeweiligkeit" von zeitlichen Erscheinungen, die immer schon unmittelbar ihr eigenes Wesen sein sollen. In diesem Sinne löst Jacob Auschwitz nicht nur vom Kapitalismus, sondern sogar von der Kontinuität der deutschen Geschichte ab. Der Holocaust wird so gerade nicht polemisch gegen die apologetischen Historisierer als unaufgehobene Geschichte begriffen, die nur durch eine kategorische Kritik der Wertvergesellschaftung zu überwinden wäre, sondern zu einem ahistorischen Spielzeug des "Diskurses" gemacht.
Auch das strukturelle Verhältnis von Wertform und Ideologiebildung kann erst der wertkritische Zugang erhellen. Weil für Jacob (wiederum im Einklang mit Huisken) die Beziehung von "automatischem Subjekt" und handelnden Menschen, von Subjektform und Willensinhalten ein Buch mit sieben Siegeln bleibt, muß er das "Schwarzbuch" so lesen, als würden darin nicht die Individuen, sondern die abstrakten Kategorien selber unmittelbar "handeln" und damit die realen Personen als willenlose Objekte "des Werts" entschuldigen. Während es aber hinsichtlich der sozialen Interessen gerade die subjektiven Willensinhalte selber sind, die in der objektivierten Subjektform der Konkurrenz weitgehend bewußtlos den Verwertungsprozeß exekutieren, verlangt die Ideologiebildung den Subjekten in derselben Form eine viel weitergehende Bewußtseinsleistung ab. Denn dabei handelt es sich ja nicht um den alltäglichen Vollzug, sondern um eine bewußt verarbeitende Reaktion auf die praktisch erfahrene Negativität und die Widersprüche der Wertvergesellschaftung.
Die ideologischen Willensinhalte sind deshalb im Unterschied zu den Institutionen von Geld, Markt und Staat auch keineswegs formal aus dem Wert "abzuleiten". Wer die Irrationalität der Wertform projektiv antisemitisch und damit seinerseits irrational interpretiert, "will" das auch bewußt zwecks Entlastung von bedrohlichen Widersprüchen und ist insofern nicht argumentativ durch "Aufklärung" zu erreichen, sondern nur zu bekämpfen. Das ändert aber nichts daran, daß diese "frei gewählten" Inhalte erstens überhaupt nur in bezug auf das zu erklären sind, worauf sie eine keineswegs automatische oder zwangsläufige Reaktionsbildung des Bewußtseins darstellen, und daß diese Bewußtseinsinhalte zweitens immer eine bestimmte zusammenhängende (eben auch spezifisch deutsche) Geschichte haben. Jacob eliminiert beides; er löst die antisemitische Ideologiebildung wie ihre mörderische deutsche Variante von ihrem gesellschaftlichen Gegenstand ab und macht sie zu einem Akt der voraussetzungslosen Beliebigkeit. Damit landet er bei der reinen bürgerlichen Individualmoral, die Gesellschaftskritik durch ethische Imperative ersetzt - ein antireflexiv reduziertes Denken, das Konjunktur hat, weil es bestens zur mikroökonomischen "Wende" des Neoliberalismus paßt. Beim Blick durch die Thatcher-Brille kann dann nur noch das atomisierte Einzelsubjekt erscheinen - das "selbstverantwortliche Individuum", und sonst gar nichts.






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