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EXIT! Krise und Kritik der Warengesellschaft
Heft 8, Juli 2011
Inhalt
Editorial
Roswitha Scholz
Das Abstraktionstabu im Feminismus
Wie das Allgemeine des warenproduzierenden Patriarchats vergessen wird
Kurze Skizze der feministischen Theoriebildung seit
„68“ • Das Problem der
Selbstrelativierungssucht im Feminismus und die Wert-Abspaltung als
Grundprinzip des warenproduzierenden Patriarchats • Das
Grundproblem des Relativismus und die Unumgänglichkeit
dialektisch vermittelter Abstraktion vor dem Hintergrund der
Wert-Abspaltungskritik • Selbstbehauptung statt
Selbstverleugnung als Voraussetzung der Selbstrelativierung •
Das vergessene warenproduzierende Patriarchat
Daniel Späth
Das Elend der Aufklärung
Antisemitismus, Rassismus und Sexismus bei Immanuel Kant
Teil I: Transzendentalität und
Zirkulationssubjektivität
1. Das Rätsel um das „transzendentale
Subjekt“ • 2. Die Antinomie der Vernunft oder Das
dichotomische Verhältnis von Theorie und Praxis • 3.
Die fetischistische Struktur der Ware • 4. Freiheit,
Gleichheit, Repression • 5. Die negative Dialektik
bürgerlicher Subjektivität
Tomasz Konicz
Europas Hinterhof in der Krise
Zusammenbruch und Deindustrialisierung nach 1989 • Periphere
ökonomische Integration Osteuropas innerhalb der
internationalen Verwertungsketten westlicher Konzerne •
Nachholende und prekäre Automobilmachung Osteuropas •
Kapitalzuflüsse nach Osteuropa • Banken -
Finanzsektor • Der osteuropäische Defizitkreislauf 99
• Migrationswellen als Krisenventil • Auswirkungen
der Krise auf Mittelosteuropa
Robert Kurz
Es rettet euch kein Leviathan
Thesen zu einer kritischen Staatstheorie. Zweiter Teil
23. Warum der Anarchismus keine Alternative ist. Die begriffslose
Staatskritik von Bakunin u. Co. • 24. Die begrifflich
unsaubere Auseinandersetzung mit den Bakunisten • 25. Der
Kampf um die Lebensbedürfnisse im Kapitalismus und die
politische Selbst-Konstitution • 26. Die „Diktatur
des Proletariats“ und das staatstheoretische Defizit
• 27. Das Trauma der Pariser Kommune und seine Legende
• 28. Das Problem der gesellschaftlichen Synthesis als
„black box“ der Genossenschaftsideologie •
29. Die methodologische Subjektivierung und
Individualisierung der transzendentalen Willensform • 30. Die
Krisendiktatur des Leviathan oder der Ausnahmezustand als
Voraussetzung und Konsequenz des „allgemeinen
Willens“ • 31. Politik als existentielle
Feindbestimmung • 32. Ausnahmezustand und
Politikfähigkeit • 33. Exekutoren und Exekutierte des
Ausnahmezustands • 34. Menschheitskatastrophe, bewusster
Not-Pragmatismus und linksdemokratische Rettungsideologie •
35. Das Elend des Rechtspositivismus • 36. Die positive Staatsgläubigkeit der Sozialdemokratie und ihre Metamorphose
Elmar Flatschart
Meso-Theorie des Staates ohne kategoriale Kritik?
Bob Jessop's "The Future of the Capitalist State"
Staat, Kapitalismus, der kapitalistische Staat - Theoretische
Grundlagen • Der KWNS und seine Krise • Der
Schumpeterianische Wettbewerbsstaat • Der Wohlfahrtsstaat im
Zeichen des „Workfare“-Regimes • Zur
räumlichen Transformation des Staates •
Metagovernance • Argumente für den Übergang
zum SWPR • Kritik
Elmar Flatschart
Kleine Reflexion des Re-Thinking Marx Kongresses
Über Themenverfehlungen, die Wichtigkeit der Unterscheidung
von Fetisch und Ideologie und die "Dialektik der Politik"
Zwischen akademischer Konferenz und Event • Zum Einstieg und
den Themenverfehlungen • (Keine) Überraschungen mit
und ohne Gender • Das Kernproblem der Konferenz: Die
Verhältnissbestimmung von Fetisch- und Ideologiekritik
• Zum Abschluss: Über die (Kritik der) Politik
Anselm Jappe
Die Situationisten und die Aufhebung der Kunst: Was bleibt davon nach
fünfzig Jahren?
JustIn Monday
Frauenbild und Frauenbilder
Zum Verhältnis von Kulturwissenschaft und Feminismus,
aufbauend auf Antje Flemmings Kritik der Filme Lars von Triers
I Der Film und die feministische Kritik • II Die
geschlechtliche Abspaltung im Melodram • III Feministische
Kulturtheorie oder subkritische Formanalyse • IV Die Rolle der
Weiblichkeit bei der Rückkehr der Tradition in die Geschichte
• V Die Differenz von Realität und Fiktion in der
feministischen Kritik
Udo Winkel
Divergenzen des Helmut Dahmer
Udo Winkel
Geld im Mittelalter
Udo Winkel
Zwischen Feuerbach und der Kritik der politischen Ökonomie
Udo Winkel
Von Hegel zu Ludwig Erhard
EDITORIAL
Trotz aller vordergründigen Entwarnungsrhetorik vom
„Ende der Krise“ und „neuen
Aufschwung“ pfeifen es - ganze fünfundzwanzig Jahre
nach dem Erscheinen der „Krise des Tauschwerts“ von
Robert Kurz - die Spatzen und mancherlei andere Vögel von den
Dächern, dass unsere Produktions- und
Wirtschaftsweise sich nicht mehr lange wird aufrechterhalten lassen.
Eine Melodie wird daraus freilich eher selten, weil weitgehend
Unklarheit darüber herrscht, worin diese Produktionsweise denn
eigentlich besteht.
Da sind auf der einen Seite die VertreterInnen des
„nachhaltigen Wachstums“ einer
„ökologischen Marktwirtschaft“, die zwar -
wie etwa der grüne Ministerpräsident Winfried
Kretschmann im SPIEGEL vom 16.5.2011 - zurecht darauf hinweisen, dass
es kein dauerhaft tragfähiges Vorgehen zur Heizung des
Wohnzimmers sein kann, dessen Dielen zu verfeuern, dann aber
hinsichtlich der Frage, warum denn wohl unsere ach so effektive
Marktwirtschaft nach genau dieser Methode vorgeht, die Schuld beim
Bruttoinlandsprodukt (BIP) als falschem Wachstumsindikator suchen und
glauben, die Welt käme schon wieder in Ordnung, wenn wir erst
die richtige Maßeinheit für Wachstum gefunden
hätten. Weshalb denn auch in aller Welt und auf verschiedenen
Ebenen Kommissionen mit dem Auftrag eingesetzt wurden und werden, nach
dieser Maßeinheit zu suchen.
Das erscheint doch ein bisschen zu
simpel. Warum um Himmels willen sollte das aus allen Fugen geratene
kapitalistische Weltsystem in seinem zerstörerischen
Selbstlauf einhalten, nur weil wir die Methode ändern, mit der
er gemessen wird? Offensichtlich handelt es sich bei der Suche nach der
neuen Maßeinheit um eine Ersatzhandlung: Wenn wir schon eine
Transformation der herrschenden Gesellschaftsordnung für
undenkbar halten, weil wir ihre Kategorien (wie Arbeit, Warenform,
Wert, geschlechtliche Abspaltung), wo sie uns denn überhaupt
ins Bewusstsein treten, als naturgegeben ansehen, dann putzen wir uns
doch erst einmal die Brille, das kann ja immerhin nicht schaden.
Nützen wird es allerdings auch
nichts. Denn wie immer die Alternative zum BIP am Ende auch aussehen
mag, sie wird nichts daran ändern können, dass das
Ziel allen kapitalistischen Wirtschaftens in der Erzielung
möglichst hoher einzelbetrieblicher Profite liegt,
erfolgreiches Wirtschaften also Wachstum voraussetzt, und zwar Wachstum
der gesamtgesellschaftlichen Wert- und Mehrwertmasse, das jedoch - bei
wachsender Produktivität - in noch stärkerem
Maße ein Wachstum des stofflichen Outputs und
Ressourcenverbrauchs erforderlich macht. Oder umgekehrt: Nachhaltigkeit
auf der stofflichen Ebene ließe sich nur durch Inkaufnahme
eines sinkenden Arbeitsvolumens erreichen, damit aber eben auch einer
sinkenden Wert- und Mehrwertmasse, schließlich ist Arbeit die
Substanz des Kapitals. Aber das erzähle mal einer den
Grünen. Die schwadronieren lieber von der neuen deutschen
Weltmarktführerschaft bei den grünen Produktlinien
und - auf Arbeit, Arbeit, Arbeit fixiert wie alle anderen auch - den
vielen neuen Arbeitsplätzen, die daraus „bei
uns“ entstehen.
Die nicht erst seit dem Crash 2008 verbreitete Ahnung, dass die nur
noch durch immer höher sich auftürmende Schulden am
Leben gehaltene Weltwirtschaft jederzeit abstürzen kann, hat
auf der anderen Seite eine Kritik hervorgebracht, die sich selbst als
„fundamentale Kapitalismuskritik“ versteht oder
jedenfalls in Rezensionen als solche gehandelt wird, zentrale
kapitalistische Kategorien (s. o.) aber gar nicht zur Kenntnis nimmt,
geschweige denn zum Gegenstand der Kritik macht. Paradigmatisch sei
dafür das Anfang 2011 erschienene Buch „Das Ende des
Geldes“ der Wiener Wirtschaftswissenschaftler Franz
Hörmann und Otmar Pregetter genannt, das sich positiv auf das
„Zeitgeist Movement“ und das damit verwandte
„Venus Project“ bezieht, Internet-Bewegungen mit
einer nach eigenen Anhaben in die Hunderttausende gehenden
Anhängerschaft.
Der durchgängige Eindruck, den
das Werk auf einen unbefangenen und jedenfalls mit dem Buchtitel
sympathisierenden Leser wie mich macht, ist der einer großen
Verwirrung auf Seiten seiner Verfasser, die diese durch die forsch
vorgetragene Pose des Tabubruchs zu überdecken versuchen.
Offenbar handelt es sich bei den Autoren um Leute, die an der eigenen
Wissenschaft irre geworden sind, was ja erst einmal für sie
spricht. Nur haben sie es dann versäumt, sich ernsthaft nach
Alternativen umzusehen, also etwa in der wirtschaftswissenschaftlichen
Dogmengeschichte ein wenig zurück zu gehen, die
Lektüre von Marx oder auch nur Ricardo wäre sicher
hilfreich gewesen. Stattdessen ersetzen sie die zurecht für
untauglich befundenen Erklärungen der herrschenden Lehre durch
solche des „gesunden Menschenverstands“, der dazu
zu neigen scheint, sich all die schwer zu durchschauenden
Gegenwartserscheinungen damit zu erklären, dass hier Betrug am
Werke sein muss. Ein ganzes Kapitel heißt denn auch
„Die Betrugsmodelle des Kapitalismus“.
Der kommt bei Hörmann/Pregetter
ohne Produktion und ohne Arbeit aus, es geht - wie in der
neoklassischen Lehre auch - allein um den Markt, nur dass dieser nicht
so perfekt funktioniert, wie es die Rede von der
„unsichtbaren Hand“ suggerieren soll. Der Tausch
werde vielmehr durch das dazwischentretende Geld gestört, das
von den Banken „aus Luft“ generiert werde und
für das sie Zinsen fordern, so dass Lohnabhängige und
Unternehmer über ihre eigentliche Intention hinaus arbeiten
müssen, um die Zinsen zu bedienen, was wiederum den
„Wachstumszwang“ und die damit verbundene
Verschwendung von Ressourcen begründet. Die Realwirtschaft
unter der Knute betrügerischer Machenschaften des
Finanzsektors, dieses strukturell antisemitische Muster ist nur allzu
bekannt. Den Autoren ist allerdings zugute zu halten, dass sie immer
wieder darauf hinweisen, dass es ihnen um „die geistigen
Grundlagen des Gesellschaftssystems“ gehe und nicht um die
persönlichen Verfehlungen Einzelner. Und, immerhin, sie
fordern nicht die Abschaffung des Zinses, sondern prognostizieren den
Zusammenbruch des Geldsystems.
Die Frage allerdings, warum ein auf
„mittelalterlichen Denkweisen“ (römisches
Recht und doppelte Buchführung werden hier genannt)
basierendes Betrugssystem sich so lange hat halten können und
ausgerechnet heute sein Ende finden soll, wird weder gestellt noch
beantwortet. Ganz offensichtlich haben die Autoren den aktuellen Modus
kapitalistischer Vergesellschaftung mit seiner Dominanz des
Finanzkapitals in die Vergangenheit projiziert, bis ins späte
Mittelalter zurück verlängert und daraus ein
Wesensmerkmal des Kapitalismus im Allgemeinen gemacht. Daraus
resultiert der Fehlschluss, dass der Kapitalismus überwunden
sei, wenn man nur das Geld in seine Schranken weist.
Nicht zufällig endet das Buch
in einer schlechten Utopie. Das Geld, um dessen Ende es doch eigentlich
gehen sollte, wird nicht etwa abgeschafft, sondern - unter dem
berüchtigten Stichwort der
„Schwarmintelligenz“ - demokratisiert, und zwar
„nach dem Vorschlag der EURO-WEG-Bewegung (WEG =
Wert-Erhaltungs-Geld).“ Offenbar geht es wohl doch eher um
die Abschaffung des Zinses. Das „Konzept sieht vor, jeden
Menschen schon von Geburt an mit einem eigenen Blanko-Kredit,
»Geld aus Luft« auf einem persönlichen
Konto, zu versehen“, das er eigenverantwortlich verwenden
soll. Im Rahmen des von Hörmann/Pregetter verballhornten
Mottos „jedem nach seinen Bedürfnissen - jeder nach
seinen Möglichkeiten“, dessen Ursprung die Autoren
womöglich gar nicht kennen, spielt dieses persönliche
Konto eine wichtige Rolle (S. 224f): „Es gibt in diesem
Konzept keine Kapitalgesellschaften mehr, in welchen
Eigentümer ohne Leistung Schuldgeld vermehren, sondern nur
noch natürliche Personen, welche sich über ihre
wahren Leistungen vernetzen - jeder Mensch ein Unternehmer. Der
Leistende erhält bei Rechnungsstellung sofort den
Rechnungsbetrag gutgeschrieben - als Belohnung durch die gesamte
Gesellschaft. Der Konsument erhält den gleichen Betrag dagegen
von seinem Konto abgezogen.“ Welche Geldbeträge
für welche Leistungen zu zahlen sind, wird nicht gesagt,
entscheidet das am Ende der Markt? Wer dabei ins Minus rutscht, ist
gehalten, das durch eigene Leistung, für die es aber auch
Abnehmer geben muss, wieder auszugleichen. „Falls es ihm
dennoch nicht gelingen sollte, sein Konto wieder auszugleichen, wird es
auch zu keiner nachfolgenden Enteignung wie Pfändung,
Zwangsversteigerung etc. kommen, denn schließlich war sein
Kontominus ja die Voraussetzung für das Kontoplus
eines anderen Menschen. Die einzige Konsequenz eines lange
währenden negativen Kontostands ist die intensivere Beratung
durch die EURO-WEG-Begleiter, die Bankmitarbeiter der Zukunft. Diese
werden versuchen, ihm Wege aufzuzeigen, wie er durch
Tätigkeiten, die ihm wirklich Freude bereiten und die er
selbst für schön und sinnvoll erachtet, in Zukunft
nützliche Leistungen für die Gesellschaft erbringen
kann, um sein Konto wieder auszugleichen.“ Da bieten sich
doch „schöne und sinnvolle“ neue
Tätigkeiten für ehemalige Banker und Mitarbeiter der
Arbeitsagenturen an, mit denen diese dann wiederum ihre
persönliche Leistungsbilanz ins Positive wenden
können. Gruseliger geht es eigentlich kaum noch: Die
Aufteilung der Bevölkerung in
„Leistungsträger“ und
„Versager“ wird präzise erfasst, und die
neue Obrigkeit in Gestalt der „EURO-WEG-Begleiter“
weiß immer ganz genau, wer zu welcher Spezies zu
zählen ist. Es bedarf schon einer gehörigen Portion
Ignoranz, darin eine positive Utopie zu sehen.
Das Buch ist ein schlagendes Beispiel
dafür, dass ohne eine an die Wurzeln gehende Kritik, die die
tiefer liegenden Schichten der bürgerliche Gesellschaft mit
erfasst, nicht nur die schlechte Wirklichkeit, sondern auch die gut
gemeinten (utopischen) Idealvorstellungen und Entwürfe in
einer Art Wiederholungszwang immer wieder nur die Formen
bürgerlicher Herrschaft reproduzieren können.
Weil diese Kritik in einem umfassenden Sinne keineswegs schon geleistet
und von den vielen karriereorientierten und daher
möglichst dünne Bretter bohrenden Blendern und
Wichtigtuern im politischen und akademischen Bereich in dieser Hinsicht
nichts zu erwarten ist, wird das dicke Brett der radikalen
theoretischen Kritik weiterhin unsere Aufgabe sein. Vorstellungen zu
einer befreiten postkapitalistischen Gesellschaft mögen sich
daraus ergeben, aber sie sind der Kritik des Bestehenden nicht
vorgängig. Sie können ihr nicht vorauseilen, ohne
sich in den Fallen der alten Gesellschaft zu verfangen.
Das vorliegende Heft beginnt mit dem Text „DAS
ABSTRAKTIONSTABU IM FEMINISMUS - Wie das Allgemeine des
warenproduzierenden Patriarchats vergessen wird“ von Roswitha
Scholz, in dem die aktuelle feministische Diskussion kritisiert wird.
Nach den kulturalistischen 1990er Jahren wird auch im Feminismus wieder
verstärkt die Parole „Frauen denkt
ökonomisch!“ (Nancy Fraser) ausgegeben; es ist von
einem „social re-turn“ (Knapp/Klinger) die Rede,
Debatten um Intersektionalität, um den Zusammenhang von
„Rasse“, Geschlecht und Klasse haben
Hochkonjunktur, in queerfeministischen Szenen wird wieder
verstärkt auf das Verhältnis von Produktion und
Reproduktion rekurriert und die Sinnhaftigkeit von Genderforschung wird
zumindest zur Diskussion gestellt. Dennoch ist immer noch viel von
Differenzen, Widersprüchen, Ambivalenzen,
Partikularitäten usw. die Rede. Der gegenwärtige
Feminismus ist weit davon entfernt, das asymmetrische
Geschlechterverhältnis als zentrales gesellschaftliches
Grundprinzip auszumachen, das für das warenproduzierende
Patriarchat wesentlich ist. Der offensichtlich androzentrische
Charakter einer „neuen Marxlektüre“ bleibt
auf diese Weise übrigens gänzlich unbehelligt. Es
scheint, als sei der Feminismus in die Differenzen, das Kleinteilige
und Partikulare geradezu vernarrt. Selbst die neuerlichen Analysen zur
Intersektionalität tummeln sich reduktionistisch auf einer
soziologisch-deskriptiven Meso-Ebene der gesellschaftlichen
Strukturbestimmungen, bar jeder Reflexion eines gesellschaftlichen
Basisprinzips. Vor dem Hintergrund der Wert-Abspaltungstheorie vertritt
Roswitha Scholz die These, dass angesichts der noch immer gegebenen
dekonstruktivistischen Dominanz nicht nur ein
„Artikulationsverbot“ (Tove Soiland) der
Geschlechter-(Miss)Verhältnisse besteht, sondern ebenso ein
Abstraktionsverbot, das es unmöglich macht, das hierarchische
Geschlechterverhältnis als grundlegende philosophische
Größe zu behandeln und dann vor diesem Hintergrund
sozialökonomische Disparitäten, Rassismus,
Antisemitismus, Antiziganismus etc. zu skandalieren und den
Differenzen, dem Partikularen usw. statt zu geben.
Im ersten Teil seines Textes
„DAS ELEND DER AUFKLÄRUNG -
Antisemitismus, Rassismus und Sexismus bei Immanuel Kant“
vermittelt Daniel Späth die kategorialen Bestimmungen der
Kantischen Philosophie mit deren gesellschaftlichen Bezugspunkt, um auf
diese Weise einen Begründungszusammenhang für die
Genese der Ideologien des Aufklärers zu
gewinnen.
Anhand eines Durchgangs durch die theoretische und praktische
Philosophie Kants wird dabei gezeigt, dass die grundsätzlichen
Begriffe seiner Philosophie einen Zusammenhang von
„Transzendentalität und
Zirkulationssubjektivität“ konstituieren. Um den
gesellschaftlichen Bedeutungskern der Kantischen
Transzendentalphilosophie freizulegen, wird im ersten Kapitel
des Textes das Transzendentalsubjekt in seiner erkenntnistheoretischen
Stuktur immanent kritisiert, wobei diese Analyse auf die Kritische
Theorie und deren Kant-Rezeption rekurriert, um, im Anschluss an diese,
die Präzisierung einer Kant-Kritik voranzutreiben. Diese
Präzisierung reflektiert im zweiten Kapitel auf das bereits in
der „Kritik der reinen Vernunft“ thematisierte
Verhältnis von Theorie und Praxis, wobei der dichotomische
Charakter dieses Verhältnisses seinerseits auf eine reale
Widersprüchlichkeit bürgerlicher
Subjektivität verweist. Der kritischen Darstellung derselben
auf der Ebene der Kantischen Philosophie im dritten Kapitel folgt
deshalb im vierten Kapitel der Versuch ihren gesellschaftlichen
Ursprung in abstracto zu antizipieren. Vor dem so gewonnenen
Hintergrund der Durchdringung der Kantischen Philosophie in ihrer
theoretischen und praktischen Dimension und der kritischen Restitution
ihrer Begriffskonstellationen als Ausdruck gesellschaftlicher
Beziehungen kann die negative Dialektik bürgerlicher
Subjektivität analysiert werden. Ihre Begründung bei
Kant wirft dabei zwangsläufig die Frage nach dem historischen
Status des Transzendentalsubjekts auf, weshalb das fünfte
Kapitel sich der Kantischen Geschichtstheorie zuwenden und
schließlich mit einer abstrakten Reflexion auf die
Negativität bürgerlicher Subjektivität unter
wert-abspaltungs-kritischen Gesichtspunkten enden wird. Dieser an sich
noch beschränkte Reflexionshorizont wird in dem für
das nächste Heft vorgesehenen zweiten Teil erweitert, in dem
der Kantische Antisemitismus, Rassismus und Sexismus im Fokus der
Analyse stehen werden.
Tomasz Konicz unternimmt in seinem Text
„EUROPAS HINTERHOF IN DER KRISE“ den Versuch, unter
Rückgriff auf eine breite empirische Grundlage die wichtigsten
Momente der ökonomischen Entwicklung Mittelosteuropas seit dem
Zusammenbruch des Realsozialismus nachzuzeichnen. Einen Schwerpunkt der
Untersuchung bilden diejenigen Länder, die im letzten
Jahrzehnt in die Europäische Union aufgenommen wurden und nun
deren östliche Peripherie bilden. Dem Zusammenbruch folgte ein
tiefgreifender Deindustrialisierungsprozess, der den
mittelosteuropäischen Volkswirtschaften ihre
Eigenständigkeit raubte und sie bestenfalls in die Rolle einer
„verlängerten Werkbank“
westeuropäischer und vor allem deutscher Industriekonzerne
trieb. Im Sinne der „Weltsystemtheorie“
Wallersteins ist Mittelosteuropa der
„Semiperipherie“ zuzurechnen, jedenfalls bis zum
erneuten Kriseneinbruch 2008/2009, durch den etlichen Volkswirtschaften
sogar noch dieser halbperiphere Status verloren zu gehen droht.
Im zweiten Teil seines Textes
„ES RETTET EUCH KEIN LEVIATHAN - Thesen zu einer
kritischen Staatstheorie“ stellt Robert Kurz, wie bereits im
ersten Teil, die Geschichte der linken Staatstheorien im Kontext der
kapitalistischen Entwicklung dar. Ausgangspunkt ist die relativ kurz
abzufertigende anarchistische Staatskritik, die völlig
überschätzt wird und das Problem in krude Ideologie
auflöst. In einer Rückblende wird dann noch einmal
die fragmentarische und begrifflich inkonsequente staatstheoretische
Reflexion von Marx und Engels zwischen dem
„Manifest“ und dem
„Anti-Dühring“ kritisch beleuchtet, wie
sie in der Auseinandersetzung mit den Bakunisten und um den Charakter
der Pariser Kommune erscheint. Daraus ergibt sich eine
Schwäche der Kritik am kapitalistischen Modus der
Vergesellschaftung: Notorisch wird das Problem der gesellschaftlichen
Synthesis verfehlt; die Ideen für eine Alternative zum
Kapitalverhältnis bleiben grundsätzlich auf der
(soziologisch verkürzt wahrgenommenen) Ebene des
Einzelbetriebs stehen, während die Frage der bewussten
gesellschaftlichen Planung wie von selbst in etatistische Bahnen
mündet. Methodologisch folgt die linke Ideologie seither der
Metamorphose der bürgerlichen Wissenschaft, die im Gegensatz
zu ihren eigenen Klassikern eine Tendenz entwickelt, die
gesellschaftlichen Kategorien in gewisser Weise zu individualisieren
und zu subjektivieren; die sogenannten strukturtheoretischen
Ansätze konterkarieren diese Tendenz keineswegs, weil sie eine
„Objektivität“ nur als
„Wechselwirkung“ und Resultante immanenter
Handlungen verstehen, während der apriorische und
transzendentale Charakter der gesamtgesellschaftlichen Formbestimmungen
und des daraus abgeleiteten „allgemeinen Willens“
gar nicht mehr vorkommt. Von marxistischer Seite war schon
frühzeitig keine zureichende Kritik an dieser
bürgerlichen Regression von Gesellschafts- und Staatstheorie
mehr möglich, die im Begriff des begründungslosen
„Ausnahmezustands“ mündet und damit die
spätkapitalistische Krisenpraxis widerspiegelt. Gerade der
„Ausnahmezustand“ bildet seither das geheime
Programm einer „politischen Reifeprüfung“
der Linken, die gleichzeitig in ihrer demokratischen Ideologie
weitgehend dem Elend des Rechtspositivismus verfällt. Die
positive Staatsgläubigkeit der Sozialdemokratie wird zum
uneingestandenen Erbe auch der sogenannten radikalen Linken. Der Text
wird mit seinem dritten Teil im nächsten Heft fortgesetzt.
In einem Rezensionsessay
„MESO-THEORIE DES STAATES OHNE KATEGORIALE KRITIK?“
zu Bob Jessops einflussreichen Buch „The Future of the
Capitalist State“ verhandelt Elmar Flatschart den
„State of the Art“ der englischsprachigen
materialistischen Staatstheorie. Der Durchgang durch das Buch erweist,
dass Jessop ein scharfer Analytiker der meso-strukturellen
Veränderung des fordistischen Staates ist, der durchaus
probate definitorische Raster zu entwerfen vermag und somit die
komplexe Phänomenologie einer Veränderung von
Staatlichkeiten recht gut erfasst. Auch wenn seine These über
das Nachfolgermodell des fordistischen Staates, den
„Schumpeterianischen Wettbewerbsstaat“, partiell
hinterfragt werden müsste, kann auch aus den Vermutungen zu
zeitgenössischen Tendenzen noch einiges an Erkenntnis gewonnen
werden. Problematisch ist jedoch das fehlende Moment einer Kritik der
bestehenden Formen überhaupt, was bereits die theoretischen
Grundlagen des Buches nahelegen. Bei dieser rein analytischen, aber
nicht kritisch-dialektischen - und somit auch nicht prozessorientierten
- Perspektive bleibt die theoretische Anschlussfähigkeit auf
der Strecke. Damit verbunden ist gleichzeitig auch eine
wissenschaftstheoretische Inkonsistenz, auf die Elmar Flatschart im
Zuge einer Kritik der kontingenztheoretischen Schlagseite des
Jessop’schen „Gliederungsethos“
aufmerksam macht.
Unter dem Titel „KLEINE
REFLEXION DES RE-THINKING MARX KONGRESSES“ gibt
Elmar Flatschart einen (selektiven) Einblick in den Ablauf der damit
bezeichneten Veranstaltung, die vom 20.-22. Mai 2011 in Berlin
stattfand, und legt dabei einige inhaltliche Schwerpunkte dar. Eine
umfassendere Behandlung findet das Themenfeld
„Ideologiekritik“, das mit VertreterInnen der
„neuen Frankfurter Schule“ im Anschluss an
Jürgen Habermas stark präsent war. Flatschart weist
in einer kurzen theoretischen Verhandlung des Themas auf die
Fallstricke einer Position hin, die zwar einige progressive Momente des
„esoterischen Marx“ aufnimmt, jedoch letztlich in
ihrer verhandlungstheoretischen Auflösung affirmativ bleibt.
Er zeigt, dass ein wesentliches Moment dieser Auflösung die
Ineinssetzung von Fetischismus und Ideologie ist und pocht folglich auf
die Bedeutung einer klaren Trennung von Ideologiekritik und
Fetischkritik: beiden sind unterschiedliche erkenntnis- und
gesellschaftstheoretische Rollen zuzuweisen.
In seinem Text „DIE
SITUATIONISTEN UND DIE AUFHEBUNG DER KUNST“ befasst sich
Anselm Jappe mit der Situationistischen Internationale, die heute
wesentlich bekannter ist als während ihrer Existenz
(1957-1972). Sie gilt oft als der historisch letzte Versuch,
avantgardistische Kunst mit avantgardistischer Politik zu verbinden. In
Wirklichkeit ging es den Situationisten jedoch um die
„Aufhebung der Kunst“ in der Revolution. Kann sich
irgendeine heutige Kunst- oder Politikform zu Recht darauf berufen?
Sind die situationistischen Ideen nicht längst in das
„Spektakel“ eingemeindet worden, vor allem in der
Kunstwelt? Und war dieses Programm der Aufhebung nicht an einen
Fortschrittsgedanken gebunden, der heute selber überholt
wirkt, weil er an eine - vom Traditionsmarxismus ererbte - allzu
positive Auffassung der Entwicklung der Produktivkräfte
gebunden war? Vielleicht ist heute also eine Verteidigung der Kunst
möglich, die Argumente Adornos mit
„situationistischen“ Argumenten verbindet. Aber
welcher Kunst?
Lars von Trier, einer der
erfolgreichsten Regisseure des europäischen Autorenfilms der
letzten 20 Jahre, ist immer wieder scharf für die
patriarchalen Frauenrollen in seinen Filmen kritisiert worden. Im
Mittelpunkt der Handlung steht zumeist ein von einer Frau mit
außerordentlicher Leidensfähigkeit gebrachtes Opfer.
Zu beachten hat die Kritik dabei, dass bei aller ästhetischen
Überhöhung des Opfers auch die Gewalt dargestellt
wird, die damit in Verbindung steht. Dies hat das Gerücht in
Umlauf gebracht, dass es sich bei den Filmen auch um kritische
Darstellungen handeln könnte. Anhand einer über weite
Strecken gelungenen feministischen Kritik dieser Filme - Antje
Flemmings „Lars von Trier. Goldene Herzen, geschundene
Körper“ -, zeigt JustIn Monday in seinem Text
„FRAUENBILD UND FRAUENBILDER - Zum Verhältnis von
Kulturwissenschaft und Feminismus, aufbauend auf Antje Flemmings Kritik
der Filme Lars von Triers“, welche Grenzen der Kritik gesetzt
sind, wenn die aktuelle Orientierung an den gängigen,
kulturwissenschaftlich geprägten Methoden der aktuellen
Sozialforschung beibehalten wird. Während die inhaltliche
Analyse von Bildsprache und anderen filmischen Mitteln erhellend ist,
bleibt die Antwort auf die Frage nach den aktuellen Bedingungen, unter
denen diese Mittel wirken können, hinter dem Notwendigen
zurück. Immer wieder muss auf das Argument zurück
gegriffen werden, von Triers Frauenbilder seien antiquiert. Dieser
Eindruck entsteht, weil verfehlt wird, dass die Erneuerung der
patriarchalen Tradition kein Problem des Inhalts, sondern eines der
Abspaltung des Weiblichen von der gesellschaftlichen Form ist. Zu
diesem Zweck versucht JustIn Monday, die Abspaltungskritik auf
metapsychologischer Ebene fortzuführen und erörtert
die ahistorischen Implikationen des postmodernen Geschichtsbegriff, mit
denen Veränderungen nicht zu fassen sind. Im Kern des Problems
liegt die Unmöglichkeit, die Formdifferenz zwischen realer und
fiktiver Welt im Film zu verhandeln. Diese Kritik berührt
zentrale Annahmen und Implikationen aktueller Macht- und
Diskurstheorien, so dass der Text auch als Beitrag einer Kritik hieran
zu verstehen ist.
Das Heft schließt mit vier
kurzen Texten von Udo Winkel: Einer Rezension des Aufsatzbandes
„DIVERGENZEN DES HELMUT DAHMER“, das sich zur
Würdigung des Lebenswerks seines Autors eignet, einer weiteren
Rezension des Buches „GELD IM MITTELALTER“ von
Jacques Le Goff, in dem deutlich gemacht wird, dass von einem
„mittelalterlichen Kapitalismus“ keine Rede sein
kann, einer Würdigung von Alfred Schmidt zu dessen 80.
Geburtstag unter der Überschrift „ZWISCHEN FEUERBACH
UND DER KRITIK DER POLITISCHEN ÖKONOMIE“ sowie
schließlich einer Glosse „VON HEGEL ZU LUDWIG
ERHARD“ über die programmatischen Metamorphosen der
Sahra Wagenknecht.
Wir danken Angela Aey für ihren großen
persönlichen Einsatz bei der Herstellung des Layouts des
vorliegenden Heftes.
Mit Beginn des Jahres 2011 hat die
Redaktion personell zugelegt und sich damit zugleich drastisch
verjüngt. Als neue Mitglieder hinzugekommen sind Elisabeth Böttcher, Elmar Flatschart, Georg Gangl
und Daniel Späth.
Das SCHWARZBUCH KAPITALISMUS von Robert
Kurz wird zur Zeit ins Englische übersetzt und soll, wenn die
Verlage mitmachen, im nächsten Jahr in englischer Sprache
erscheinen.
Claus Peter Ortlieb für die EXIT!-Redaktion im Juni 2011
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