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EXIT!
Krise und Kritik der Warengesellschaft
Heft 9, März 2012
Inhalt
Editorial
Offener
Brief
Elmar
Flatschart ZUR
KRITIK DER (POLITISCHEN) UMSONST-ÖKONOMIE
1.
Prolog zu Theorie und Praxis 2.
Zur Definition der Umsonstökonomie 3.
Kritik der Umsonstökonomie 3.1.
Kritik der (Politischen) Ökonomie und Umsonstökonomie 3.1.1.
Präliminarien der Ökonomiekritik 3.1.2.
Politik und Ökonomie – Verortung und Kritik einer
Sphärentrennung 3.2.
Politische Form und Wirkung 3.2.1.
Das Fehlen politischer Perspektiven 3.2.2.
Mögliche gesellschaftspolitische Effekte 3.3.
Umsonstökonomische Praxis und symbolisch (-geschlechtliche)
Aufladungen 4.
Conclusio: Potentiale der Umsonstökonomie
Robert
Kurz Kulturindustrie
im 21. Jahrhundert Zur
Aktualität des Konzepts von Adorno und Horkheimer
Von
der bildungsbürgerlichen Scheinkritik zum postmodernen Kult
der
Oberflächlichkeit Elitäre
oder emanzipatorische Kulturkritik? Technologischer
Reduktionismus Reklame
als kulturelle Weltwahrnehmung und Selbstwahrnehmung Die
Fortsetzung von „abstrakter Arbeit“ und Konkurrenz
mit
anderen Mitteln Das
Internet als neues Zentralmedium der Kulturindustrie Die
Virtualisierung der Lebenswelt Interaktivität
des Web 2.0 und Individualisierung Eine
teuer bezahlte Gratis-Kultur Die
innere Schranke des Kapitals und die ökonomische Krise der
Kulturindustrie Auf
dem Weg zur Erschöpfung der kulturellen Reserven Die
Welt ist kein Accessoire. Warum eine selbständige
„Kulturrevolution“ unmöglich ist
Georg
Gangl AUFGEKLÄRTE
DIFFERENZEN Ein
Rezensionsessay zum Poststrukturalismus anhand seiner antideutschen
Kritik
Einleitung:
Moderne, Postmoderne und Poststrukturalismus Zur
Rekonstruktion des Poststrukturalismus ... ...
und dessen antideutscher Kritik
Karina
Korecky WO
DIE LIEBE ZU DEN GESETZEN IM STAATE RUHT Über
den Zusammenhang von Weiblichkeit und Nation
I.
Logik des Rechts und Unlogik des Weibes II.
Liebe dich selbst III.
Die partikulare Natur der Nation IV.
Reproduktion des staatsbürgerlichen Ich
Daniel
Späth DAS
ELEND DER AUFKLÄRUNG: SEXISMUS
BEI IMMANUEL KANT
1.
Die „Kritik der Urteilskraft“ und ihre spezifische
Stellung innerhalb der Transzendentalphilosophie 2.
Exkurs zu den „Beobachtungen über das
Gefühl des
Schönen und Erhabenen“ 3.
„Naturbeherrschung und Weiblichkeit“ (Elvira
Scheich):
Die verschiedenen Dimensionen des kantischen Naturbegriffs und seine
geschlechtsspezifische Vermitteltheit 4.
Das „Schöne“ und
„Erhabene“ in der
„Kritik der Urteilskraft“ 5.
Die „Wert-Abspaltung“ (Roswitha Scholz) als
konstitutives
Form prinzip für das Verhältnis von Theorie und
Praxis
sowie ihre Stellung zur ästhetischen Reflexion 6.
„Wert-Abspaltung“ als negative Denkform: Das
fetischistische Verhältnis von Subjekt und Objekt und die
Frage
nach der Situiertheit von Weiblichkeit
Carsten
Weber IHR
KOMMT HIER NICHT REIN Die
prekarisierte Mittelschicht und ihre Subjekte als verängstigte
Wachhunde ihres Humankapitals
Udo
Winkel WEDER
ALY NOCH WEHLER Vom
Historikerstreit als Duell
Gerd
Bedszent MALTHUS
RELOADED
Udo
Winkel PARIS
– STADT DER REBELLEN
Editorial
In
den letzten Monaten
waren in den Medien Bilder „sozialer Bewegungen“
ungewöhnlich stark präsent. Seit dem Ende der
großen
„Bewegungssubjekte“ des 20. Jahrhunderts
–
ArbeiterInnenbewegung, Frauenbewegung, Antikoloniale Bewegung
–
scheint die Wahrnehmung von Revolten und Aufständen nie so
groß
gewesen zu sein. Für kritische Theorie stellt sich nun die
Frage, wie diese Veränderung zu begründen ist.
Während
in den 1990ern noch die Reste der alten Großsubjekte
abgewrackt
wurden – was niemanden interessierte –, wurden die
Anti-Globalisierungsbewegungen der 2000er von der bürgerlichen
Öffentlichkeit eher sporadisch und unter „ferner
liefen“
behandelt. Das qualitativ Neue von so unterschiedlichen
Phänomenen
wie den Revolten des „Arabischen
Frühlings“, dem
Online-Aktivismus einer pluralisierten Internet-Community, für
den sinnbildlich „Anonymous“ steht, oder zuletzt
auch die
weltweite „Occupy-Bewegung“ scheint in zweierlei
Tatsachen begründet zu sein: Einerseits stellen diese neuen
Bewegungen einen gewissen Teilbereich der kapitalistischen
Vergesellschaftung zumindest nominell radikal in Frage; andererseits kommen ihre Proponenten dabei aber nicht nur
aus
der „Mitte der Gesellschaft“, die sich inzwischen
globalisiert hat, sie distanzieren sich auch strikt von den
versprengten Resten der mehr oder weniger etablierten organisierten
Linken. Die Praxen sind im Einzelnen natürlich
reduktionistisch
geblieben und transzendieren in ihren Forderungen das System nicht
maßgeblich. So waren die Revolten in der arabischen Welt
stets
auf eine neue politische Regulation ausgerichtet, hinterfragten aber
weder andere gesellschaftliche Aspekte noch die grundsätzliche
Voraussetzung kapitalistischer Ökonomie. Die Internetbewegung
reagierte auf autoritäre Tendenzen und die zunehmende
Versicherheitlichung des Alltags mit einer Art naiven anything-goes
Anarchismus, der sich mit „materiellen“ Aspekten
sozialer
Verhältnisse überhaupt nicht auseinandersetzte. Die
Occupy-Bewegung schließlich fokussierte einseitig auf eine
Infragestellung einiger kapitalistischer Prinzipien, ist jedoch blind
für andere gesellschaftliche
Unterdrückungsmechanismen und
Ideologien.
Warum
jedoch teilen all diese Phänomene nicht das Schicksal
früherer
Revolten einer post-modernen „Mosaiklinken“? Die
Antwort
ist wohl nicht allein in den konkreten Praxen selbst zu suchen,
sondern auch in ihrem historischen Kontext. Die schon lange
schwelende Krise des warenproduzierenden Patriarchats hat mit der
globalen „Wirtschaftskrise“ seit 2007
endgültig die
Oberflächenebene der Erscheinungen und manifesten
Transformationen erreicht. Es ist nun nicht mehr nur die Logik
der Wert-Abspaltung, welche ihre Grenzen erreicht hat; die Empirie
und somit das Alltagsleben der Menschen bringt die
Schranken
dieser Vergesellschaftungsweise nun schubhaft zur Geltung. Dies ist
zwar kaum jemandem bewusst, da ironischerweise gerade die kulturelle
und theoretische „Postmoderne“ – selbst
ein Affekt
der sich abzeichnenden Krise und somit gewissermaßen ein
gesellschaftlicher Prolog der eigentlichen Eruptionen – die
Vorstellung jeglicher Teleologie und Finalität aus dem
kollektiven Gedächtnis gelöscht hat; dennoch macht
sich ein
Unbehagen breit, das mit einer versteckten Verzweiflung und dem
Unglauben an herrschende Lösungsangebote verknüpft
ist.
Dieses fast immer gänzlich bewusstlose Unbehagen artikuliert
sich nun auf viele Arten und Weisen. Zumeist natürlich
–
der immanenten und reflexionslosen Verfasstheit geschuldet –
in
ideologischen Verarbeitungsformen, die u.a. den (populistischen)
Schwenk nach rechts, reaktionäres Beharren auf längst
Überholtem und realitätsfremden, regressiven
Tendenzen ganz allgemein bedingen. Jedenfalls aber wird der
herrschenden
Politik (zumindest implizit) nicht mehr zugetraut, dass sie die Sache
wieder „richten“ kann. Dieser Unglaube an die
Politik
richtet sich nun nicht nur gegen die tatsächlichen
institutionellen EntscheidungsträgerInnen, sondern auch gegen
die Linke. Es ist eben kein Zufall und stellt eine qualitative
Veränderung dar, dass selbst noch die radikaleren Teile der
Krisenbewegungen sich von den politisch organisierten Kräften
klar distanzieren. Dies ist verknüpft mit einer neuen
Massenbeteiligung, welche die radikalere Linke ihrerseits vor den
Kopf stößt. Schließlich konnte letztere
sich nun
bereits lange genug in ihrer gesellschaftlichen Ghettoisierung
wohlfühlen und weiß nicht mehr viel mit
nicht-subkulturell
Sozialisierten anzufangen. Die Reaktionen gingen
demgemäß
von verblüfftem Danebenstehen über zwanghafte (und
erfolglose) Intervention gemäß „alter
Muster“
bis hin zur gehässigen Abwehr. All diese Reaktionen
– und
ganz besonders die letzte – sind nicht wirklich
maßgeblich
darauf zurückzuführen, dass es tatsächliche
inhaltliche Differenzen gäbe: Große Teile der Linken
sympathisieren ja noch mit den verkürztesten Forderungen jener
Bewegungen bzw. bringen selbst wenig elaboriertere hervor. Aber auch
eine abwehrende, oberflächlich-ideologiekritische politische
Positionierung blamiert sich letztlich selbst, da sie bloß
das
ohnehin von vornherein Klare – die Reproduktion von
(Alltags-)Ideologien und zu wenig radikalen Forderungen in spontanen
Massenbewegungen – wiederkäut und in eigene
Selbstversicherung ummünzt. Die Reaktionen sind deshalb
vielmehr
maßgeblich davon geprägt, dass die Linke mit diesen
neuen
Erscheinungen endgültig nichts mehr anzufangen weiß.
Die
Inkompatibilität der althergebrachten Codes, Subkulturen,
politischen Agitations- und Verhaltensformen mit den neuen Protesten
ist eine kategoriale, da sie aus der politischen Verfasstheit der
Linken selbst hervorgeht. Die Linke hat sich en gros im Grunde nie
vom Schock des Endes der großen politischen
„Bewegungssubjekte“
erholt und hält durchgängig weiterhin an politischen
Mustern fest, die bloß Verfallsprodukte der Krise des Alten
sind. Dies ist intrinsisch verknüpft mit der
„postmodernen“
theoretischen Pluralisierung, die eigentlich bloß
für die
eigene Ratlosigkeit in der kritischen Analyse steht: die
Komplexität
einer krisenhaften Fragmentierung der Gesellschaft lässt
„einfache“, empirisch fassbare strukturelle
Regularitäten
in weite Ferne rücken. Da jedoch die Ebene einer die
Totalität
erfassenden kategorialen Kritik nicht mehr erreicht wird, ist die
Verwunderung groß und der Effekt der Besinnung auf das
Kleinteilige, Kontigente naheliegend. Diese postmoderne
Pluralisierung lenkt jedoch gleichzeitig davon ab, dass die
bestehenden Handlungsweisen und Reaktionsformen im Grunde die alten
geblieben sind. Sie treten nun bloß verwaschener und
ver(w)irrter auf. Derart ist die Linke seit langem
handlungsunfähig,
zumindest wenn es um die Ebene gesamtgesellschaftlicher
Transformation geht. In ihrer mangelnden Selbstkontextualisierung
unterscheidet sie sich dabei wenig von den anderen ArtistInnen im
Politzirkus, ist eben wirklich austauschbar mit politischen
Positionen.
Es
ist also den neuesten sozialen Bewegungen nicht zu verdenken, dass
sie sich von der Linken abkehren, ja stellt gewissermaßen
eine
notwendige (wenn auch unbewusste) Reaktion auf die historische
Überholtheit von großen Teilen jener Linken dar. Im
Einzelnen und v.a. was die Inhalte betrifft, lassen sich die Proteste
natürlich nicht kausal auf bloße Krisenerscheinungen
reduzieren. Je nach Abstraktionsebene ergeben sich auch
unterschiedliche Räume der Kontingenz und der
tatsächlichen
Verkettungen einer nicht mehr rein auf das automatische Subjekt
reduzierbaren Praxis. Diese Unmöglichkeit einfacher
Kausalbeziehungen sollte jedoch auch nicht dazu führen, dass
jener historische Kontext einfach ignoriert wird oder noch schlimmer,
in projektiver Verkehrung behauptet wird, dass die Krise ja selbst
Resultat der Kämpfe ist. Eine differenzierte Analyse
müsste
die Entwicklungen einer synchronen historisch-systemischen Logik des
Werts und ihrer diachronen Brüche in Politik und Alltagspraxis
gemeinsam und in ihrer Widersprüchlichkeit betrachten.
Ähnlich
wie in bisherigen Krisensituationen öffnen sich also durchaus
neue Möglichkeitsräume; anders als in
früheren
zyklischen Krisen ist jedoch eine Rückkehr zu bestehenden
Formen
bzw. zu einem erneuten Durchsetzungsschub innerhalb des
kapitalistischen Formkorsetts unwahrscheinlich. Selbst wenn also
keine „systemische Rekonvaleszenz“ mehr anzunehmen
ist,
bleibt die zunehmende Verwilderung und Barbarisierung der
Verhältnisse die realistischste Version, so keine
maßgebliche
Veränderung lanciert wird.
Es
gilt also von Seiten kritischer Theorie weiterhin zu intervenieren
und auch gewagte Interpretationen nicht zu scheuen. Hinsichtlich der
neuesten Bewegungen ist die angelegte umfassendere Ablehnung der
Politik interessant. Ich denke, dass diese durchaus auch als Resultat
der Krisenvergesellschaftung (die natürlich schon
länger
andauert und sich eben nun bloß aktualisiert) betrachtet
werden
kann. Die Politik wird auf gewisse Weise in ihrer fetischistischen
Beschränktheit und Verwiesenheit auf das
„automatische
Subjekt“ von Wert und Abspaltung abgelehnt. Die Ablehnung ist
dabei gar keine inhaltliche mehr (denn hier hätte die Linke ja
oftmals trotzdem recht), sondern eine, die sich auf die Form selbst
bezieht. Die Subsumption unter die repräsentativ-symbolische
Politikform, ihre immanente Logik der Hegemonie und abstrakten
Distanzierung von der Alltagswelt wird dabei als Affront
wahrgenommen. Ähnliche Reflexe gab es freilich schon
früher,
in derart konzertiert und bestimmter Weise sind sie jedoch zweifellos
neu und nur im Kontext einer gesamtgesellschaftlichen Formkrise zu
verstehen. Das Problem bleibt freilich, dass alle Reaktionen der
neuesten Bewegungen eben niemals auch nur annähernd
überlegt
erfolgen bzw. selbst noch in ihren Widersprüchlichkeiten
nachvollzogen werden. Sie beruhen auf einer
„instinktiven“
Abwehr einer zunehmend untragbarer werdenden Inkongruenz von
Realität
und Realitätsbild. Hiermit müsste sich die Linke
auseinandersetzen, sie müsste kritische Interventionen wagen,
die gerade jene Infragestellung auch ihrer eigenen Form nicht
abwehrt, sondern kritisch rezipiert. Sporadisch mag dies passieren,
aber auf jener aggregierten Ebene, welche die soziale Form linker
„Politik“ tangiert, ist davon nichts zu merken.
Hier
herrschen vielmehr weiterhin Gestaltbarkeits- und Kampfillusionen
vor, die in keiner Weise jene Hinterfragung der Politikform
mitmachen. Dabei gibt es schlicht immer weniger zu gestalten. Die
Linke schafft sich mit ihrer Ignoranz der Krisenhaftigkeit ihres
eigenen Rahmens also letztlich nur selbst ab.
Dass der Rahmen
immanenter politischer Gestaltbarkeit immer enger wird und dies von
den neuesten Bewegungen wahrgenommen wird, bedingt aber noch lange
keine alternativen Auswege, geschweige denn eine radikale und
systematische Infragestellung des systemischen Ganzen in seiner
widersprüchlichen Verbundenheit. Um wirklichen Auswegen
näher
zu kommen, reicht also natürlich der „spontane
Impuls“
von Masseneruptionen nicht aus; es bedarf weiterhin der Organisation,
ja auch des Handelns in der Politikform, und hier sind linke Kritiken
bzw. das Beharren auf Erfahrungshintergründe nicht fehl am
Platz. Damit aber diese Erfahrungen überhaupt noch ernst zu
nehmen sind, muss endlich die radikale Selbsthinterfragung und
Formkritik auch linker Politik zum Repertoire emanzipatorischer
AkteurInnen werden. Ein solcher Selbsttransformationsprozess kann
freilich nicht ohne Brüche von statten gehen und ist leichter
gesagt als getan. Er setzt aber v.a. eines voraus: einen neuen und
radikalen Umgang mit Widersprüchen. Diese sind in ihrer
systemischen Gesetztheit zu verstehen sowie zu bearbeiten und nicht
zwanghaft-identitätslogisch aufzulösen, wie es in der
politischen Linken Usus war und ist. Denn diese Art von
Auflösung
ist der Dreh- und Angelpunkt von gesellschaftlichen Ideologien,
welche die Linke wie auch neuere Proteste gleichermaßen
(jedoch
auf unterschiedliche Art) durchziehen. Ideologiekritik ist dann auch
die Hauptaufgabe Kritischer Theorie, wenn es um die
Auseinandersetzung mit linken Diskursen, Bewegungen und konkreteren
Praxen geht. Sie hat dabei schonungslos die Notwendigkeit wie die
Falschheit von Bewusstsein (bzw. eigentlich den unbewussten Motiven
hinter mehr oder minder bewussten Praxen und diskursiven
Interventionen) zu dechiffrieren, auch und gerade dann, wenn es
ungemütlich wird. Als „theoretische
Praxis“ ist sie
folglich selbst eine der wichtigsten Imperative von Emanzipation.
Dies sollte jedoch keineswegs als Absage an emanzipatorische Handlung
im engeren Sinne verstanden werden, denn weder wird sich die Welt
durch reine Theoriearbeit verändern, noch kann Kritische
Theorie
überhaupt „positive“ Aussagen
über konkrete
Praxen machen. Würde sie das tun, klar
(„politisch“)
Stellung beziehen und sich unisono in den linken Kanon einordnen,
verkäme sie selbst zur Ideologie, da sie ihre eigene
Situierung
als bestimmte Praxis vergäße und die damit
verbundenen
Widersprüche vereinseitigend sistierte.
Die
schwierige Gratwanderung Kritischer Theorie zwischen eigener (linker)
Situierung und radikaler Ideologiekritik ist der Kern der
Tätigkeit
eines Zusammenhangs wie EXIT. In diesem Sinne ist nicht nur die
Weiterentwicklung eines gesellschaftstheoretischen Korpus von
zentraler Relevanz; zugleich müssen auch die ideologischen
Verarbeitungsformen auf den verschiedenen Abstraktionsebenen und
durch die Stratifikation gesellschaftlicher Verhältnisse
hindurch kritisiert werden. Das vorliegende Heft legt
konsequenterweise seinen Schwerpunkt auf die Ideologiekritik, die aus
unterschiedlichen Perspektiven verfolgt wird.
Am
Anfang des Heftes findet sich der von Robert Kurz verfasste offene
Brief der EXIT Redaktion zum Jahreswechsel 2011/2012. Neben einer
allgemeinen Verständigung und der obligatorischen Bitte um die
weitere (materielle) Unterstützung kritischer Theoriebildung
nimmt er in Form einer Polemik Stellung zum Satus Quo der
(ideologischen) Verarbeitung von Protesten und Revolten vornehmlich
in der Linken.
Der
erste Text „ZUR KRITIK DER (POLITISCHEN)
UMSONSTÖKONOMIE“
von Elmar Flatschart versteht sich als auf
konkretere Ansätze
zielende ideologiekritische Aufarbeitung von linken Praxen sowie
„Theorien der Praxis“ und setzt sich dahingehend
mit
alternativökonomischer Versuchen der Schaffung einer
geldfreien
Ökonomie auseinander. Nach einem Prolog über das
Verhältnis
von Theorie und Praxis wird zuerst in einer Begriffsbestimmung der
Gehalt des Konzepts der „Umsonstökonomie“
untersucht. Aufbauend darauf wird eine immanente Kritik der
Umsonstökonomie entwickelt, die sich im Wesentlichen an die
Kritik der Politischen Ökonomie Marxens bzw. deren Rezeption
durch neuere wert-abspaltungs-kritische Debatten anlehnt. Hierbei
werden zentrale Schwachstellen bisheriger Praxen ebenso thematisiert
wie die bereits im Konzept angelegte Auslassungen und
Vereinseitigungen. Wesentlich erscheint dabei die Fixierung auf
Reproduktion bzw. „Ökonomie“ im weitesten
Sinne,
welche eine Unterberücksichtigung der politischen Seite
emanzipatorischer Praxis und ihrer Theorie impliziert. Dem folgen
einige Überlegungen zur Vergeschlechtlichung
umsonstökonomischer
Praxen, wie sie im Anschluss an eine wert-abspaltungs-kritische
Position zu erfolgen haben. Abschließend wird die Ebene der
meta-theoretischen Kritik schließlich partiell verlassen um
mögliche Stärken und Perspektiven der
Umsonstökonomie
als emanzipatorischer Bewegungspraxis darzulegen.
Im
folgenden Artikel „KULTURINDUSTRIE IM 21.
JAHRHUNDERT“
wird der Fokus weg von unmittelbaren Praxen hin zu ideologischen
Phänomenen im Kontext des breiteren Phänomens
„Postmoderne“. Der Beitrag geht auf ein Referat
zurück,
das Robert Kurz 2010 bei einem Kongress zu diesem
Thema in
Brasilien gehalten hat. Die zum kritischen Essay erweiterte Fassung
versucht den immanenten Gegensatz von bildungsbürgerlichem
Kulturpessimismus und postmodern-technologischem Kulturoptimismus als
zwei Seiten derselben ideologischen Medaille kenntlich zu machen. Der
Kult der Oberflächlichkeit verhält sich
komplementär
zum Kult der Innerlichkeit. Beide Seiten verleugnen
gleichermaßen
ihre öde Affirmation der kapitalistischen Verfasstheit von
Kultur. Für die Einsicht in diesen Zusammenhang gibt die alte
Analyse von Adorno und Horkheimer trotz ihrer
politökonomischen
Defizite immer noch mehr her als die inzwischen selber alt gewordene
Pop-Linke wahrhaben will. Das gilt sogar für die
kulturindustrielle Mutation des Internet zur „hohnlachenden
Erfüllung des Wagnerschen Traums vom
Gesamtkunstwerk“,
gerade auch im technologisch „interaktiven“
Charakter des
Web 2.0. Über Adorno und Horkheimer hinaus kann die Kritik der
virtualisierten Ökonomie als Einsicht in die innere Schranke
des
Kapitals auch die Grenzen der totalitären digitalen
Kulturindustrie im 21. Jahrhundert aufzeigen. Der Text versteht sich
als vorläufiger Beitrag zu einer noch ausstehenden umfassenden
Kritik des postmodernen Kulturalismus, seiner Episteme und seiner
sozialökonomischen Bedingungen.
Der
Rezensionsessay „AUFGEKLÄRTE DIFFERENZEN“
von Georg
Gangl bleibt im Themenbereich der Postmoderne, er visiert
(falsche) Kritiken des Poststrukturalismus aus der
„antideutschen“
Ecke an. Es wird dabei deutlich, dass in jenem Diskurs trotz (oder
gerade auf Grund) der vermeintlichen Nähe zur
wert-abspaltungskritischen Theoriebildung zahlreiche ideologische
Schlacken zu finden sind.Anlass und quasi Negativfolie der
theoretischen Analyse bietet der Sammelband
„Gegenaufklärung.
Der postmoderne Beitrag zur Barbarisierung der Gesellschaft“,
der vor kurzem im ça-ira-Verlag erschienen ist. Die
Kernthese
ist, dass die vertretene „antideutsche“ Position
poststrukturalistischer Theoriebildung nicht gerecht wird, sondern
vielmehr dazu tendiert, sie identitätslogisch auf doppelte Art
und Weise zu verkürzen: Einerseits wird der
Poststrukturalismus
auf seine erkenntnistheoretische Problematik und schließlich
deutsche Ideologie und Apologie des Islamismus reduziert,
andererseits figuriert erkenntnistheoretisch unter dem
Poststrukturalismus nur die Philosophie Jacques Derridas. Unter
diesen Vorzeichen lassen sich die Meriten poststrukturalistischer
Theoriebildung jedoch kaum mehr erfassen. Der Essay wählt
deshalb einen historisch-kontextualisierteren Zugang zu
poststrukturalistischer Theoriebildung und streicht in
Ansätzen
heraus, dass bestimmte theoretische Erkenntnisse des
Poststrukturalismus durchaus anerkannt werden können, auch
wenn
sie in einem kritisch-dialektischen Theorierahmen anders
konzeptualisiert werden müssten. Schließlich
argumentiert
der Text, dass die identitätslogischen Verkürzungen
des
Bandes sich hauptsächlich aus einer grundlegenden,
aufklärungsideologischen Positionierung ergeben, die eine Art
Ideal-Aufklärung und damit auch einen Ideal-Kapitalismus vor
sich selbst retten will.
Der
Beitrag „WO DIE LIEBE ZU DEN GESETZEN IM STAATE
RUHT“ von
Karina Korecky firmiert als ideologiekritische Dechiffrierung des
androzentrischen Blicks zahlreicher Kritiken der Nation. Denn die
linke Kritik an Staat und Nation glaubt üblicherweise ohne
jene
des Geschlechts auszukommen, das Geschlechterverhältnis spielt
keine Rolle für die Kritik am Nationalstaat. Auf der Seite der
feministischen Theorie verhält es sich nicht viel anders: Wo
der
Staat überhaupt zum Thema wird, sind Weiblichkeit und Nation
so
etwas wie »Strukturkategorien« oder auch
»Diskurse«,
die qua analytischer Trennung nur noch äußerlich
aufeinander bezogen werden können. Der Artikel geht
demgegenüber
von der Betrachtung der bürgerlichen Gesellschaft als ganzer
aus. Die Gesellschaft der Freien und Gleichen brachte in ihrem
Werdegang ihr Widersprechendes hervor: die Frauen als Differente, die
Nationen als bestimmte. Durch die Dialektik der Aufklärung
hindurch reproduzieren sie sich permanent neu. In der politischen
Theorie Jean-Jacques Rousseaus und anderen sind es die Frauen, in
deren Händen »die Liebe zu den Gesetzen im
Staate«
ruht. Zur zweiten Natur gemacht, sollen Frauen zwischen dem
bürgerlichen Mensch-Mann und dem, was ihn dazu macht,
vermitteln. Sie lassen die Gesetze im Staate lieben, die Unterwerfung
unter den Zwang als lustvoll erscheinen und die Notwendigkeit als
Wunsch. Im Kontext der Nation ist Weiblichkeit das, woran deren
Einigkeit bewiesen wird.
Der
Text „SEXISMUS BEI IMMANUEL KANT“
von Daniel
Späth kann als Ideologiekritik im ideengeschichtlichen Kontext
aufklärerischer Meta-Ideologie betrachtet werden. In dem
zweiten
Teil seiner Arbeit „Das Elend der
Aufklärung“
versucht der Autor eine kritische Rekonstruktion der kantischen
Weiblichkeitsimagines. Während das erste Kapitel mit der
dritten
„Kritik“ Kants, der „Kritik der
Urteilskraft“,
den Durchgang durch sein transzendentalphilosophisches System
komplettiert, zielen die folgenden Kapitel darauf ab, dem genuinen
Mechanismus der kantischen Mysogynie auf die Spur zu kommen.
Vermittelt über die Kategorie des
„Schönen“
wird dabei eine doppelte, sich ergänzende Bewegung
konstatiert:
Der „Sexismus der projektiven Differenz“
koinzidiert mit
einem „Sexismus der vorenthaltenen Gleichheit“. Des
Weiteren erfährt das bereits im ersten Teil der Arbeit
angesprochene Verhältnis von Theorie und Praxis eine
neuerliche
kritische Darstellung, die mit der Frage der Situiertheit von
Weiblichkeit unter der Vorherrschaft der
„Wert-Abspaltung“
(Roswitha Scholz) in der kantischen Philosophie verbunden wird. Als
verbindendes Glied dieser Reflexionen stellt sich dabei die
Naturkategorie heraus, deren Kohärenz, wie auch
Binnendifferenzierungen den Schlüssel zum Verständnis
des
kantischen Sexismus abgeben.
Der
folgende Beitrag „IHR KOMMT HIER NICHT
REIN“ von Carsten Weber setzt auf der Ebene von Alltagsideologien der sozialen Schichtung an
und reflektiert dabei die Tatsache, dass die soziale
Klassifizierung anhand von Lebensstilen seit Jahren einen ungeheuren
Boom erlebt. Zum einen hat sich ein entleerter Begriff von
„Bürgerlichkeit“ neu etabliert, zum
anderen
entdeckte man die Unterschicht als ideale Negativfolie zwecks eigenem
Distinktionsgewinn und verächtlicher Abgrenzung zu
„denen
da unten“. In einem scheinbaren Gegensatz dazu befindet sich
die Diskussion über die starke Abhängigkeit
individueller
Bildungschancen von der sozialen Herkunft, wie sie spätestens
seit dem Scheitern der Hamburger Schulreform von bürgerlichen
JournalistInnen mit irritierender kritischer Verve geführt
wird.
Freilich machten dieselben Medien vorher mit gleicher Verdammungslust
bei der öffentlichen Bloßstellung der Unterschicht
mit.
Diese Heuchelei ist der thematische Kern des Aufsatzes. Damit
schließt der Autor insofern an seinen Beitrag "Zwischen
Hammer und Amboss" aus Heft 6 an, als er zeigt, wie die
Behauptung einer qualitativen Verschiedenheit der Menschen auch im
beginnenden 21. Jahrhundert aufrechterhalten wird. Dabei handelt es
sich um ein Krisenideologem, mit dem die Angehörigen der
prekarisierten Mittelschicht auf ihre zunehmende ökonomische
Gefährdung in der Weltwirtschaftskrise reagieren.
Das
Heft schließt mit drei kleineren Texten: Udo
Winkels
Glosse „WEDER
ALY NOCH WEHLER“
über den zwischen den Kontrahenten erneut ausgetragenen
„Historikerstreit als Duell“, Gerd
Bedszents
Rezension „MALTHUS RELOADED“ zur der
malthusianischen
Ideologie im Werk „Hat die Zukunft eine
Wirtschaft?“ von
Norbert Nicoll, schließlich Udo Winkels Rezension
„PARIS – STADT DER REBELLEN“
über den
gleichnamigen, sehr besonderen Reiseführer von
Rámon Chao
und Ignacio Ramonet.
Der
von manchen LeserInnen sicher erwartete dritte Teil der kritischen
Staatsthesen "Es rettet euch kein Leviathan" von Robert
Kurz musste auf Heft 10 verschoben werden, das noch in diesem Jahr
erscheinen soll.
Auch
dieses Mal danken wir Angela Aey für ihre
umfangreichen
Arbeiten am Layout des vorliegenden Heftes. Zu vermelden ist
schließlich, dass Frank Rentschler im September 2011 aus der
Redaktion ausgeschieden ist.
Elmar
Flatschart für die EXIT!-Redaktion im
Februar 2012
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