Abschied vom öffentlichen Dienst

Der Verdi-Streik und die ökonomistische Radikalisierung des Staates

erschienen in der Wochenzeitung „Freitag“
am 31.03.2006

Es ist weit mehr als ein gewöhnlicher Tarifkonflikt, was sich nun schon seit Wochen zwischen der Gewerkschaft Verdi und den Ländern beziehungsweise Kommunen abspielt. Die öffentlichen Arbeitgeber rechtfertigen ihre knochenharte Haltung damit, dass sie klamm sind wie noch nie. Überall werden die Budgets gedeckelt, weil die Alimentierung der öffentlichen Aufgaben aus der nationalökonomischen Realakkumulation des Kapitals zusehends versiegt. Denn die Profite der Unternehmen entstammen in wachsendem Ausmaß nicht mehr realer Mehrwertproduktion, sondern bloßen Differenzgewinnen in der Zirkulation von Finanztiteln (Übernahmeschlachten, Finanzblasen). Allerdings ist diese zirkulative Bewegung der Finanzmärkte staatlicher Regulation nicht zugänglich, um die nötigen Mittel für die Reproduktion der Infrastrukturen abschöpfen zu können. Die in den Bilanzen der Konzerne bislang verdeckte substantielle Krise der Kapitalverwertung schlägt zuerst auf den öffentlichen Sektor durch.

In der Konsequenz erfasst der Mechanismus der Krisenverwaltung nicht allein die Masse der Verlierer auf den Arbeitsmärkten, sondern mehr und mehr die staatlichen Körperschaften selbst unter Einschluss ihres Tarifgefüges. Zwar sind die öffentlichen Dienste in vielen Randzonen durch die Zwangsmaßnahmen der Arbeitsverwaltung bereits Trendsetter des Armutslohns. Aber gleichzeitig stellen sie in den qualifizierten Kernsektoren immer noch so etwas wie eine Bastion des alten Normalarbeitsverhältnisses dar. Diese Bastion soll nun geschleift werden, um den Weg für die weitere Senkung des allgemeinen Lohnniveaus frei zu machen. Gleichzeitig geht es darum, den besonderen Charakter der gesellschaftlichen Gemeinschaftsaufgaben in Frage zu stellen oder ganz zu liquidieren. Je mehr der Staat aufhört, „ideeller Gesamtkapitalist“ (Marx) eines nationalökonomisch fundierten Kapitalstocks zu sein, desto mehr verhalten sich seine Körperschaften wie Einzelkapitalien in der Marktkonkurrenz. Ohne Rücksicht auf ihren Inhalt werden die öffentlichen Aufgaben betriebswirtschaftlicher Rationalität unterworfen. Es ist diese Tendenz zur Auflösung des öffentlichen Dienstes in die Marktökonomie, die den besonderen Charakter des laufenden Tarifkonflikts ausmacht, bei dem es eben nicht bloß um 18 Minuten Mehrarbeit geht.

Die harte Haltung der öffentlichen Arbeitgeber steht im Zeichen einer ökonomistischen Radikalisierung des Staates. Deshalb wird der Tarifkonflikt auch zum Anlass genommen, den Übergang zur Privatisierung und Teilprivatisierung zu forcieren. Die Simulationsprogramme in der Verwaltung (etwa die Umdefinition der Bundesagentur für Arbeit zum „Serviceunternehmen“ mit so genannter „Kundenorientierung“) werden längst ergänzt durch Outsourcing von wachsenden Teilen der Infrastruktur an private Investoren. Post und Bahn wurden ja bereits in Marktunternehmen und Global Players verwandelt, verbunden mit der Schließung von Filialen, Streckenstillegungen und einem rapiden Personalabbau. Die Kommunen haben damit begonnen, die Abfallbeseitigung an große Entsorgungsunternehmen wie Remondis, Sulo, Alba und Nehlson zu delegieren. Im Freiburger Umland stiegen daraufhin die Gebühren um 60 Prozent. Auf Länderebene wurde Ende 2005 in Hessen die erste teilprivatisierte Strafanstalt der BRD („Knast-GmbH“) eröffnet. Die britische Firma Serco betreibt den profitorientierten Billigknast, indem ihre Beschäftigten nur halb so viel wie die verbeamteten Kollegen verdienen. Auch im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) drohen Kahlschlag, Privatisierung, Lohnsenkung und fortgesetzt steigende Fahrpreise.

Egal, ob die öffentlichen Dienste selber nach Profitgesichtspunkten agieren, ob sie im Rahmen der so genannten Public Private Partnership (PPP) teilprivatisiert oder in ganz auf den Markt fixierte Wettbewerber verwandelt werden: Ihr Charakter als allgemeine Rahmenbedingung für die Reproduktion des Lebens schwindet. An die Stelle staatsbürokratischer Apparate tritt keine soziale Selbstorganisation, sondern die ökonomische Entgesellschaftung. Was flächendeckender öffentlicher Dienst war, wird ausgedünnt und von privater Kaufkraft abhängig gemacht. In Strafanstalten, Kliniken oder Altenheimen droht die Reduktion auf betriebswirtschaftliche Kostensenkung durch Arbeitshetze und Billiglohn barbarische Zustände herbeizuführen. Deshalb geht es im Konflikt mit den öffentlichen Arbeitgebern keineswegs bloß um Löhne und Arbeitszeiten, sondern letztlich um den Bestand der gesellschaftlichen Infrastruktur. Die Gewerkschaft kann dabei nur verlieren, wenn sie die Krise der öffentlichen Dienste nicht offensiv gesellschaftskritisch thematisiert, sondern sich statt dessen selbst auf eine Art tarifliches „Serviceunternehmen“ reduzieren will. Das gilt im übrigen auch für die politische Linke, die auf der Ebene der Länder und Kommunen vielfach an der liquidatorischen Tendenz der staatlichen Krisenverwaltung mitbeteiligt ist. Die derzeitigen Kontroversen um den Verdi-Streik zeigen, wie weit wir noch von einer sozialen Widerstandsbewegung entfernt sind, die sich dem Krisenradikalismus der totalen Ökonomisierung stellen kann.