Blackout
erschienen in: Neues Deutschland August 2003
Der größte Stromausfall in der Geschichte der Elektrifizierung war in mehrfacher Hinsicht ein Lehrstück. Zuerst natürlich über die Hybris der letzten Weltmacht USA, die in Wahrheit auf tönernen Füßen steht. Wenige Tage, bevor die Stromversorgung für 50 Millionen Menschen in Nordamerika zusammenbrach, räsonierte nach einem Irak-Besuch der Chefkommentator der New York Times, Thomas L. Friedman: „Wie zeigen wir unsere Macht im Irak am besten? Starten wir mit der Stromversorgung“. Witzig, nicht wahr? Diese auch vom Spiegel kolportierte Geschichte wurde in europäischen Medien genüßlich verbreitet. Aber damit sind wir schon beim zweiten Teil des Lehrstücks. Denn die Häme offenbart keine ökonomische Einsicht, sondern bloß antiamerikanische Ressentiments: die klammheimliche Freude, daß der Machtprotz sich zuhause genauso blamiert wie im Irak. Dabei bietet der ökonomische Kern des Lehrstücks mehr als genug Anlaß, daß man sich diesseits des Atlantiks an die eigene Nase faßt.
Der gigantische Blackout (und es wird mit Sicherheit nicht der letzte gewesen sein) war nämlich eine direkte Folge davon, daß die USA so überaus „vorbildlich“ sind, und zwar in den neoliberalen Spezialdisziplinen „Privatisierung“ und „Kostensenkung“. Das sind bekanntlich Felder von Wirtschaftspolitik und Management, auf denen man nicht nur in Europa den USA seit langem nachzueifern versucht. Überhaupt ist ja der Neoliberalismus keine spezifische US-Angelegenheit, sondern ein weltweiter und parteiübergreifender Konsens des Krisenkapitalismus, wobei sich hierzulande bekanntlich Rotgrün und Schwarzgelb gegenseitig mit Einsparungs- und Privatisierungspolitik zu übertrumpfen suchen. Um zu sehen, was dabei herauskommt, braucht man nicht mit schiefem Grinsen auf die USA zu schauen. Es finden sich auch zuhause genügend Beispiele für die Irrationalität dieser Vorgehensweise.
Schon rein betriebswirtschaftlich zeigt die Praxis des Kostensenkungs-Radikalismus den inneren Selbstwiderspruch des Kapitals auf. Die Vorgabe der Gewinnmaximierung um jeden Preis für den „Investor“ führt zu einem abstrakten Kostensenkungszwang, der sich unter dem Strich völlig kontraproduktiv auswirkt. Soweit daraus eine verschärfte Leistungshetze für die Beschäftigten resultiert, liegt dies zwar noch im Bereich der antisozialen Rationalität des Kapitals, auch wenn damit Reibungsverluste durch die Verschlechterung des Betriebsklimas, erhöhten Krankenstand usw. verbunden sind. Aber der Kostensenkungswahn erfaßt zunehmend auch organisatorische, technische und stoffliche Notwendigkeiten des betrieblichen Ablaufs. Die völlig immaterielle Logik des Geldes ist eben gleichgültig nicht nur gegen den Inhalt von dessen „Inkarnation“, sondern auch gegen den realen Produktionsablauf. Da werden Reparaturen hinausgezögert, nicht ausreichend Ersatzteile beschafft, Sicherheitsvorschriften gelockert, unbrauchbares (aber billigeres) Material besorgt, notwendige Organisationszeiten gestrichen usw. Die vielen kleinen Desaster der schönen neuen Betriebswirtschaftswelt sind überall und alltäglich zu besichtigen und verschärfen im Gesamtresultat die ökonomische Krise.
Was aber schon auf der einzelbetrieblichen oder Abteilungsebene zu verrückten Zuständen führt, wird im Maßstab von gesamtgesellschaftlichen Infrastrukturen erst so richtig desaströs. Denn hier beschränken sich die Zusammenhänge und damit die Kettenreaktionen ja nicht auf den engen Umkreis eines Unternehmens, sonden erfassen die gesamte Reproduktion des Kapitals. Selbst Adam Smith, der Gründervater von Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsliberalismus, sah ein, daß die Infrastrukturen nicht der „unsichtbaren Hand“ des Marktes überlassen werden dürfen, weil sie Rahmenbedingungen für alle Marktunternehmen, aber nicht selber Marktunternehmen darstellen. Mit der hemmungslosen Privatisierungspolitik hat der Neoliberalismus diese Einsicht über Bord geworfen, auch getrieben von der Not der staatlichen Finanzkrise. Betreibt man aber die Infrastrukturen als private Profitunternehmen, dann werden sie zum gesellschaftlichen Unsicherheitsfaktor auch für das Kapital selbst; in verschärfter Weise durch die ebenfalls krisen-induzierte Kostensenkungspolitik auf Biegen und Brechen.
Die privatisierte Stromversorgung in den USA zeigt ein weiteres Dilemma der Privatisierungspolitik. Denn die auf Gewinnmaximierung umgestellte Infrastruktur bleibt trotzdem einer staatlichen Regulation unterworfen: Sie darf die Strompreise nicht erhöhen. Das hat seinen guten Grund. Denn die sowieso verschuldete US-Konjunktur läuft nur mit billiger Energie, an die sich die Konsumenten gewöhnt haben. So ging eben Profit nur durch „Einsparung“ von notwendigen Investitionen; und die Energieversorgung der letzten Welmacht befindet sich jetzt auf dem Stand eines Drittweltlandes. Die Alternative wäre eine Erhöhung der Strompreise, die den ohnehin schwachen Konjunkturmotor abwürgt. Wie hätten Sie´s denn gern: Blackout oder unbezahlbare Energie oder beides zusammen?
Das ist die Alternative, die sich nicht nur in den USA und nicht nur bei der Stromversorgung stellt. Dasselbe gilt für die Wasserversorgung, das Gesundheitswesen und alle anderen Infrastrukturen. Die Bahn wird immer teurer, dafür bleiben die Züge immer öfter liegen oder entgleisen. Post und Telekommunikation erleben ebenso ihre Blackouts, während die Preise steigen. Überall wird die Kanalisation marode, die meistens Ende des 19. Jahrhunderts gebaut wurde, als die Kommunen dafür noch aufkommen konnten. Jetzt sind sie klamm, aber private Betreiberfirmen werden sie entweder endgültig verlottern lassen oder unbezahlbare Gebühren verlangen. Wenn es so weitergeht, wird bald auch bei uns die Mafia Trinkwasser in Flaschen verkaufen, während die Städte buchstäblich zum Himmel stinken und immer öfter die Lichter ausgehen. Jeden Tag irgendeine kleine Apokalypse für den Hausgebrauch der wunderbaren Marktwirtschaft. Und welche Lehren zieht daraus die Politik aller Parteien? Noch mehr Privatisierung, noch mehr Kostensenkung! Auch das ist ein Lehrstück.

