Formen und Gestalten der Weltfremdheit
Zum Problem des Verhältnisses zwischen Naturwissenschaft und Wertabspaltung
Fragen – Thesen – Hinweise
J.U.
Die kapitalistische Moderne ist das Zeitalter der Weltfremdheit. Folgt man der Argumentation Gerold Wallners in seinem Essay „Die Leute der Geschichte“, dann ergibt sich etwa diese Abfolge: Den Leuten der magischen Sozialitäten war gar nichts fremd, den Leuten des religiösen Weltbezugs war einiges fremd, den Leuten der Moderne ist alles fremd. Fremd die anderen Menschen und fremd vor allem die Natur als objektives Außen, dessen sie sich durch herrschaftlichen Zugriff erst zu vergewissern gezwungen sind. Diese unter dem Titel Subjekt-Objekt-Trennung bekannte Entzweiung liegt auf dem Grund auch der Frage nach der Genese der objektiven Naturerkenntnis als der spezifischen Erkenntnisform des männlich (westlichen und weißen) Subjekts im Zusammenhang mit der Einheit von Einheit und Differenz zwischen Wert und Abspaltung.
In den folgenden Überlegungen beziehe ich mich auf die von Claus Peter Ortlieb in einem internen Diskussionspapier(1) entwickelten Fragen zu dieser Thematik, ohne den Anspruch zu erheben, die jeweils passenden Antworten bereits parat zu haben, sondern eher mit der Absicht, diese Fragen zu drehen und zu wenden, möglicherweise zu vertiefen und zu schärfen, sie jedenfalls nicht altklug einfach zu beantworten, sondern die Kraft des Fragens als solche zu steigern und damit den aus dieser gesteigerten Kraft vielleicht gewissermaßen herauswachsenden Antworten entgegen zu denken.
Ausgangspunkt ist der im Verlauf der Geschichte des Christentums zunehmend morscher werdende Richterstuhl Gottes, letztlich dessen Zusammenbruch und der Sturz der auf ihm thronenden Leibnizschen Obermonade in den Abgrund des Vergessens. Dann kommt aber seine Ersetzung durch ein ganz immanentes, irdischen Möbelstück, nämlich den „Richterstuhl der Vernunft“ (Kant), vor den jetzt die „in Einzeldinge zerfallene Natur“ zitiert wird, um sie sogleich „auf die Folterbank“ zu strecken und „die Wahrheit über ihre geheimnisvollen Kräfte bis hin zum Urgrund ihrer Existenz und ihres Zusammenhalts zu ermitteln.“(2) Es ist dies indes „nichts anderes als ein aus Not und Verzweiflung geborenes Verfahren des Krisenmanagements, das […] die Aufklärung zum Festtagsornat der Weiterentwicklung zum ‚Höheren’ […] affirmativ vergoldet“(3), nachdem die vormoderne „Ordnung der Dinge“ zerbrochen war. Die modernen Wissenschaften können so gesehen werden als eine verzweifelte(4) Anstrengung, die mit der modernen Gesellschaft über bzw. unter die Leute kommende Weltfremdheit zu bewältigen. Das Paradoxe daran ist die evidente Tatsache, dass mit der Weiterentwicklung und Intensivierung dieser Anstrengung die Welt nicht vertrauter wird, sondern immer nur noch fremder, was zu erneuter, noch intensiverer Anstrengung führt und in der Tendenz so weiter ad infinitum.(5) Es zeigt sich, dass auch, ja gerade und von Beginn an der „Richterstuhl der Vernunft“ ein morsches Gebilde ist, die Aufklärung aber insgesamt eine „Fäulnis, eine parfümierte Leiche“ (Emile M. Cioran), an deren Geruch sich fortschrittsselige Wissenschaftler und Philosophen bis zum heutigen Tag berauschen.
Wie aber kommt es zu dem Bruch, zum Wechsel von der magisch oder göttlich verbürgten Weltgewissheit zur Weltfremdheit? Wie ist die Genese des dazu untrennbar gehörenden Denkens (des wissenschaftlichen wie des alltäglichen) zu beschreiben? Damit sind wir im Zentrum der von Alfred Sohn-Rethel erstmals aufgeworfenen, von Eske Bockelmann aus einer anderen Perspektive diskutierten und jetzt von Claus Peter Ortlieb vertieften Fragen nach dem Verhältnis von Warenform und Denkform oder präziser, auf den Stand unserer derzeitigen Diskussionen gebracht, nach dem Verhältnis von Denkform und Wertabspaltung.
Bei Claus Peter Ortlieb geht es demgemäß um die „Erklärung der Genese der (Natur-) Wissenschaft und ihres Denkens.“(6) Zentral dabei ist, dass dieses Denken ein historisch spezifisch der Moderne, also der Waren produzierenden Gesellschaft bzw. der Wertabspaltungsgesellschaft zugehöriges zu begreifen ist, sich selbst aber als eben diese historisch spezifische Form nicht weiß, sondern als überhistorisch gültige, „natürliche“, eben eine „dem Menschen“ schlechthin eigene und adäquate, Herangehensweise an „die Natur“ schlechthin darstellendes halluziniert wird.
Die Genese dieser tief und fest im bürgerlichen Bewusstsein verankerten Verrücktheit liegt im Dunkel, wie Claus Peter Ortlieb schreibt. Eine „tragfähige Erklärung“, so heißt es dann weiter, sei nur möglich im Zusammenhang mit einer Erklärung des Verhältnisses von Gesellschaftsform, Subjektform und Erkenntnisform.(7) Dabei rückt aus wertabspaltungstheoretischer Perspektive als erstes die von Bockelmann ausgeblendete Frage in den Mittelpunkt nach „bürgerlichem Geschlechterverhältnis, geschlechtlicher Bestimmtheit der Subjektform und männlicher Dominanz in der (Natur-)Wissenschaft.“(8) Gibt es, analog zu dem, was Marx die „ursprüngliche Akkumulation“ des Kapitals nennt, so etwas wie eine „ursprüngliche Wertabspaltung“, in der und durch die das bürgerliche Subjekt sich als strukturell männliches Erkenntnissubjekt konstituiert, und zwar zugleich und untrennbar verbunden mit der Abspaltung, ohne die es Wertförmigkeit, auch im erkenntnistheoretischen Sinn, nicht geben kann? Da Wert und Abspaltung gleichursprünglich gedacht werden müssen, diese also nicht aus jenem ableitbar ist, so dass gesagt werden könnte, da ist der Wert, der abspaltet, und auf der anderen Seite etwas, das abgespalten wird, dreht sich die Frage nach der Konstitution des modernen Erkenntnissubjekts in eine wesentlich kompliziertere Stellung als wenn traditionellerweise von einer einfachen Entgegensetzung ausgegangen würde: Hier die „instrumentelle Vernunft“ bzw. die „funktionale Denkform“, dort die beherrschte und unterjochte Natur.(9)
Darin, so denke ich, findet eine bloß negativ gewendete Form der bürgerlichen Weltfremdheit ihren Ausdruck. „Freiheit ist Dasein über der gebändigten Natur“(10), eben bürgerliche Freiheit in der Form der Bewältigung, Beherrschung des Fremden, Äußerlichen, das identisch gemacht werden muss, weil es bedrohlich ist, das aber nur bedrohlich erscheint, weil es dem bürgerlichen Subjekt die Unheimlichkeit der eigenen Destruktivität als objektiven Zwang zurückspiegelt, der zu überwinden sei durch objektive Erkenntnis.
Wenn bürgerlichem Bewusstsein „die Natur“ als objektive Wissenschaft gilt, wenn „das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben ist“, wie Galilei sagt, dann kann es gar nicht sein, dass Naturwissenschaft sich wirklich mit „Natur“ beschäftigt, die etwas vom menschlichen Geist Verschiedenes sein soll. Sie beschäftigt sich so gesehen durchgehend nur mit sich selber und projiziert dieses Tun in das Wesen einer äußeren Natur, die es als solche nach den Voraussetzungen und der Form bürgerlichen Bewusstsein eigentlich gar nicht geben kann, ja nicht geben darf. Deswegen muss sie von der Wissenschaft „erkannt“ und durch Arbeit vernichtet werden.
Führt von hier aus ein Weg zur Erklärung der Wertabspaltung? Natur jedenfalls ist nicht das zur Gesellschaft Andere, sondern immer schon gesellschaftliche Natur als Einheit von Wert und Abspaltung. Das heißt aber, dass nicht ohne weiteres der Wert der Gesellschaft und die Abspaltung der (weiblich konnotierten) Natur zugeschrieben werden können. Beides sind dann wesentlich gesellschaftliche Bestimmungen und ihre Trennung nur ein Schein, dem identitätslogisches Denken in Einheit stiftender Absicht nur hilflos hinterher hechelt, indem es der Natur Eigenschaften unterstellt, die nichts anderes sind als Projektionen des eigenen zwanghaften Charakters in ein vermeintlich objektives Außen.
Doch das Eine geht im Anderen genauso wenig auf wie das Andere im Einen. Differenzen machen sich geltend, und die das bürgerliche Bewusstsein durchgehend kennzeichnende Ahnung, ja Angst, daraus könnten die Katastrophe und das Chaos erwachsen, treibt zu immer neuen Anstrengungen, das vermeintlich Fremde identisch zu machen, was schließlich auf dessen Vernichtung und damit auf Selbstvernichtung hinausläuft. Wenn dem aber so ist, dann kann die Unterscheidung zwischen „erster Natur“ und „zweiter Natur“ nicht mehr plausibel gemacht werden. Es gibt keine Zerstörung einer „an sich“ ursprünglichen Natur durch die Gesellschaft, sondern lediglich eine gesellschaftliche Selbstzerstörung, die sich am nach außen projizierten „Natürlichen“ manifestiert. Wert und Abspaltung, es sei der Wichtigkeit halber wiederholt, sind gesellschaftliche Bestimmungen und als solche sowohl wesentlich aufeinander bezogen als auch voneinander getrennt und nicht zur Deckung zu bringen. Hier zeigt sich das „Dilemma der Differenzen“ (Roswitha Scholz), und es wird klar, warum das bürgerliche Denken ein einziges groß angelegtes Differenzeliminierungsunternehmen ist, der bürgerliche Naturbegriff von Beginn an ein doppelter. Da ist einerseits „Natur“ als zentrale bürgerliche Emanzipationskategorie: Gerade durch Naturbeherrschung, so heißt es hier, finden die Menschen erst zu ihrer „wahren Natur“, die sie eigentlich immer schon kennzeichnete, zu der sie sich in der Geschichte aber erst gewissermaßen empor arbeiten mussten, um schließlich mit der Erforschung der Natur qua Wissenschaft und durch Befolgung der „natürlichen Gesetze“ der Ökonomie zu ihrem immer schon vorhandenen Wesen vorzudringen, welches eben darin bestünde, sich als erkennendes und vor allem arbeitendes Wesen zu realisieren. Da ist andererseits durchgehend jenes bedrohliche Noch-Nicht, jener über alle Stufen des Erkenntnisfortschritts sich erhaltende Rest „Natur“, die dem letztlich mathematischen Ideal, der reinen Funktion mithin, nicht subsumiert werden kann. In dieser widersprüchlichen Einheit von toter Funktionalität und Berechenbarkeit (Wert) sowie lebendiger Differenz und Unberechenbarkeit (Abspaltung) bewegt sich das ganze bürgerliche Gesellschaftsverhältnis im Denken und Handeln der es tragenden und konstituierenden Individuen. Mehr noch: In die quantifizierende, wertförmige, funktionale Denkform, dies sozusagen der Gipfel der Widersprüchlichkeit und paradoxen, ja grotesken Verwirrung, ist die tendenziell alles quantifizierbar und berechenbar machende substanzlose Substanz der sich bewegenden Form Wert als selber eben gerade nicht quantifizierbare und berechenbare unabweislich eingeschrieben. Und eben weil der Wert nur die an verschiedenen konkreten Gegenständen erscheinende, selber aber nicht greifbare und materiell fixierbare vermittelnde Bewegung darstellt, ist er wesentlich und immer schon seine eigene Abspaltung von sich selbst, nicht quantifizierbare Quantität, selbstnegatorischer Prozess und Einheit mit allem, was in seiner blinden Bewegung nicht aufgeht, ihr aber gleichwohl zugehört. Deshalb kann Bockelmann ganz zutreffend über den Wert sagen: „Von ihm, dieser real zwar höchst wirksamen, nicht aber real gegebenen, sondern ausschließlich ja gedachten ,Substanz‘ ließe sich niemals sagen, wieviel es von ihr geben kann. Keine Menge, wie groß sie immer ausfiele, würde den absoluten Wert je erschöpfen: eben weil er nicht mehr material gebunden und gedacht wird.“(11) Gleiches gälte dann auch für die Abspaltung: sie wäre zugleich da und nicht da, real und irreal, physisch und zugleich metaphysisch.
Aber wie konstituiert sich dieses in sich gebrochene, widersprüchliche Ganze der Wertabspaltungsgesellschaft? Ich denke, hier ist der Klärungsbedarf am größten und hier kommen auch die Kontingenzen ins Spiel. Es wird wohl kaum möglich sein, diese Konstitution logisch und bruchlos historisch herzuleiten. Die „absurde Vorstellung“ (C.P. Ortlieb), experimentelle Naturwissenschaft erzeuge (eben qua gewaltsam in die Natur eingreifende Experimente) genau das, was auch ohne solche Eingriffe „natürlich“ stattfände, also die oben erwähnte Vorstellung, Natur sei die objektive Wissenschaft, scheint mir tatsächlich eher darauf zurückzuführen zu sein, dass die neuzeitliche Naturwissenschaft „ihrer Struktur nach weniger auf Erkenntnis und mehr auf die technische Neuschöpfung der Welt“ (C.P. Ortlieb) zielt. Dies wird m.E. nicht nur bei Bacon deutlich, sondern ganz prominent bei Kant, wenn er sagt, die Naturwissenschaftler ließen sich nicht von der Natur belehren wie Schüler, sondern sie träten ihr wie „bestallte Richter“ gegenüber, um sie zu „nötigen“, praktisch (Experiment) Antworten auf Fragen zu geben, die vom so Fragenden bereits vorher (theoretisch) beantwortet worden sind. Das ist die von Bockelmann so genannte „metaphysische Konstruktion der Welt“, denn die physische Natur stört eigentlich nur beim Vollzug des reinen Vorgangs und muss daher unter das metaphysisch Vorgedachte allererst gezwungen werden. Möglicherweise gibt es von hier aus auch eine Brücke zum Produktionsprozess, denn eine Produktionsanlage z.B., das also, was Marx später das „objektive Skelett“ genannt hat, nämlich die Maschinerie, ist ja im Prinzip nichts anderes als eine vergrößerte Experimentalapparatur zum Zweck der Bearbeitung und Umformung von Naturstoff, der sich unter den von ihr gesetzten Bedingungen, und nur unter diesen, exakt so verhält, wie er sich verhalten soll. Zum Experiment gehört in diesem Zusammenhang notwendigerweise das Eliminieren der Störfaktoren, wie sie in der empirischen Natur zu Hauf vorkommen. Und die machen sich dann auch wieder geltend, weil sie nicht einfach zum Verschwinden gebracht werden können, als Dreck, Abfall, Abgase etc. und verursachen letztlich jene Schäden, die wir heute in dem Ausdruck „ökologische Krise“ zusammenfassen.
Zunächst ist die wissenschaftlich-technische Neuschöpfung der Welt, etwa in Aussagen wie derjenigen Descartes, die Menschen könnten sich mit Hilfe der Physik zu „Herren und Meistern der Natur“ aufschwingen, ein Moment der oben erwähnten Verzweiflung angesichts der verloren gegangenen Weltgewissheit und der neu entstandenen Weltfremdheit. Erst später wird sie von einer solchermaßen „versponnenen Form bürgerlicher Ideologie zur angewandten Forschung.(12) In diesem Zusammenhang müsste die Entwicklung von Wissenschaft und Technologie untersucht werden. Wie hängen sie zusammen? Wie beeinflusst sich ihre Entwicklung gegenseitig usw. Ein weiterer zentraler Punkt ist das Problem der Zeit im Blick auf den Begriff des Fortschritts. Wichtig scheint mir hier der von Claus Peter Ortlieb zunächst nur als Analogie konstatierte Zusammenhang zwischen der Akkumulation des Kapitals und derjenigen des Wissens und der technischen Apparaturen zu sein. Gibt es hier mehr als eine Analogie? Fest steht auf jeden Fall, dass hier die als überzeitlich gedachte bürgerliche Vernunft und ihr Subjekt in einem Konflikt stehen zur konkreten Zeitlichkeit, das heißt, dass dieses Subjekt das abstrakte Fortschreiten von einer „unterentwickelten“ Vergangenheit in eine den Fortschritt realisierende Zukunft mit der augenfälligen konkreten Vergänglichkeit irgendwie zusammen bringen muss. Und da gibt es einerseits das spezifisch bürgerliche Heilsversprechen, dereinst werde die Wissenschaft alle offenen Fragen beantwortet und alle Probleme, inklusive das der Sterblichkeit, gelöst haben, andererseits der fortschrittsbestätigende Rückblick auf die „unterentwickelte“ Vergangenheit unter Hinweis auf die „Höherentwicklung“, die vom erreichten Stand aus dann konstatiert wird. Dies könnte vielleicht anhand einer Geschichte des Museums deutlich gemacht werden. Meines Wissens entstehen die ersten Museen um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Das Veraltete wird hier zur Schau gestellt, um das Neue in einem umso helleren Licht erstrahlen zu lassen.
Besonders schwierig in diesem Zusammenhang erscheint mir in der Tat die Frage, ob bzw. inwieweit das Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Akkumulation und Kapitalakkumulation mehr als eine Analogie darstellt. Gibt es also einen inneren Zusammenhang von Wertform und Erkenntnisform. Festzuhalten bleibt hierbei zunächst, dass die naturwissenschaftliche Erkenntnisform über eine geraume Zeit hinweg (ich behaupte einmal bis ins 19. Jahrhundert hinein) für die Entwicklung des materiellen Produktionsprozesses weitgehend irrelevant bleibt. Es zeigt sich hier eine geschichtliche Differenz, aufgrund deren es nicht möglich ist, die quantifizierende Denkform aus den Produktionsmitteln abzuleiten oder umgekehrt die Entwicklung der Maschinerie aus den „Fortschritten“ der objektiven Erkenntnis. Möglicherweise ist es so, dass die gedankliche Form (eben die funktionale Denkform) deswegen früher und schneller den abstrakten Charakter der Wertform annehmen kann, weil sie sich nicht in konkreten Dingen darstellen muss, während die materielle Welt, die ja immer schon eine Störung darstellt der reinen Vorgänge, sozusagen als zu träge begriffen werden muss, ebenso schnell wie das Denken eine „innere Wertform“ annehmen zu können, dass es hier also länger dauert, bis die „Revolution der Denkart“ sich auch praktisch in der Revolutionierung der Produktionsanlagen usw. als Wertform durchsetzt. Hier wäre vor allem die einstige „Königin der Wissenschaften“ zu betrachten, nämlich die Physik, zu der ja bekanntermaßen das Experiment als konstitutiver Bestandteil gehört.
Bleibt die Frage nach denjenigen Wissenschaften, in denen das Experiment keine Rolle spielt bzw. in denen es nicht möglich ist. Die Tatsache, dass sich auch hier die Mathematisierung immer stärker ausbreitet, könnte darauf verweisen, dass hier die Tendenz der Wertform, sich von der materiellen Welt zu emanzipieren, genauso vorweg genommen wird wie die Umwandlung der Produktionsinstrumente zur Maschinerie in der klassischen Physik. Mathematische Modelle, etwa in der Biologie oder in der VWL, wären dann vielleicht, und darin könnte die zweite „Revolution der Denkart“ bestehen, ein erster Schritt dazu, sich komplett von der lästigen Materialität der Welt abzusetzen und eine „Realität“ zu schaffen, die es in der Wirklichkeit so überhaupt nicht gibt (siehe etwa die vollkommen realtitätsfremden, teilweise absurden Modelle in der VWL). Das wäre dann die endgültige Neukonstruktion der Welt, die mit der tatsächlich existierenden immer weniger zu tun hat.
Dass gleichzeitig die klassische, die „alte“ Wissenschaft damit nicht ungültig wird, sondern nur „aufgehoben“, könnte dann damit zusammenhängen, dass es diese lästige Materie eben immer noch gibt, mit der man sich also weiter herumschlagen muss, während „der Geist“ schon sozusagen weiter ist und sich gerade in den Bereichen, wo Experimente nicht möglich sind, richtig austoben und die ganze nekrophile Wollust der Abstraktion ausleben kann. Das führt dann unter anderem zur Entstehung solcher irrealen monströsen Gestalten wie dem in Claus Peter Ortliebs Aufsatz „Marktmärchen“ (EXIT! 1) beschriebenen „LAMM“ usw. In dem Maße, in dem die Wissenschaften behaupten, die Welt immer besser zu erkennen, steigern sie die Weltfremdheit bis ins Unerträgliche. Die eigentliche Neukonstruktion der Welt könnte damit vielleicht allererst begonnen haben, nämlich ihre Verflüchtigung ins Nichts. Wenn die „Angleichung ans mathematisch Ideale“ (Husserl) vollzogen ist, erscheint die Realität nur noch als unvollkommener Abklatsch der Abstraktion.
Und in der Tat scheint es mir so zu sein, dass sich in den Individuen etwas sträubt gegen diese Durchmathematisierung der Welt, gegen die Differenz zwischen dem wissenschaftlichen Ideal und der alltäglich erfahrbaren Realität. Deswegen bedarf es der Dressur in den Schulen, nämlich des Einpaukens der Abstraktion. Das Verfahren ist das gleiche wie in der klassischen Metaphysik: Die Sinne trügen, das Wahrgenommene ist nicht die wirkliche Wirklichkeit, sondern ein Schein, den es qua Abstraktion zu durchdringen gilt. Das „wahre Wesen“ der Dinge ist nicht dinglich. Wie kommt das in die Köpfe? Wo fängt die Dressur an? An dieser im erwähnten Diskussionspapier von Claus Peter Ortlieb dargestellten Problematik muss weiter herumgedacht werden. Dazu bedarf es mehrerer Köpfe – ein einziger ist für diese Aufgabe von vorne herein immer schon zu klein.
Anmerkungen
(1) Vgl. Claus Peter Ortlieb, „Im Takt des Geldes“, 2. Durchgang. Fragen zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Wertvergesellschaftung, Internes Diskussionspapier vom 27. August 2005
(2) Petra Haarmann, Das Bürgerrecht auf Folter. Zur Geschichte des Verhältnisses von Marter, Wahrheit und Vernunft, in: EXIT! Krise und Kritik der Warengesellschaft, hrsg. vom Verein für kritische Gesellschaftswissenschaften, Heft 2, Bad Honnef 2005, 69
(3) Ebd.
(4) Descartes zum Beispiel geht den „Weg des Zweifels“, der später von Hegel als der „Weg der Verzweiflung“ bezeichnet wird.
(5) Eine Ahnung davon zeigt sich in den bürgerlichen Karikaturen, vom verwirrten (eben weltfremden) Wissenschaftler, der an den banalsten Alltagsverrichtungen scheitert, über den sprichwörtlichen „zerstreuten Professor“ bis hin zum wahnsinnig gewordenen Wissenschaftler in den James-Bond-Filmen, der die Welt in die Luft sprengen will, daran aber bezeichnenderweise vom Staatsagenten Bond im letzten Augenblick gehindert wird. Bereits Hegel wusste der „Entzweiung“ der bürgerlichen Gesellschaft nichts anderes entgegen zu setzen als den Staat, in welchem nach ihm ja bekanntlich „die Wirklichkeit der sittlichen Idee“ in Erscheinung tritt. James Bond wäre so gesehen eine Art Inkarnation der Hegelschen Sittlichkeit. Der Typus des modernen Wissenschaftlers aber, wie er klassisch in Goethes Faust-Tragödie gezeichnet ist, repräsentiert immer schon die Einheit von Produktivität bzw. Genialität in Sachen Naturbeherrschung und Destruktivität. Dr. Jekyll und Mr. Hyde sind ein und dieselbe Person.
(6) Claus Peter Ortlieb, Diskussionspapier, 1
(7) Vgl. ebd., 2
(8) Ebd.
(9) Es scheint mir z.B. noch bei Adorno ein in diesem Sinne ganz traditionell bürgerliches naives Naturverständnis vorzuherrschen, und zwar nach der Art, dass die Menschen sich mit der Aufklärung aus einer wie auch immer zu denkenden vormodernen „Naturverfallenheit“ herausarbeiten (und zwar wörtlich: arbeiten!), um sich dann auf-grund der Form, in der dieses Herausarbeiten stattfindet, einem nunmehr nicht mehr „natürlichen“, sondern ei-nem selbstgeschaffenen Zwang zu unterwerfen. Aus dieser Auffassung resultiert auch die m.E. im Zusammen-hang mit der Entwicklung der Wertabspaltungstheorie zunehmend problematischer werdende Unterscheidung zwischen „erster Natur“ und „zweiter Natur“.
(10) Joachim Ritter, Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft, in: ders.: Subjektivität, Frankfurt am Main 1974, 162
(11) Eske Bockelmann, Im Takt des Geldes. Zur Genese modernen Denkens, Springe 2004, 306
(12) Richard Vahrenkamp, Entwicklungsmöglichkeiten der Technologie als Produktionsverhältnis, in: ders. (Hrsg.), Technologie und Kapital, Frankfurt am Main 1973, 222

