Der Untergang des Abendlands

erschienen im Neuen Deutschland
am 29.10.2004

Die Welle der Stillegungen und Massenentlassungen rollt; es ist kein Ende abzusehen. Karstadt, Opel und demnächst VW bilden aber nur die Spitze des Eisbergs. Die restriktiven Maßnahmen der transnationalen Konzerne werden spektakulär in den Medien thematisiert, während die große Mehrzahl ähnlicher Vorgänge bei kleineren Firmen und auf regionaler Ebene bestenfalls im Kleingedruckten erscheint. Und das Problem hat bereits eine Geschichte, auch wenn diese im kurzen Gedächtnis der auf „events“ fixierten Medien verschwindet. Wer erinnert sich noch an den heroischen Abwehrkampf der englischen Bergarbeiter gegen die großen Zechen-Stillegungen in der Thatcher-Ära? Später folgten in Deutschland und anderswo die ebenso erfolglosen Manifestationen der Werftarbeiter, etwa in Bremerhaven. Trotz Straßenschlachten und brennender Barrikaden wiederholt sich dasselbe Spiel gegenwärtig im spanischen Cadiz. Auch die Stahlwerker waren schon an der Reihe. Wohin man schaut, überall letzte und immer schneller demoralisierte Rückzugsgefechte.

Es handelt sich um einen Prozeß der unaufhaltsamen Deindustrialisierung. Bekanntlich wird in der 3. industriellen Revolution die Beschäftigung durch Automation und informationelle Reorganisation im großen Maßstab abgeschmolzen. Es entstehen aber nicht genügend (und vor allem keine gleichwertigen) Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor, wie das Ruhrgebiet oder die entkernten englischen Industriereviere zeigen. Deshalb bilden sich mangels gesellschaftlicher Kaufkraft Überkapazitäten in der relativ arbeitsarmen High-Tech-Produktion, aber auch bei den großen traditionellen Versandhäusern und Kaufhausketten, den letzten Symbolen des längst dahingeschwundenen Wirtschaftswunders. Nach der technologischen Ausdünnung der Belegschaften werden wachsende Teile der bereits rationalisierten Produktion und Distribution aufgrund der schrumpfenden Kaufkraft und damit der Märkte ganz stillgelegt.

Es ist aber nicht so, daß die traditionelle Industriestruktur samt Kaufkraft, Märkten und dazugehörigen Konsumpalästen nun einfach nach China oder nach Osteuropa auswandert. Dort werden nur relativ schmale Sektoren einer reinen Exportindustrialisierung mittels westlichem Kapitalimport aufgebaut, und zwar um den Preis einer galoppierenden Stillegung der unrentablen Binnenindustrien. Was um die Exportwirtschaftszonen herum an Wachstum entsteht, ist ähnlich wie vorher schon in Japan und den Tigerstaaten eher durch Finanzblasen bewirkt und wird sich als spekulative Überinvestition herausstellen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch in China der scheinbare industrielle Boom in Deindustrialisierung umschlägt und dort ebenso Investitionsruinen und Industriemuseen zu besichtigen sind.

Alle früheren Krisen und industriellen Revolutionen mündeten in eine weitere Expansion der industriellen Beschäftigung. Die Kämpfe der daran gewöhnten Gewerkschaften und sozialen Bewegungen sind so bis heute blindlings darauf orientiert, am weiteren industriellen Aufstieg der Kapitalverwertung teilzuhaben, auch in den davon abgeleiteten Sektoren der Dienstleistungen und der Infrastrukturen. Niemand will etwas davon wissen, daß dieses Paradigma an absolute Grenzen gestoßen ist. Deshalb schenkt man den unsinnigen Beteuerungen etwa der Bundesregierung Glauben, daß es sich um „Einzelfälle“ und „Managementfehler“ handle. Auf einem Verdi-Transparent vor einer Karstadt-Filiale war zu lesen: „Karstadt-Manager sind gar und ganz der Untergang des Abendlands“. Die Suche nach Sündenböcken wird nicht weiterhelfen, sondern rechtsradikale Krisenideologien befördern. Es geht nicht um individuelle „Fehler“, sondern die Sache hat buchstäblich System. Das „Abendland“, sprich: die destruktive Logik von industriellem Arbeitszwang, Reproduktion durch Geldeinkommen und Warenkonsum, ist selber der Fehler – und letztlich sein eigener Untergang.